
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
2.7.4 Modell der begrenzten Rationalität
Die bisherigen Ausführungen legen die Unangemessenheit der Annahme nahe, dass Menschen dem Konzept idealer Rationalität in ihren Entscheidungen folgen bzw. folgen können. Die klassischen Wirtschaftswissenschaften zeichnen ein unrealistisches Bild menschlichen Entscheidungsverhaltens, wenn Entscheider als Maximierer des subjektiven Nutzens dargestellt werden, die ausgestattet mit einem breiten Wissen kombiniert mit ausreichenden materiellen und zeitlichen Ressourcen zur Alternativensuche und Alternativenauswahl sowie der Kapazität, statistisch hoch komplexe mathematische Aufgaben zu lösen, in der Lage sind, die eine optimale Lösung zu errechnen. Diese Vorstellung ist elegant und ansprechend, doch dieser Anspruch, den Normen der Logik und den Gesetze der Wahrscheinlichkeit entsprechend zu handeln, entspricht keineswegs empirisch beobachtetem menschlichem Entscheidungsverhalten und dem Entscheidungsverhalten in sozialen Situationen und kulturellen Zusammenhängen. Mit Bezug zu rein rationalen Entscheidungen fehlen Entscheidern die Zeit, die Ressourcen und meist auch die notwendige Berechnungssoftware für ein ideal rationales Vorgehen.
Man kann diese Situation als kognitives Defizit begreifen und sich mühen, diesem Manko mit Modellen zu begegnen, die darauf angelegt sind, optimale Entscheidungen unter der Bedingung eingeschränkter Rationalität zu treffen. Man kann aber auch die menschliche Kognition mit ihren Limitierungen als genialen Mechanismus betrachten, der es uns Menschen erlaubt, uns nicht nur an unsere Umwelt hervorragend anzupassen, sondern diese Umwelt auch zu unserem Vorteil zu nutzen und zu gestalten. Unsere Kognition macht zweifelsohne mit Bezug zu den Normen idealer Rationalität viele Fehler. Dennoch meistern Menschen schwierigste Herausforderungen, an denen die besten Computer ihre Grenzen finden. Das wäre vielleicht das Gefühl, welches das Computerprogramm „Deep Blue“ in einem Schachspiel gegen Gary Kasparov beschleichen würde, wenn es zu Gefühlen fähig wäre. Vielleicht würde „Deep Blue“ den Verlust eines Schachspiels weniger seinen eigenen rationalen Defiziten zurechnen als vielmehr der Überlegenheit menschlicher Strategien im Umgang mit komplexen Situationen unbenommen der Tatsache, dass Menschen offensichtlich häufig in der Anwendung logischer Gesetzmäßigkeiten Fehler machen.
Diesen optimistischen Zugang fernab einer überzogenen Fokussierung auf die Limitierungen des menschlichen Verstandes hatte Herbert Simon wohl mit seinem Konzept der „begrenzten Rationalität“ im Auge. Auch wenn die Bezeichnung des Konzepts durchaus in die Irre führen kann und so mancher Autor lieber einen anderen Begriff wie zB „intelligente Rationalität“[1] verwendet sehen würde, ging es Simon ganz zentral darum, neben den kognitiven Limitierungen auch die Bedeutung der Umweltstrukturen ins Visier zu nehmen. Sobald man sich in einer Umwelt bewegt, kommen Alternativen selbst und ihre Bewertung in Bewegung. Zielvariablen haben dann oft keinen fixierten Wert mehr und der Bewertungsprozess dynamisiert sich. Aus diesem Grund verwendet Simon in seinem Entscheidungsprozess das Instrument des Anspruchsniveaus oder auch Aspirationsniveaus. Das Aspirationsniveau ist der Wert einer Zielvariable der erreicht oder überschritten werden muss, um eine zufriedenstellende Alternative wählen zu können. Dabei sind die Alternativen nicht gegeben, sondern müssen gesucht und gefunden werden. Sobald eine Alternative gefunden wird, die dem Aspirationsniveau entspricht oder es überschreitet, wird die Alternative gewählt. Damit wird eine effektive Stoppregel verwendet, die darauf basiert, dass die Alternative dem Anspruch genügt. „Satisficing“ nannte Simon den Einsatz der Stoppregel in diesem Prozess. So wie Alternativen hinzukommen und Zielvariablen variieren können, ist auch das Aspirationsniveau nicht auf Dauer fixiert. Das Niveau wird gesteigert, wenn zufriedenstellende Alternativen leicht gefunden und vermindert wenn diese schwer ausgemacht werden können. Die Suche nach Alternativen, „Satisficing“ und die Anpassung des Aspirationsniveaus sind die wichtigsten Charakteristika jenes Konzepts der „begrenzten Rationalität“, das von Simon entwickelt wurde. Mit Blick auf die Umweltbedingungen wird auch klar, dass nicht nur rationale Überlegungen Entscheidungen bestimmen, sondern beim Handeln im sozial-emotionalen Kontext auch starke emotionale Impulse und motivationale Bedingungen die ausschlaggebende Rolle bei Entscheidungen einnehmen können.
