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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

4.1.3 Intransparenz und begrenztes menschliches Wissen

 

Der technomorphe Zugang zu Problemlösungen ist durch ein analytisches und konstruktivistisches Vorgehen geprägt. Die als entscheidend aufgefassten Ziele und Wertvorstellungen werden nach ihrer Identifizierung und Analysierung in eine widerspruchsfreie und stabile Rangordnung gebracht. Daran schließt sich eine Überprüfung der denkbaren Mittel und Wege an, die eine Zielerreichung bei Berücksichtigung der Wertvorstellungen ermöglichen. Die Folgen des Einsatzes der verschiedenen Mittel und eingeschlagenen Lösungswege werden antizipiert und jene Alternative ausgewählt, welche als Ergebnis der Analysen eine Maximierung der bzw. einen ausreichenden Grad an Zielerreichung erwarten lässt. In diesem Prozess geht man davon aus, dass die postulierten Zielsysteme und analysierten Alternativen in ihrer Reihenfolge widerspruchsfrei sind und über die Zeit hinweg stabil bleiben und der Problemlösungsprozess als Ziel-Mittel-Zuordnungsprozess dafür geeignet ist, eine tragfähige und abschließende Analyse aller verfügbaren Alternativen und deren Konsequenzen auf Grundlage genügend genauer, operationalisierbarer und stabiler Beurteilungskriterien durchzuführen. Der konstruktivistische Lösungsansatz ist dann erfolgreich, wenn rational nachvollziehbar dargestellt werden kann, dass unter den gegebenen Bedingungen die beste Alternative gewählt wurde. Die Methode ist transparent und verarbeitet die gesamte sachbezogene Information, deren Verfügbarkeit angenommen und vorausgesetzt wird.[1]

Doch hier liegt bei komplexeren Systemen der Haken. In komplexen Systemen ist es eher die Ausnahme als die Norm, dass die Kenntnisse von sämtlichen Sachverhalten, die in einer Entscheidungssituation relevant sind, vollständig vorhanden sind. Es liegt eine faktische Beschränkung des Wissens vor, die wesenhaft für die Intransparenz komplexer Systeme ist. Das Auftreten von Fehlern bei Anwendung der konstruktivistischen Methode in komplexen Zusammenhängen ist unvermeidbar, da der analytische Ansatz die begrenzten geistigen Fähigkeiten des Menschen nicht nur bei der Erhebung von Informationen, sondern auch bei der Verarbeitung derselben zu wenig berücksichtigt und der Eigenart der Gedächtnisprozesse des menschlichen Gehirns zu wenig Beachtung schenkt. Zusätzlich sind die relevanten Variablen und ihre Beziehung zueinander auf Grund der Offenheit komplexer Probleme meist nur deklarativ aber nicht taxativ bestimmbar und in ihrer Verwobenheit mit Fakten, Meinungen und Wertungen nicht gänzlich fassbar. Dabei sind Informationen gerade zu Beginn einer Problemsituation vielfach unvollständig und mangelhaft, oft unverstanden und darüber hinaus auch veränderlich. Auch Meinungen und Werthaltungen weisen nicht unbedingt Klarheit und Stabilität auf. Die verfügbaren Alternativen werden in ihrer Zahl ebenso unterschätzt wie der Informationsverarbeitungsaufwand für ihre Bewertung und Einordnung. Quantitative Mess- und Bewertungsmethoden sind unzureichend und berücksichtigen die Unbestimmtheit und Irrationalität menschlichen Verhaltens zu wenig. Diskontinuitäten und überraschende Entwicklungen können mit einem analytischen Ansatz genauso wenig erfasst werden, wie die dynamische Veränderung von Problemlagen und das Auftreten von unerwarteten und unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Schließlich haben komplexe Probleme meist nicht einfach „die Lösung“, sondern erweisen sich als fortlaufender Prozess mit Tendenzen und Richtungen.[2]

(Vergleiche zum Thema der Optimierung von Entscheidungen, die Ausführungen in den Kapiteln „Modell der begrenzten Rationalität“ ab Kapitel 2.7.4 und „Konzept ‚unbegrenzter‘ und ‚begrenzter‘ Rationalität“ ab Kapitel 6.6 mit Betrachtungen des Problems aus konzeptioneller Sicht. Aus der Perspektive der handelnden Führungskraft vgl. die Ausführungen im Kapitel „Die rationale Führungskraft“ ab Kapitel 3.5.3.)

