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© Dr. Christoph Paul Stock

 

5.3.10 Fundamentaler Attributionsfehler

 

Der „fundamentale Attributionsfehler“ („fundamental attribution error“) wurde im vorangegangenen Kapitel mit Bezug zur Selbsteinschätzung schon kurz angesprochen. In Hinsicht auf die Verhaltenseinschätzung andere Menschen beschreibt dieser Fehler die Tendenz, dass Beobachter bei  der Analyse den Einfluss der Situation unter- und den Einfluss der persönlichen Veranlagung überschätzen. Nach der Attributionstheorie, die auf Untersuch-ungen von Fritz Heider zurückgehen, kann sich ein Lehrer konfrontiert mit dem aggressiven Verhaltens eines Schülers fragen, ob das feindselige Verhalten des Kindes auf dessen aggressive Persönlichkeit (dispositionale, interne Attribution) zurückzuführen oder als Reaktion auf Stress und Missbrauch zu verstehen ist (situationale, externe Attribution). Ist das Verhalten durch die relativ dauerhaften und stabilen Persönlichkeitsmerkmale disponiert, wird es sich in verschiedenen Situationen gleich zeigen. Ist das Verhalten aber durch die Situation bedingt, wird man den feindseligen Schüler in anderen sozialen Zusammenhängen unter Umständen völlig anders erleben. Die Schwierigkeit mit dem „fundamentalen Attributionsfehler“ liegt darin, dass es oft nicht möglich ist, andere Situationen zum Vergleich heranzuziehen.[1]

In einer Untersuchung mit Studenten ließ man diese mit einer Frau sprechen, die sich einmal unnahbar und kritisch und einmal warmherzig und freundlich zeigte. Eine Hälfte der Studenten wurde in dem Glauben gelassen, dass die Frau sich spontan verhielt, der anderen Hälfte wurde gesagt, dass sie Anweisung hatte, sich einmal verschlossener und einmal offener zu verhalten. Das Interessante an den Untersuchungsergebnissen war, dass die Studenten diese Information nicht beachteten. Sie hielten das Verhalten der Frau in allen Situationen für authentisch und schrieben es ihrer persönlichen Veranlagung zu.[2]

Der „fundamentale Attributionsfehler“ tritt in allen Kulturen auf, ist aber in individualistischen westlichen Kulturen stärker ausgeprägt als in östlichen asiatischen Kulturen.[3]

Besondere Gefahren entstehen bei der Beurteilung von Menschen dann, wenn sie uns fremd sind und wir sie nur in einer oder sehr wenigen Situationen beobachtet haben. Ungerechtfertigte Schlussfolgerungen nach Einstellungsgesprächen, Einvernahmen vor Gericht oder rudimentären Einblicken in schwierige soziale Situationen verleiten Personalchefs, Richter, Sozialarbeiter oder Politiker dazu, falsche Entscheidungen zu treffen, obwohl sie intuitiv vermeinen, die Sachlage richtig erfasst zu haben. Oft fehlt die ausreichende Erfahrung durch die Berührung mit den Menschen und den Situationen, um dem „fundamentalen Attributionsfehler“ zu entgehen.[4]

Manchmal reicht aber auch eine umfangreiche Erfahrung nicht hin, um dieses Phänomen auszuschließen. Glücklich verheiratete Paare werden das zu beanstandende Verhalten ihrer Partner eher der Situation zuschreiben als unglücklich verheiratete Menschen, die sich eher über die Persönlichkeit des anderen Partners mokieren.[5] Menschen in solchen Situationen fehlt der nötige Abstand zur eigenen empfundenen Lebensrealität, um objektiv sein zu können.


[1] Vgl. bei: Myers, D.G.: Psychologie, 2. Auflage, Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 2008, S. 637 ff
[2] Vgl. bei: Napolitan, D.A./Goethals, G.R.: The attribution of friendliness, Journal of Experimental Social Psychology, Volume 15, Issue 2, 1979, S. 105-195. Internetzugriff am 19.01.2012 unter http://dx.doi.org/10.1016/0022-1031(79)90022-2
[3] Masuda, T./Kitayama, S.: Perceiver-induced constraint and attitude attribution in Japan and the US: A case for the cultural dependence of the correspondence bias, Journal of Experimental Social Psychology, Volume 40, Issue 3, 2004, S.409-416. Internetzugriff am 19.01.2012 unter http://dx.doi.org/10.1016/j.jesp.2003.08.004
[4] Vgl. bei: Myers, D.G.: Psychologie, 2. Auflage, Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 2008, S. 638 f
[5] Fincham, F.D./Bradbury, T.N.: Marital satisfaction, depression, and attributions: A longitudinal analysis, Journal of Personality and Social Psychology, Volume 64, Issue 3, 1993, S. 442-452. Internetzugriff am 19.01.2012 unter http://dx.doi.org/10.1037/0022-3514.64.3.442
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