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© Dr. Christoph Paul Stock

 

2.6 Von Neo-Bernoullischen Modellen zu Heuristiken

 

Mit der „Prospect-Theory“ rückt die Wissenschaft im Zusammenhang mit Entscheidungsmodellen vom rational handelnden Entscheider ab und bezieht affektive Komponenten in die ökonomische Analyse ein. Menschen gewichten und summieren unter psychologischen Einflüssen verschiedene Alternativen, um zu Entscheidungen zu gelangen. Die „Prospekt-Theory“ ist in diesem Zusammenhang in der Lage, sehr gute Vorhersagen zu machen, wie Menschen verschiedene Situationen bewerten und sich im Ausgleich antagonistischer Dimensionen und bei Zielkonflikten entscheiden. Die Theorie kann aber die tieferliegenden Prozesse, die zum beobachteten Verhalten von Menschen führen, nicht erklären. Die „Prospect-Theory“, die selbst zum Teil hoch komplizierte Berechnungsmethoden verwendet, zeigt im Sinn eines „As-if-Modells“ auf, wie Menschen bei ihren Entscheidungen von den Normen der Wahrscheinlichkeit und Logik abweichen und in Bezug zu diesen Normen Irrtümer und Fehlschlüsse („fallacies“) begehen. Die „Prospect-Theory“ setzt sich mit Verletzungen der „Erwartungsnutzentheorie“ auseinander und führt neue Parameter ein, um quasi die menschlichen Fehlleistungen auszugleichen. Es geht darum, die „Erwartungsnutzentheorie“ nur im nötigen Ausmaß, aber nicht darüber hinaus zu modifizieren, so dass sich empirische Beobachtungen mit den mathematischen Modellen auch decken.[1] Die menschliche kognitive Begrenzung wird als Ursache für die Irrtümer und Fehlschlüsse ausgemacht und in ihrer limitierenden Wirkung als Defizit und Nachteil gesehen. Der Wunschgedanke, dass gerade mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz maschinelle Akteure geschaffen werden können, die in der Lage sind, mit Hilfe einer vollständigen Information über die Umwelt und extensiver Informationsverarbeitungsprozesse optimales Verhalten zu berechnen, hat hier wohl eine bewertende Rolle gespielt.

Doch man könnte die modifizierten „Erwartungsnutzentheorien“ auch als Reparaturprogramme sehen, die durch beständiges Nachjustieren der objektiven Wahrscheinlichkeits- und Wertefunktionen den Grundgedanken klassischer rationaler Entscheidung im Sinn eines Multiplizierens und Maximierens bewahren wollen.[2] Dabei ist die kognitive Limitierung nur eine Seite der Medaille. Herbert Simon legte zum Begriff der „begrenzten Rationalität“ mit seiner Metapher von der Schere klar, dass die „kognitive Limitierung“ nur das eine Scherenblatt der Schere ist und das andere Scherenblatt durch die „Struktur der Umwelt“ bestimmt wird. Simon wies darauf hin, dass viel über rationales Entscheidungsverhalten gelernt werden kann, wenn berücksichtigt wird, wie sehr die Eigenschaften der Umwelt eine Vereinfachung von Entscheidungsmechanismen erlauben.[3] Nur eine Seite zu berücksichtigen und an ihr mit Maximierungs- und Optimierungsansprüchen festzuhalten, ist aus seiner Sicht zu wenig. Die Schere kann nur mit beiden Blättern schneiden. Simons Konzept der „begrenzten Rationalität“ wird im Kapitel „Modell der begrenzten Rationalität“ noch genauer beschrieben (vgl. in Kapitel 2.7.4).