 

Die Intransparenz verlangt daher in komplexen Systemen neben einem laufenden aktiven Informationsbeschaffungsprozess auch den Umgang mit vorläufigen, unvollständigen und zum Teil unklaren sowie ambivalenten Informationen. Aus psychologischer Sicht ist in diesem Zusammenhang interessant, dass psychometrische Ergebnisse traditioneller Intelligenztests hinsichtlich der Problemlöseleistung in intransparenten dynamischen Systemen nur Resultate mit sehr beschränkter Aussagekraft liefern. Zwar validieren die Intelligenztestresultate komplexe und nicht komplexe Problemstellungen in gleicher Weise für Anforderungen an die Testteilnehmer mit Bezug zum Analysieren von Variablen, Aufdecken von Beziehungen zwischen Variablen sowie zur Suchen nach Regeln für die Veränderung von Variablen und im Kontext des Ziehens von Analogieschlüssen, bieten aber kaum eine Aussagekraft, wenn es, wie im Zusammenhang mit komplexen Problemen der Fall, um das Aufstellen und Ableiten von Problemlösungszielen, die Auswahl zielführender Handlungen und besonders um die aktive Beschaffung von Informationen über das komplexe System geht. Die zuletzt erwähnten Anforderungen gibt es im klassischen Intelligenztest nicht, der alle Informationen für eine Aufgabe „frei Haus“ liefert und auf Geschwindigkeit und Genauigkeit weit mehr abzielt als auf die Berücksichtigung von Neben- und Fernwirkungen, die Steuerungsfähigkeit kognitiver Operationen und die Verfügbarkeit von Heuristiken. Um Wirkungen einschätzen, Steuerung bewältigen und Heuristiken richtig einsetzen zu können, ist es notwendig, die richtige Art der Fragen im richtigen Zusammenhang zu stellen und das Entscheidungsverhalten je nach Zusammenhang richtig zu dosieren. Ein solches operativ optimiertes Vorgehen lässt sich nur kontextbezogen in Abhängigkeit vom jeweils verwendeten Szenario und kaum durch die Erhebung von Einzelindizes messen, weshalb klassische Intelligenztests diese Messanforderungen an eine „operative“ Intelligenzdiagnostik auch kaum erfüllen.[3]

Putz-Osterloh untersuchte die Korrelation zwischen Testintelligenz und Problemlösen unter Transparenz-Bedingungen und unter Intransparenz-Bedingungen mit Hilfe komplexer Szenarios.[4] Seine Ergebnisse weisen, wie oben schon erwähnt, auf die Bedeutung „operativer“ Merkmale der Intelligenz hin, die mit Orientierung, angemessenem Handeln und der damit verbundenen Informationssuche im konkreten Umfeld zusammenhängt. Die „Lohhausen-Studie“[5] stellte in diesem Zusammenhang fest, dass erfolgreiche Problemlöser sich von weniger erfolgreichen dadurch unterscheiden, dass sie zwischen fünf verschiedenen Arten der Informationsverarbeitung laufend hin und her springen und bei den einzelnen kürzer verweilen wie die weniger erfolgreichen Probanden. Zu den Arten der Informationsverarbeitung zählten eine allgemeine Orientierung (zB „Gibt es ein Theater in der Stadt“), eine gerichtete Orientierung (zB „Wie hoch ist die Einkommenssteuer“), eine Exploration (zB „Was wäre die Konsequenz einer generellen Steuererhöhung“) sowie die Information über das Setting und das Treffen der Entscheidung. Hier geht es also weniger um die Ergebnisse bestimmter einzelner intelligenter Tätigkeiten, sondern um die Koordination bestimmter Einzeltätigkeiten, die ein bestimmtes abgestimmtes und an den Gesamtkontext ausgerichtetes Ergebnis ermöglichen. Menschen unterscheiden sich hinsichtlich dieser Fähigkeit, Informationsquellen auszusteuern.[6]


[1] Vgl. bei: Malik, F.: Strategie des Managements komplexer Systeme, 9. Auflage, Haupt Verlag, Bern/Stuttgart/Wien, 2006, S. 256 f
[2] Vgl. bei: Malik, F.: Strategie des Managements komplexer Systeme, 9. Auflage, Haupt Verlag, Bern/Stuttgart/Wien, 2006, S. 261 f
[3] Vgl. in: Funke, J./ Vaterrodt, B.: Was ist Intelligenz?, 3. Auflage, Verlag C.H. Beck OHG, München, 2009, S. 37 ff; vgl. auch bei: Funke, J.: Problemlösendes Denken, 1. Auflage, W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart, 2003, S. 170 ff
[4] Putz-Osterloh, W.: Über die Beziehung zwischen Testintelligenz und Problemlöseerfolg,  Zeitschrift für Psychologie, Volume 189, 1981, S. 79-100. Internetzugriff am 27.04.2012 unter http://psycnet.apa.org/?&fa=main.doiLanding&uid=1982-09022-001
[5] „Lohhausen“ ist eine simulierte Kleinstadt, in der Versuchspersonen über 10 fiktiv angenommene Jahre hinweg für das Wohlergehen der Kommune mittel- bis langfristig Sorge zu tragen haben. Zum Zweck der Operationalisierung der Problemlösungsleistung in diesem komplexen System werden  z.B. Kapital, Zufriedenheit der Bürger, Produktion, Anzahl der Arbeitslosen, etc. gemessen. Das Szenario „Lohhausen“ hat ungefähr 2000 Systemvariablen und stellt damit eines der umfangreichsten Szenarios zur Erforschung komplexen Verhaltens dar.
[6] Vgl. bei: Funke, J.: Problemlösendes Denken, 1. Auflage, W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart, 2003, S. 173
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