
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
2.5 Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens („Prospect-Theory“)
Die beiden Forscher Daniel Kahneman und Amos Tversky haben eine ganz Reihe von Untersuchungen im Kontext von Erwartungstheorien durchgeführt und die „Erwartungsnutzentheorie“ in der „Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens“, die auch als „Neue Erwartungstheorie“ bezeichnet wird, modifiziert. Für ihre Arbeit erhielten die beiden Wissenschaftler 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.[1]
Die „Prospect-Theory“ beschreibt die Entscheidungsfindung in Situationen der Ambiguität. In diesen Situationen sind die Eintrittswahrscheinlichkeiten zukünftiger Umweltzustände unbekannt. Die Besonderheit der „Prospect-Theory“ liegt darin, dass sie das strikt rationale Modell des „homo oeconomicus“ durch ein Modell ersetzt, das kognitive Verzerrungen berücksichtigt. Die klassische wirtschaftswissenschaftliche Theorie geht von einem fiktiven völlig zweckrational denkenden Menschen, dem besagten „homo oeconomicus“, aus, der selbstbezogen seinen eigenen Nutzen und seinen Gewinn zu maximieren sucht, auf veränderte Informations- und Datenlagen ohne Zeitverzögerung zu reagieren vermag und über eine vollkommene Markttransparenz und Voraussicht der wirtschaftlichen Entwicklungen verfügt. Die Theorien rationaler Entscheidung bauen auf der imaginären Modellfigur dieses „homo oeconomicus“ auf (siehe Kapitel 2.7.1).[2]
Die „Prospect Theory“ geht im Gegensatz zu den Theorien der rationalen Entscheidung nicht von einer Modellfigur aus, sondern von der Empirie, die untersucht, wie Individuen Gewinne bzw. Verluste bewerten. In den empirischen Untersuchungen ergab sich, dass zB das individuelle Risikoverhalten je nach eingeschätzter Sicherheit eines auftretenden Ereignisses variiert. Es wurde in den Untersuchungen ein „Certainty-Effekt“ nachgewiesen, der besagt, dass eine sichere oder zumindest wahrscheinliche Alternative mit geringerem positivem Ergebnis gegenüber einem höheren positiven aber weniger sicheren Ergebnis bevorzugt wird. Das Verhalten ist in solchen Situationen risikoavers („risk averse“). Ist hingegen ein negatives Ergebnis unsicher, wird die Alternative mit einem höheren Risiko und einem stärker negativen Ergebnis eher gewählt als eine weniger risikoreiche Alternative mit einem sicheren, aber weniger negativen Ergebnis. Es stellt sich ein risikofreudiges Verhalten ein („risk seeking“).[3] Überträgt man die Ergebnisse der Untersuchungen auf eine Wertfunktion mit den objektiven Ergebnissen relativer Verluste und relativer Gewinne auf der x-Achse und dem subjektiv empfundenen Nutzen U auf der y-Achse, ergibt sich keine lineare, sondern eine unsymmetrische S-förmige Kurve, die im positiven Bereich konkav und im negativen Bereich konvex verläuft. Die Kurve ist im positiven Bereich flacher als im negativen, weil ein Verlust mit Bezug zum Nutzen meist stärker gewertet wird als ein gleich großer Gewinn.[4]

Abbildung 1: Wertfunktion der „Prospect-Theory“, vgl. in: Moser, K. (Hrsg.): Wirtschaftspsychologie, Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 2007, S. 202 |
Dies hängt mit dem „Endowment-Effekt“ zusammen, der besagt, dass Individuen Dinge, die sich in ihrem Besitz befinden, deutlich höher wertschätzen, als Dinge, die ihnen nicht gehören.[5] Die Dynamik der „Verlustaversion“ und „Risikofreude“ zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass für viele Menschen der Verlustschmerz von 10 Euro schlimmer ist als die Freude über den Gewinn von 10 Euro. Dieser Zusammenhang lässt sich im sogenannten „Framing-Effekt“ mit Hilfe einer unterschiedlichen Darstellung desselben Sachverhaltens geschickt nutzen. In einem Experiment von Tversky und Kahneman wurde eine Entscheidung zwischen zwei Programmen zur Krankheitsbekämpfung einer gefährlichen asiatischen Krankheit, von der 600 Menschen betroffen waren, von den Probanden abverlangt. Dem ersten Programm zufolge konnten 200 Menschen sicher gerettet werden. Bei Einsatz des alternativen Programms konnte mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 