Die beobachteten Quasi-Fehlschlüsse und Quasi-Irrtümer können, unter bestimmten Umweltbedingungen betrachtet, vorteilhafte heuristische Strategien sein. Limitiertes Wissen und beschränkte Informationsverarbeitungskapazitäten müssen nicht unbedingt Nachteile mit sich bringen. Diese Heuristiken sind Prozessmodelle, die im Gegensatz zu den „As-if-Modellen“ den Anspruch erheben, nicht nur Entscheidungen prognostizieren, sondern auch kognitive Prozesse modellieren zu können. Bei den Heuristiken steht nicht der Erwartungswert, auch nicht der objektive oder subjektive Nutzwert im Zentrum der Überlegungen, sondern der Einsatz schneller, einfacher und wenig aufwendiger Mechanismen, die in einer bestimmten Umwelt effektive Entscheidungen erlauben. Als umfeldspezifische und nicht universelle Mechanismen können Heuristiken Regelmäßigkeiten in einer Umwelt vorteilhaft nutzen und in einer Klasse bestimmter Situationen eingesetzt werden ohne den Einsatz umfangreicher Wahrscheinlichkeitsberechnungen und logischer Berechnungsmodelle.[4]

 

Als ein Beispiel für eine Heuristik soll hier die „Prioritätsheuristik“ näher beschrieben und in ihrem Vorhersagewert beurteilt werden.

Wir sind in unserem Leben ständig gezwungen, Prioritäten zu setzen. In vielen Fällen ist Beruf gegen Familie, Qualität gegen Preis oder Sicherheit gegen Risiko zu präferieren. Eine solche Entscheidungssituation ist auch im Fall zweier Lotterien denkbar. Die „Prioritätsheuristik“ nimmt nun an, dass die meisten Menschen den schlechtesten Ausgang, das „worst-case“-Szenario vermeiden möchten und daher ihren Entscheidungsfokus darauf richten. Nur wenn die schlechten Ausgänge der Lotterie ähnlich und die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens nahe beieinander liegen, wird risikobereit das bessere der beiden maximalen Spielergebnisse, das „best-case“-Szenario, gewählt. Die Prioritätsregel für diese Heuristik lautet daher, zuerst die minimalen Gewinne, dann deren Wahrscheinlichkeit und zuletzt die maximalen Gewinne zu vergleichen. Als Stoppregel wird definiert, die Vergleiche dann einzustellen, wenn die Differenz zwischen den minimalen Gewinnen größer oder gleich einem Zehntel des maximalen Gewinns ist. Ist die Differenz kleiner, erfolgt ein Vergleich der Wahrscheinlichkeiten. Für den Vergleich der Wahrscheinlichkeiten gilt ebenfalls, dass er einzustellen ist, wenn sich die Wahrscheinlichkeiten um ein Zehntel oder mehr unterscheiden. Die Entscheidungsregel lautet, die Lotterie mit dem größeren (minimalen oder maximalen) Gewinn bzw. mit der geringeren Wahrscheinlichkeit des minimalen Gewinns zu wählen. Die beschriebenen Regeln modellieren den Prozessverlauf der Heuristik.[5] Ergeben sich als minimale Gewinne der Lotterien zB 6 und 9 Euro und können maximal 20 Euro gewonnen werden, unterscheiden sich die minimalen Gewinne um mehr als 2 Euro (1/10 von 20 Euro), wodurch das Aspirationsniveau (Anspruchsniveau) von 10 Prozent überstiegen wird. Die Differenz der minimalen Gewinne ist größer als das Aspirationsniveau. Es wird das „worst-case“-Szenario betrachtet und eine Entscheidung für den größeren minimalen Gewinn, daher die Lotterie mit den 9 Euro Minimalgewinn gewählt. Sind neben den Minimalgewinnen von 6 und 9 Euro maximal 100 Euro zu gewinnen, bleibt die Differenz der Minimalgewinne unter dem Aspirationsniveau von 10 Euro (10 Prozent von 100 Euro). Es sind daher die Wahrscheinlichkeiten zu vergleichen. Für die minimalen Gewinne ist das Aspirationsniveau dynamisch und nicht statisch. Der Vergleich der Wahrscheinlichkeiten ist statisch, weil mit Prozentpunkten gearbeitet wird.[6]

