
K O N T A K T

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
5.2.3 Implizites Wissen, implizites Erinnern, Denken mit der rechten Gehirnhälfte und Parallelverarbeitung
Während das deklarative Gedächtnis verbalisierbares Wissen über Fakten und Ereignisse umfasst, enthält das implizite Gedächtnis nondeklaratives (implizites) Wissen, in dem sich Erfahrungswirkungen aus einer Vielzahl von Situationen zeigen, über die nicht berichtet werden kann und die unabhängig von einer bewussten Erinnerung bestehen.[1] Am Beginn eines Lernprozesses steht häufig ein verbalisierbares Wissen wie zB beim Erlernen eines Textverarbeitungsprogramms, dessen Software und Funktionen vom Lernenden in der ersten Zeit verbal ohne Probleme erklärt werden können. Mit der Zeit werden die einzelnen Schritte der Programmnutzung derart verinnerlicht, dass es dem Anwender zunehmend schwerer fällt, einem Ungeübten die Funktionsweisen zu erklären, obgleich es ihm ohne Probleme möglich ist, die Programmfunktionen prozedural zu zeigen. Hier ist zumindest zu einem bestimmten Grad deklaratives Wissen in implizites (nondeklaratives) Wissen übergegangen.[2]
Ähnlich ist die Situation beim Erlernen des Radfahrens. Radfahrer können in der Regel nicht erklären, wie sie beim Radfahren das Gleichgewicht halten. Die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten, mit physikalischen Regeln unter Bezugnahme auf Neigungswinkel, Geschwindigkeit, Lenkereinschlag und weitere relevante Faktoren erläutern zu wollen, ist absurd. Die Fähigkeit entsteht spontan und überraschend durch Übung und Erfahrung.
Der Mensch besitzt ein stilles Handlungswissen („tacit knowing“)[3], das es ihm ermöglicht, Schlussfolgerungen zu ziehen, die auf mentalen Prozessen und Regulationen beruhen, die teilweise oder gänzlich unbewusst sind. In nicht wenigen Fällen treten lediglich die Ergebnisse ins Bewusstsein. Die meisten unserer mentalen Vorgänge, auch diejenigen, die uns im höchsten Maße bewusst erscheinen, wie etwa das Denken, sind der bewussten Reflexion weitgehend verschlossen. Unser Bewusstsein unterliegt einer gravierenden Kapazitätsbeschränkung.[4] Wir greifen bei unserem Handeln, Denken, Sprechen und Phantasieren auf unbewusste oder automatische Verarbeitungssysteme in unserem Gehirn zurück, die sogar parallel zueinander arbeiten können, ohne sich in die Quere zu kommen.[5] „Implizites Wissen“ ist demnach ein nicht vollständig oder nicht angemessen explizierbares Wissen und damit nicht oder nur eingeschränkt verbalisierbar, objektivierbar, formalisierbar oder technisierbar.[6]
Das Lernen neuer Inhalte muss aber nicht bewusst erfolgen wie im obigen Beispiel mit dem Textverarbeitungsprogramm. Wir lernen in vielen Fällen auf Grund der komplexen Reize, die uns umgeben, ohne dies zu beabsichtigen. Dieses Lernen erfolgt „inzidentell“, ist implizit und intuitiv.[7] Implizite Lerneffekte können nicht durch Befragung, sondern nur durch Experimente ermittelt werden. Wir erinnern uns an viele Dinge nicht explizit und können daher diese Dinge auch nicht frei und ohne Hilfe reproduzieren. Oft brauchen wir eine Gedächtnisstütze zB in Form von Hinweisen auf den Kontext des gelernten Materials.[8]
Im Zusammenhang mit implizitem Wissen und Erinnern haben Untersuchungen zur Zweiteilung unseres Gehirns interessante Ergebnisse geliefert. Seit langer Zeit gibt es Hinweise darauf, dass unsere beiden Gehirnhälften unterschiedliche Funktionen haben. Unfälle, Schlaganfälle und Tumore in der linken Gehirnhälfte bewirken unter anderem Funktionsstörungen beim Lesen, Schreiben, Sprechen und Argumentieren, bei Rechenaufgaben und beim Verstehen von Zusammenhängen. Ähnliche Läsionen in der rechten Gehirnhälfte haben nur selten derart dramatische Auswirkungen. Bei Epilepsiepatienten fragten sich Neurochirurgen, ob die Anfälle der Patienten durch eine Trennung der Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften, dem „Corpus callosum“, verringert werden könnten. Operative Eingriffe