alle 600 Menschen und einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 niemand gerettet werden. Die Probanden interpretierten die Konsequenzen des Sachzusammenhangs als eine Frage danach, wie Verluste möglichst vermieden werden können, und entschieden sich risikoavers für die erste Alternative. Nun wurde der Sachverhalt als Verlustsituation dargestellt und die Probanden mussten sich zwischen der Alternative entscheiden, dass 400 Menschen mit Sicherheit sterben, und der Alternative, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 niemand und einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 alle Menschen sterben. Die Probanden wählten in diesem Fall durchaus risikofreudig die zweite Alternative.[6] Es kommt also darauf an, wie die Dinge und in welchem Kontext sie dargestellt werden.[7]
Ein weiterer Aspekt der „Prospect-Theory“ ist das „Coding“. Individuen beurteilen in ihrer Entscheidung verschiedene Alternativen mit Bezug zu Gewinn und Verlust nicht absolut, sondern relativ von ihrem Bezugspunkt aus, der ihre subjektive Situation vor der Entscheidung darstellt. Das Modell beschreibt auch eine „abnehmende Sensitivität“. Die Bedeutung der Ergebnisdifferenz nimmt in ihrer Wertschätzung mit zunehmendem Abstand vom Bezugspunkt ab. Die Kurven sind konkav bzw. konvex, da der Wert des Zuwachses von 100 Euro bei einem Basiswert von 1 Million Euro geringer eingeschätzt wird als der gleiche Zuwachs bei einer Basis von 200 Euro (vgl. dazu weiter oben das Thema zum „Grenznutzen des Geldes“). Aus der Theorie leitet sich auch eine „Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion“ ab. Menschen neigen dazu, die Wahrscheinlichkeit für Gewinne häufig zu unterschätzen und die Wahrscheinlichkeit von Verlusten häufig zu überschätzen. Unwahrscheinliche Ergebnisse werden vielfach überbewertet und mittel- bis hochwahrscheinliche Ergebnisse unterbewertet.[8]
In der Praxis stellt sich ein von Kahneman und Tversky untersuchtes Experiment zum „Certainty-Effekt“ wie folgt dar:
Welche der beiden Alternativen A oder B würden Sie bevorzugen?
Alternative A:
Sie haben eine Chance von 33 Prozent, 2500 Euro zu gewinnen Sie haben eine Chance von 66 Prozent, 2400 Euro zu gewinnen Sie haben eine Chance von 1 Prozent, 0 Euro zu Gewinnen
Alternative B:
Sie gewinnen mit Sicherheit 2400 Euro
Der Erwartungswert nach der „Erwartungsnutzentheorie“ berechnet sich für die Alternativen wie folgt:
Alternative A = (2500 x 0,33) + (2400 x 0,66) + (0 x 0,01) = 2409 Alternative B = (2400) = 2400 |
Im Experiment wählten entgegen den Berechnungen der „Erwartungsnutzentheorie“ 18 Prozent die Alternative A und 82 Prozent die Alternative B. Die sichere Alternative wurde überbewertet.
In einem weiteren Experiment wurde die Alternative B abgeändert und deren Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent auf 34 Prozent in einer Alternative C reduziert und bei der Alternative A nur die erste Annahme in einer Alternative D herangezogen. Der Erwartungswert errechnete sich dann folgendermaßen:
Alternative C = (2500 x 0,33) + (0 x 0,67) = 825 Alternative D = (2400 x 0,34) + (0 x 0,66) = 816 |
In diesem Fall entschieden sich 83 Prozent für Alternative C und 17 Prozent für Alternative D. Bei fast gleicher Wahrscheinlichkeit entschieden sich die Probanden weit überdurchschnittlich für die anfänglich höhere Gewinnsumme.
Bei weiteren Experimenten wurden die Wahrscheinlichkeiten variiert. Obwohl nach der „Erwartungsnutzentheorie“ sich gleich große Erwartungswerte errechneten, entschieden sich 14 Prozent für die 45-prozentige Chance, 6000 Euro zu gewinnen, gegenüber 86 Prozent, die sich für die 90-prozentige Alternative, 3000 Euro gewinnen zu können, entschieden. Hingegen entschieden sich 73 Prozent für eine Chance von 0,1 Prozent, 6000 Euro zu gewinnen, im Gegensatz zu 27 Prozent, die 3000 Euro bei einer Chance von 0,2 Prozent präferierten. Im ersten Fall wurde die hohe Wahrscheinlichkeit für einen kleineren Gewinn als sicherer betrachtet und gewählt. Im letzteren Fall wurde bei einer ohnehin ausgesprochen niedrigen Chance, etwas zu gewinnen, gleich auf den weit höheren Betrag gesetzt.