Es wird nun ein Entscheidungsproblem angenommen, nach dem sich ein Entscheider für zwei von den vier nachfolgenden Alternativen zu entscheiden hat. Die Alternativen lauten:

A         100 Prozent-Chance  2.400 zu gewinnen

 

B           33 Prozent-Chance  2.500 zu gewinnen

              66 Prozent-Chance  2.400 zu gewinnen

                1 Prozent-Chance  0 zu gewinnen

 

C           34 Prozent-Chance  2.400 zu gewinnen

              66 Prozent-Chance  0 zu gewinnen

 

D           33 Prozent-Chance  2.500 zu gewinnen

              67 Prozent-Chance  0 zu gewinnen

Rein rational betrachtet, sollte ein Entscheider sich entweder für die Lotterien A und C oder für die Lotterien B und D entscheiden aber nicht für die Lotterien A und D bzw. B und C. Zieht man von der Lotterie A eine 66 Prozent-Chance ab, ergibt sich Lotterie C. Zieht man von Lotterie B eine 66 Prozent-Chance ab, ergibt sich Lotterie D. Daraus folgt, dass die Lotterien C und D äquivalent mit den Lotterien A und B sind. Sie unterscheiden sich nur hinsichtlich der Gewinnchance. Die Situation ist wie beim Kauf eines Autos, bei dem vom Händler versprochen wird, unabhängig vom gewählten Fahrzeug ein ganz bestimmtes Radio gratis dazu zu geben. Das Radio wäre also hinsichtlich der Fahrzeugauswahl bedeutungslos. Sollte der Entscheider Lotterie A der Lotterie B vorziehen, müsste er rational Lotterie C wählen. Zieht er Lotterie B vor, müsste er Lotterie D wählen.[7] 82 Prozent der Versuchspersonen entschieden sich jedoch in einer empirischen Untersuchung von Kahneman und Tversky für die Kombination Lotterie A und D und verhielten sich damit inkonsistent.[8]

Jetzt soll die Entscheidungssituation mit der Prioritätsheuristik betrachtet werden. Zuerst ist eine Entscheidung zwischen A und B zu treffen. Die Heuristik vergleicht im ersten Schritt die beiden minimalen Gewinne. Dieser ist bei A 2.400 und bei B 0. Der maximale Gewinn beträgt 2.500. Davon sind 250 10 Prozent. Die Differenz der minimalen Gewinne von 2.400 übersteigt das Aspirationsniveau von 250. Es wird das „worst-case“-Szenario gewählt. Der größere minimale Gewinn liegt bei A mit 2.400 vor. Die Prioritätsheuristik sagt vorher, dass die Mehrheit der Versuchspersonen die Alternative A wählen wird. Dies entspricht der empirischen Mehrheitsentscheidung.

Nun ist eine Entscheidung zwischen C und D zu treffen. Die minimalen Gewinne sind hier mit 0 identisch. Die Differenz der Wahrscheinlichkeiten fällt mit einem Prozent unter das Aspirationsniveau, weshalb die maximalen Gewinne zu vergleichen sind. Da der maximale Gewinn bei D größer ist, ergibt sich aus der Prioritätsheuristik eine Entscheidung für D, was auch der empirischen Mehrheitsentscheidung entspricht.[9]

Die Prioritätsheuristik erklärt auch mit simplen Vergleichen und linearen Wahrscheinlichkeiten, dass bei Risikoentscheidungen den geringen Wahrscheinlichkeiten ein weit größeres psychologisches Gewicht zugemessen wird, als ihnen objektiv zusteht. Dieser Zusammenhang wurde von Kahneman und Tversky empirisch nachgewiesen und erklärt, warum Menschen trotz der extrem geringen Wahrscheinlichkeit einen Gewinn zu machen, Lotterielose kaufen.

Das Problem wurde von Kahneman und Tversky[10] folgendermaßen beschrieben:

A         100   Prozent-Chance                   5 zu gewinnen

 

B             0,1   Prozent-Chance                    5.000 zu gewinnen

              99,9  Prozent-Chance                    0 zu gewinnen

72 Prozent der Probanden wählten die Alternative B mit einer ausgesprochen geringen Wahrscheinlichkeit 5.000 Euro zu gewinnen. Nur 28 Prozent behielten das Geld für das Los und sparten sichere 5 Euro.