lieferten tatsächlich dieses Resultat und die Patienten zeigten kaum eine Veränderung ihrer Persönlichkeit und ihrer intellektuellen Fähigkeiten. Doch weitere Untersuchungen wiesen darauf hin, welche große Bedeutung das „Corpus callosum“ für das Zusammenspiel der linken und rechten Gehirnhälfte hat. Zeigt man zB „Split-Brain-Patienten“, also Personen, deren rechte Gehirnhälfte von der linken Gehirnhälfte getrennt ist, das Wort „HEART“ mit den Buchstaben „HE“ im Blickfeld des linken Auges und damit der rechten Gehirnhälfte und umgekehrt die Buchstaben „ART“ im Blickfeld des rechten Auges und damit der linken Gehirnhälfte, antworten die Patienten, dass sie das Wort „ART“ gesehen haben. Werden sie nun aufgefordert, auf das Wort zu zeigen, das sie gesehen haben, sind die Patienten selbst erstaunt darüber, dass ihre linke Hand, die von der rechten Gehirnhemisphäre gesteuert wird, auf das Wort „HE“ zeigt. Jede Hemisphäre teilt auf ihre ureigenste Weise nur das mit, was sie wahrgenommen hat. Zeigt man der rechten Gehirnhälfte von Patienten mit einem „Split-Brain“ das Bild eines Löffels, können diese nicht sagen, was sie gesehen haben, finden aber in einem Haufen von Gegenständen mit der linken Hand einen dort verborgenen Löffel.[9]
Wenn die beiden Gehirnhälften voneinander getrennt sind, versucht die linke Gehirnhälfte verzweifelt eine Erklärung dafür zu finden, weshalb zB auf eine Anweisung an die rechte Gehirnhälfte hin die Person beginnt zu gehen. Die linke Gehirnhälfte fungiert quasi als „Interpret“, der Theorien aufstellt, die das Verhalten erklären sollen.
Die linke Gehirnhälfte ist aktiver, wenn über Entscheidungen nachgedacht wird, die rechte versteht einfache Anweisungen und nimmt Gegenstände problemloser wahr. Die rechte Gehirnhälfte übertrifft die linke beim Nachziehen von Bildern, beim Erkennen von Gesichtern, bei der Wahrnehmung von Unterschieden und Gefühlen und ist besser in der Lage, Gefühle auszudrücken. Wörter werden mit der linken Gehirnhälfte schneller erkannt. Dennoch ist die rechte Gehirnhälfte der linken bei ausgeklügelten Schlussfolgerungen überlegen. Bietet man der linken Gehirnhälfte das Wort „Fuß“ als Prime für den Bruchteil einer Sekunde dar, wird das Wort „Ferse“ sehr schnell assoziiert. Werden hingegen die Worte „Fuß“, „Schrei“ und „Glas“ kurzzeitig eingeblendet, erkennt die rechte Gehirnhälfte schneller als die linke das Wort „Schnitt“, das mit dem Wort „Fuß“ kaum assoziiert ist. Bei Schädigung der rechten Hirnhälfte zeigen sich starke Beeinträchtigungen bei der Verarbeitung von Emotionen und im Sozialverhalten.[10]
Ein weiteres interessantes Phänomen stellt im Zusammenhang mit implizitem Wissen die Parallelverarbeitung mehrerer Aspekte eines Problems in unserem Gehirn dar. Im Gegensatz zu einer schrittweisen (seriellen) Verarbeitung von Informationen, wie wir sie von den meisten Computern kennen, verarbeitet unser Gehirn Informationen zu Farbe, Bewegung, Form und Tiefe zB mit Bezug zu einem fliegenden Vogel parallel in unterschiedlichen Gehirnarealen. Ungeklärt und die große Frage in der Erforschung der Verarbeitung von Sinneseindrücken ist, wie das Gehirn die Informationsteile aus den verschiedenen Gehirnregionen zusammenfügt und zB ein wahrgenommenes Bild erstellt. Diese parallele Verarbeitung zeigt sich überraschend im Phänomen des „Blindsehens“. Patienten, deren Sehrinde durch chirurgische Eingriffe oder einen Schlaganfall zum Teil zerstört wurde, sind manchmal einer Blindheit in einem Teil ihres Gesichtsfeldes ausgesetzt. Werden ihnen senkrechte Stäbe im blinden Gesichtsfeld gezeigt, geben die Patienten an, dass sie die Stäbe nicht sehen können. Fragt man sie aber danach, ob die Stäbe senkrecht oder waagrecht sind, wird die Lage der Stäbe praktisch immer richtig erraten.[11] Auf Grund dieser Beobachtungen muss man mit Bezug zum Mechanismus der Parallelverarbeitung in unserem Gehirn davon ausgehen, dass es einen zweiten „Denkapparat“ gibt, der verborgen tätig ist.[12]