Es gibt keine umfassende und abgeschlossene Theorie der „begrenzten Rationalität“. Doch das von Simon entworfene Konzept lässt sich durch die Beschreibung von Sichtweisen, die auf jeden Fall nicht zum Konzept gehören, etwas eingrenzen. „Begrenzte Rationalität“ ist in diesem Sinn auf keinen Fall Irrationalität. „Begrenzte Rationalität“ hat nichts mit dem Glauben an Glückszahlen oder dem abnormalen Verhalten von psychisch kranken Menschen zu tun. Gleichzeitig ist ein Verhalten, das nicht den Normen absoluter Rationalität folgt, nicht deshalb schon irrational. Jemand, der Entscheidungen mittels der Anpassung von Aspirationsniveaus zu treffen sucht, handelt in diesem Sinn genauso rational wie jemand, der bestrebt ist, seinen Nutzen zu maximieren. Wie weiter oben schon kurz angesprochen (vgl. in Kapitel 2.6), hat Simons Konzept auch nichts mit Optimierung oder Optimierung unter kognitiven Begrenzungen zu tun. Bei Simons Konzept geht es ganz grundsätzlich nicht um optimierte Lösungen. Das Problem der Optimierung liegt darin, dass in Situationen der realen Welt nur selten alle Alternativen gegeben sind. Alternativen müssen also gesucht werden. Für diese Suche benötigt man eine Methode. Die Suche nach einer optimierten Methode braucht seine Zeit und die Suche nach Alternativen braucht in den meisten Fällen noch viel mehr Zeit, wenn nicht eine Regel für die Beendigung der Suche eingeführt wird. Konzepte „begrenzter Optimierung“ formulieren daher eine Beendigungsregel, die besagt, dass sich der richtige Zeitpunkt für das Ende der Suche berechnen lässt, indem die Suche beendet wird, wenn die Kosten den Nutzen einer weiteren Informationssuche übersteigen. Doch unter der Bedingung eines begrenzten Zeithorizonts gleicht dieses optimierte Vorgehen nach Reinhard Selten dem Versuch, einen Computer zu konstruieren, der dazu verwendet werden muss, sein eigenes Design zu entwerfen. Der Versuch muss scheitern, weil der Vorgang der Optimierung nicht gleichzeitig die Methode der Optimierung optimieren kann. Jenen Punkt festzustellen, an dem die Kosten den Nutzen der Informationssuche übersteigen, verlangt ein Wissen über die Alternativen, das erst durch die optimierte Suche nach Alternativen zur Verfügung steht (Vergleiche in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen im Kapitel „Konzept ‚unbegrenzter‘ und ‚begrenzter‘ Rationalität“ 6.6)[2].
Das Konzept „begrenzter Rationalität“ steht den Phänomenen genetisch programmierter und erlernter Automatismen nahe und muss diese in seinem Konzept mit berücksichtigen. Dabei ist es schwierig, die Unterschiede zwischen dem Konzept „begrenzter Rationalität“ und den automatisierten Routinen klarzulegen. Die Automatismen ermöglichen, die Begrenzungen bewusster Kognition zu überschreiten. Wenn das Gehen einmal erlernt ist, muss sich niemand mehr darauf konzentrieren und kann seine bewusste Kognition für andere Dinge einsetzen. Nicht anders ist es bei Fertigkeiten wie dem Autofahren und dem Schreibmaschineschreiben. Auch das Denken selbst und die Sprache basieren auf automatisierten Routinen. Wir können entscheiden, über was wir nachdenken, wir können aber nicht entscheiden, wie das Nachdenken abläuft. Es bleibt ein verborgener Prozess.
Beim Konzept der „begrenzten Rationalität“ wird ein besonderes Augenmerk auf Entscheidungsprozesse gelegt. Natürlich spielen biologische und kulturelle Evolutionsprozesse genauso eine Rolle für das Konzept wie motivationale Aspekte der Individualentwicklung. Die hier angesprochenen Evolutions- und Entwicklungsprozesse haben aber ein unvergleichlich größeres Zeitfenster, in dem sie sich entfalten, wie Entscheidungsprozesse, weshalb das Konzept sich auf letztere primär bezieht.
Abschließend können noch drei typische Regeln beschrieben werden, die im Konzept „begrenzter Rationalität“ Verwendung finden. Diese Regeln sind einfache Suchregeln („Simple search rules“), einfache Stoppregeln („Simple stopping rules“) und einfache Entscheidungsregeln („Simple decision rules“).
Der Suchprozess ist durch ein schrittweises Vorgehen charakterisiert, bei dem bis zum Ende des Prozesses bestimmte Informationen nacheinander gewonnen oder eine konkrete Anpassung oder Aussteuerung laufend vorgenommen wird.
Diese Suchregel wird durch die Stoppregel ergänzt, die bestimmt, dass die Suche in dem Moment beendet wird, in dem die Wahl eines Objektes oder einer Alternative möglich ist, mit deren Hilfe das Aspirationsniveau erreicht oder überschritten werden kann. Die Stoppregel kann mit Bezug zur Verfügbarkeit von Informationen oder zur Dauer der schon erfolgten Suche verändert werden. Es wird kein optimaler Punkt für die Beendigung der Suche mit Hilfe von Nutzenerwägungen oder Wahrscheinlichkeiten errechnet.
An das Ende des Suchprozesses schließt sich eine Entscheidungsregel an, die unter Verwendung der gefundenen limitierten Information zB bestimmt, dass jene Alternative gewählt wird, für welche die beste oder stärkste Begründung gefunden wurde. Es wird keine optimale Gewichtung aller möglichen Begründungen für eine Auswahl vorgenommen.