Die „Prioritätsheuristik“ bestimmt als minimale Gewinne 5 und 0. Damit liegt die Differenz der minimalen Gewinne unter dem Aspirationsniveau von 500 (10 Prozent von 5.000). Daher sind die Wahrscheinlichkeiten zu vergleichen. Die Differenz von 100 Prozent und 99 Prozent liegt unter dem Aspirationsniveau von 10 Prozent. Daher sind in einem letzten Schritt die maximalen Gewinne zu vergleichen. Hier ist 5000 größer als 5, weshalb die Alternative B mit der „Prioritätsheuristik“ nach simplen Regeln gewählt würde und die Heuristik das empirische Verhalten vorauszusagen vermag.[11]

Brandstätter, Gigerenzer und Hertwig untersuchten an mehreren Entscheidungsproblemen die Vorhersagekraft der Prioritätsheuristik.[12] Die Autoren verwendeten vier verschiedene Entscheidungsprobleme. Es soll hier auf eine Problemstellung Bezug genommen werden, bei der es um 14 verschiedene einstufige Geldentscheidung in Anlehnung an Kahneman und Tversky[13] ging. Die 14 Entscheidungsprobleme basierten auf Lotterien mit gleichen oder ähnlichen Erwartungswerten und enthielten nie mehr als zwei Ergebnisse mit 0. Die Entscheidungsprobleme waren in der Art des nachfolgenden Beispiels formuliert:

A           80 Prozent-Chance             4.000 zu gewinnen

             20 Prozent-Chance             0 zu gewinnen

 

B         100 Prozent-Chance             3.000 zu gewinnen

Um die Vorhersagekraft der „Prioritätsheuristik“ mit jener anderer Modelle vergleichen zu können, wurden von Brandstätter, Gigerenzer und Hertwig „Outcome-Heuristiken“, „Duale Heuristiken“ und modifizierte Formen der „Erwartungsnutzentheorie“, nämlich die „Kumulative Prospekt-Theory“ von Kahneman und Tversky[14], die „Security-Potential/ Aspiration-Theory“ von Lopes & Oden[15] und das „Transfer-of-Attention-Exchange“-Modell von Birnbaum und Chavez[16] verwendet. Die „Outcome-Heuristiken“ verwenden für die Entscheidungsfindung lediglich Ergebnisinformationen ohne Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten, die „Dualen Heuristiken“ verwenden auch rudimentäre Wahrscheinlich-keitsinformationen. Zu den „Outcome-Heuristiken“ gehören zB die „Minimax-Heuristik„, die „Maximax-Heuristik“ und die „Equiprobable-Heuristik“. Die „Minimax-Heuristik“ wählt die Lotterie mit dem höchsten minimalen Geldbetrag. Die „Maximax-Heuristik“ wählt die Lotterie mit dem höchsten Geldbetrag. Bei Verwendung der „Equiprobable-Heuristik“ wird das arithmetische Mittel aller Geldbeträge innerhalb einer Lotterie berechnet und jene Lotterie mit dem höchsten durchschnittlichen Geldbetrag gewählt. Zu den „Dualen Heuristiken“ gehören zB  die „Least-Likely-Heuristik“, die den schlechtesten Ausgang jeder Lotterie bestimmt und dann jene Lotterie mit der niedrigsten Wahrscheinlichkeit für den schlechtesten Ausgang wählt, und die „Tallying-Heuristik“, bei der Punkte für Gewinne und Verluste vergeben werden. Pluspunkte werden für den höheren minimalen und höheren maximalen Gewinnbetrag sowie für die niedrigere Wahrscheinlichkeit des minimalen und die höhere Wahrscheinlichkeit des maximalen Gewinnbetrags vergeben. Im Verlustfall werden nach diesen Kriterien Minuspunkte vergeben. Nach gegenseitiger Verrechnung wird jene Lotterie mit der höheren Punkteanzahl gewählt.[17]

Aufgabe war es nun, mit Hilfe der verschiedenen Heuristiken und Modelle die Mehrheitsentscheidung, wie sie von Kahneman und Tversky empirisch festgestellt wurde, in allen 14 Entscheidungssituationen richtig vorherzusagen. Dies erlaubte einen Vergleich der Heuristiken und Modelle.