Bei einer Spiegelung von Gewinnerwartungen zu Verlustdrohungen ergaben sich folgende Ergebnisse: Bei einer Gewinnchance von 4000 Euro mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent im Gegensatz zu einer fixen Gewinnchance von 3000 Euro entschieden sich 80 Prozent für den fixen Gewinn von 3000 Euro. War hingegen eine Verlustdrohung von 4000 Euro mit einer Wahrscheinlichkeit wie im vorherigen Beispiel von 80 Prozent vorgegeben und ein fixer Verlust von 3000 Euro zur Wahl gestellt, entschieden sich 92 Prozent für den drohenden Verlust von 4000 Euro. Es gab immerhin eine Chance, keinen Verlust zu machen, was die oben beschriebene Risikoneigung bei drohenden Verlusten dokumentiert. Waren hingegen die Wahrscheinlichkeiten fast gleich und ausgesprochen minimal mit 0,1 Prozent Wahrscheinlichkeit 6000 Euro zu gewinnen und 0,2 Prozent Wahrscheinlichkeit 3000 Euro zu gewinnen, wählten 73 Prozent die Chance mit den 6000 Euro. Wurde das eben angeführte Beispiel gespiegelt und drohten Verluste von 6000 und 3000 Euro mit den oben angegebenen Wahrscheinlichkeiten, entschieden sich 70 Prozent für den zwar minimal wahrscheinlicheren aber doch halben Verlust von 3000 Euro, was die oben beschriebene Verlustaversion belegt.[9]
Ein weiteres schönes Beispiel, das sich mit den Untersuchungsergebnissen von Tversky und Kahneman deckt, ist der „Dispositionseffekt“. Dieser Effekt tritt im Aktienhandel von Investmentbanken auf und beschreibt, dass Menschen die Neigung dazu haben, Aktien, die gegenüber dem Kaufpreis im Wert gesunken sind, zu behalten, und Aktien, die gestiegen sind, zu verkaufen, weil der Verkauf von gesunkenen Aktien einen „realisierten“ Verlust bedeuten würde, gegen den man eine Aversion hegt und den man vermeiden möchte. Eine sinnvolle Strategie ist das nicht, wenn die Gefahr weiterer Kursverluste größer als die Chance auf Kursgewinne ist.[10]
Neben den eben beschriebenen Verzerrungen wiesen Tversky und Kahneman folgende weitere kognitive Verzerrungen nach, die im Kapitel zur Intuition zum Teil noch näher behandelt werden: Menschen überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten, ihren eignen Mut und ihren eigenen Einfluss auf die Zukunft sowie die Fähigkeiten ihrer Konkurrenten. Dieses Phänomen wird als „Vermessenheitsverzerrung“ („overconfidence bias“) bezeichnet.[11] Beim „Ankereffekt“, einer Informationsverarbeitungsanomalie, wird ein numerisches Urteil an einen vorgegebenen Vergleichsmaßstab assimiliert. Vorhandene Informationen führen zur Untergewichtung neuer Informationen. Es ist also entscheidend, welche Information zuerst aufgenommen wird. Eine einmal gemachte Aussage wird so gerne zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung.[12] Ähnlich ist es mit einmal eingenommenen Positionen. Sie werden nicht gerne abgeändert. Es werden viel größere Risiken eingegangen, um den Status quo zu erhalten, als um die Situation zu ändern.[13] Menschen wenden oft sehr viel Zeit und Energie auf, um kleine Entscheidungen, hingegen häufig wenig, um große Entscheidungen zu treffen. Ist eine Entscheidung falsch, wird viel Zeit in das eigene Bedauern gesteckt und die Entscheidung häufig rationalisiert und beschönigt, um die entstandene Dissonanz aufzulösen.[14] Wie aus dieser Sammlung von Forschungsergebnissen abgeleitet werden kann, ist die „Prospect-Theory“ in erster Linie ein Beitrag zur psychologischen Forschung und in zweiter Linie eine Erklärung ökonomischer Phänomene.[15]