Die „Prioritätsheuristik“ sagte alle 14 Entscheidungsprobleme richtig voraus. Bei keinem Entscheidungsproblem musste bei Verwendung der „Prioritätsheuristik“ geraten werden. Bis auf zwei Heuristiken erreichten alle anderen Heuristiken nur Zufallsniveau oder waren nahe am Zufallsniveau. Nur die „Equiprobable-Heuristik“ sagte erfolgreich 10 von 14 Entscheidungen richtig voraus und die „Tallying-Heurisitk“ wenig überzeugend lediglich 4 von 11.[18] Interessanterweise konnte festgestellt werden, dass die „Outcome-Heuristiken“, die nur Ergebnisinformationen nutzen, leicht besser abschnitten als die „Dualen Heuristiken“, die auch Wahrscheinlichkeitsinformationen nutzen. Die „Kumulative Prospekt-Theory“ sagte 64 Prozent der Mehrheitsentscheidungen richtig voraus, die „Security-Potential/Aspiration-Theory“ 36 Prozent und das „Transfer-of-Attention-Exchange“-Modell 71 Prozent.

Offensichtlich schnitten die Heuristiken abgesehen von der „Prioritätsheuristik“ und der „Equiprobable-Heuristik“ ziemlich schlecht ab. Dies hängt sicher damit zusammen, dass die Heuristiken sehr wenig Information für die Vorhersage verwenden. Die „Prioritätsheuristik“ kombiniert nun verschiedene Heuristiken. Für Gewinne verwendet die Prioritätsheuristik dieselbe Entscheidungsgrundlage wie die „Minimax-Heuristik“. Der höchste minimale Gewinn ist ausschlaggebend. Doch für den Fall, dass die Differenz minimaler Gewinne ein bestimmtes Aspirationsniveau unterschreitet und damit die minimalen Gewinne nahe beieinander liegen, nutzt die „Prioritätsheuristik“ über die „Minimax-Heuristik“ hinaus den zentralen Entscheidungsaspekt der „Least-Likely-Heuristik“, indem sie den schlechtesten Ausgang jeder Lotterie nach Wahrscheinlichkeiten bestimmt und dann jene Lotterie mit der niedrigsten Wahrscheinlichkeit für den schlechtesten Ausgang wählt. Liegen die Wahrscheinlichkeiten nahe beieinander, bezieht die „Prioritätsheuristik“ wiederum das Aspirationsniveau mit ein und entscheidet sich im Fall, dass das Niveau unterschritten wird, für die Strategie der „Maximax-Heuristik“, welche die Lotterie mit dem höchsten Geldbetrag wählt. Bei Lotterien mit Verlusten gilt das gleiche, nur dass die „Prioritätsheuristik“ die Strategien der „Minimax-„ und „Maximax-Heuristik“ wechselt. Es zeigt sich, dass die sequentielle Nutzung mehrerer klassischer Heuristiken in einer bestimmten Abfolge, wie dies bei der „Prioritätsheuristik“ der Fall ist, unter Nutzung eines Aspirationsniveaus weit bessere Vorhersagen ermöglicht als weiterentwickelte Modelle der „Erwartungsnutzentheorie“.[19] Sequentielle Heuristiken scheinen dem menschlichen Verhalten näher zu stehen als jedwede Art von „Neo-Bernoullischen Modellen“. Das Besondere an der „Prioritätsheuristik“ ist die Nutzung flexibler Stoppregeln, die in klassischen Heuristiken, die sich immer auf den gleichen Rationalitätszusammenhang fokussieren, nicht zur Anwendung kommen. Mit den Stoppregeln adaptiert sich die „Prioritätsheuristik“ an die spezifischen Eigenschaften des zu lösenden Problems und nutzt Elemente klassischer Heuristiken genauso wie Elemente der „Neo-Bernoullischen Modelle“. Ähnlich wie andere Heuristiken, die Stoppregeln verwenden - hier können die „Take-The-Best-Heuristik“ oder die „Take-The-Last-Heuristik“ erwähnt werden - ist diese Art von Heuristiken ausgesprochen flexibel und auf konkrete Probleme zugeschnitten.[20] Diese Eigenschaft ist vielversprechend.[21]

Es sei abschließend angemerkt, dass im obigen Zusammenhang die Vorhersagekraft einer Heuristik betrachtet wurde, dies aber noch nichts über die Kapazität von Heuristiken aussagt, richtige Entscheidungen zu treffen. Denn offensichtlich entscheiden sich Menschen in vielen Fällen nicht zweckrational, was Kahneman und Tversky mit ihren Untersuchungsreihen eindrücklich nachgewiesen haben. Ob Heuristiken auch zu zweckrationalen Entscheidungen führen können, wird im Kapitel über evolutionstheoretische Ansätze näher betrachtet werden.


[1] Vgl. bei: Brandstätter, E./Gigerenzer, G./Hertwig, R.: The priority heuristic: Making choices without trade-offs. Psychological Review, 113, 2006, S. 411. Internetzugriff am 07.03.2012 unter http://library.mpib-berlin.mpg.de/ft/eb/EB_Priority_2006.pdf
[2] Vgl. bei: Gigerenzer, G/Selten, R. (Hrsg.): Bounded rationality: The adaptive toolbox, The MIT Press, Cambridge, 2001, S. 13 ff
[3] Vgl. bei: Simon, H. A.: Rational choice and the structure of the environment, Psychological Review, Volume 63, Issue 2, 1956, S. 129
[4] Vgl. dazu in: Gigerenzer, G/Selten, R. (Hrsg.): Bounded rationality: The adaptive toolbox, The MIT Press, Cambridge, 2001, S. 5 ff
[5] Vgl. bei: Brandstätter, E./Gigerenzer, G./Hertwig, R.: The priority heuristic: Making choices without trade-offs. Psychological Review, 113, 2006, S. 413. Internetzugriff am 07.03.2012 unter http://library.mpib-berlin.mpg.de/ft/eb/EB_Priority_2006.pdf
[6] Vgl. bei: Behnke, J./Bräuninger, t./Shikano, S. (Hrsg.): Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie, Band 6: Schwerpunkt Neuere Entwicklungen des Konzepts der Rationalität und ihrer Anwendungen, 1. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2010, S. 105
[7] Maurice Allais hat Beispiele zum Unabhängigkeitsaxiom definiert,  in denen die meisten Entscheider dieses Axiom verletzen. Durch die Hinzunahme bzw. Wegnahme von gemeinsamen Konsequenzen einer Entscheidung verändern in diesen Beispielen die Entscheider ihre Präferenz entgegen den Prinzipien der Rationalität. Dieses Phänomen wird als „Allais-Paradoxon“ bezeichnet. Das „Allais-Paradoxon“ stellt eine systematische Abweichung von der Nutzentheorie dar. Vgl. in: Eisenführ, F./Weber, M.: Rationales Entscheiden, 3. Auflage, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg, 1999, S 359 f
[8] Vgl. in: Kahneman, D./Tversky, A.: Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica, Volume 47, Issue 2, 1979, S. 263-292. Internetzugriff am 14.01.2012 unter http://www.jstor.org/discover/10.2307/1914185?uid=3737528&uid=2&uid=4&sid=55861623113
[9] Vgl. bei: Behnke, J./Bräuninger, t./Shikano, S. (Hrsg.): Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie, Band 6: Schwerpunkt Neuere Entwicklungen des Konzepts der Rationalität und ihrer Anwendungen, 1. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2010, S. 106 f
[10] Vgl. in: Kahneman, D./Tversky, A.: Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica, Volume 47, Issue 2, 1979, S. 263-292. Internetzugriff am 14.01.2012 unter http://www.jstor.org/discover/10.2307/1914185?uid=3737528&uid=2&uid=4&sid=55861623113
[11] Vgl. bei: Behnke, J./Bräuninger, t./Shikano, S. (Hrsg.): Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie, Band 6: Schwerpunkt Neuere Entwicklungen des Konzepts der Rationalität und ihrer Anwendungen, 1. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2010, S. 107 f
[12] Vgl. bei: Brandstätter, E./Gigerenzer, G./Hertwig, R.: The priority heuristic: Making choices without trade-offs. Psychological Review, 113, 2006, S. 409-432. Internetzugriff am 07.03.2012 unter http://library.mpib-berlin.mpg.de/ft/eb/EB_Priority_2006.pdf
[13] Vgl. in: Kahneman, D./Tversky, A.: Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica, Volume 47, Issue 2, 1979, S. 263-292. Internetzugriff am 14.01.2012 unter http://www.jstor.org/discover/10.2307/1914185?uid=3737528&uid=2&uid=4&sid=55861623113
[14] Vgl. in: Tversky, A./Kahneman, D.: Advances in prospect theory: Cumulative representation of uncertainty. Journal of Risk and Uncertainty, Volume 5, Issue 4, 1992, S. 297-323. Internetzugriff am 08.03.2012 unter http://www.springerlink.com/content/lwr6176230786245/
[15] Vgl. in: Lopes, L. L./Oden, G. C.: The role of aspiration level in risky choice: A comparison of cumulative prospect theory and SP/A theory, Journal of Mathematical Psychology, Volume 43, Issue 2, 1999, S. 286-313. Internetzugriff am 08.03.2012 unter http://dx.doi.org/10.1006/jmps.1999.1259
[16] Vgl. in: Birnbaum, M./Chavez, A.: Tests of theories of decision making: Violations of branch independence and distribution independence, Organizational Behavior and Human Decision Processes, Volume 71, Issue 2, 1997, S. 161-194. Internetzugriff am 08.03.2012 unter http://dx.doi.org/10.1006/obhd.1997.2721
[17] Vgl. bei: Brandstätter, E./Gigerenzer, G./Hertwig, R.: The priority heuristic: Making choices without trade-offs. Psychological Review, 113, 2006, S. 417. Internetzugriff am 07.03.2012 unter http://library.mpib-berlin.mpg.de/ft/eb/EB_Priority_2006.pdf
[18] Die „Tallying-Heurisitk“ konnte in drei Fällen kein Ergebnis liefern, weil sie keine Entscheidung bei Problemstellungen treffen kann, bei denen sich mehr als zwei Ergebnisse ergeben. Sie scheiterte auch in jenen Fällen, bei denen eine Bewertung von Ergebnissen vorgenommen hätte werden müssen, die weder die höchsten noch die niedrigsten Ergebnisse und damit Zwischenergebnisse waren.
[19] Vgl. bei: Brandstätter, E./Gigerenzer, G./Hertwig, R.: The priority heuristic: Making choices without trade-offs. Psychological Review, 113, 2006, S. 418 f. Internetzugriff am 07.03.2012 unter http://library.mpib-berlin.mpg.de/ft/eb/EB_Priority_2006.pdf
[20] Die „Take-The-Best“ und „Take-The-Last-Heuristik“ werden im Kapitel „One-Reason Decision Making“ noch näher beschrieben (vgl. ab Seite 102)
[21] Vgl. bei: Brandstätter, E./Gigerenzer, G./Hertwig, R.: The priority heuristic: Making choices without trade-offs. Psychological Review, 113, 2006, S. 429. Internetzugriff am 07.03.2012 unter http://library.mpib-berlin.mpg.de/ft/eb/EB_Priority_2006.pdf
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