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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

6.5 Die Steuerungsfunktion des Bewusstseins

 

Ein entscheidendes Instrument der Steuerung ist in diesem Zusammenhang die Funktion des Bewusstseins. Das Bewusstsein mag sich aus primitiven Anfängen entwickelt haben und sich in seinen frühen Formen vielleicht lediglich durch ein unbestimmtes Gefühl der Erregtheit bemerkbar gemacht haben. In der Zwischenzeit ist das Bewusstsein aber eine von mehreren Steuerungseinheiten, das neben Steuerungssystemen wie dem Geld, der Sprache, dem Recht, der Moral, der Familie, der Gesellschaft oder der Unternehmung mit unserem Organismus und unserem Verhalten in einer Art Wechselwirkung steht.[1] Auch wenn die komplexen sozialen Systeme und Institutionen vielfach eigenständig und weitgehend unabhängig von unserem Bewusstsein funktionieren, so hat doch das Bewusstsein in einem gewissen Sinn diese Systeme hervorgebracht. Ähnlich wie diese exosomatischen Erscheinungsformen sozialer Steuerungssysteme nicht „identisch“  oder „parallel“ mit dem Bewusstsein sind aber dennoch in einer Wechselwirkung mit diesem stehen, steht auch unser Verhalten und Handeln in einer Wechselwirkung mit dem Bewusstsein. Unser Bewusstsein fungiert in diesem Sinn als Fehlereliminationssystem, in dem es unser Verhalten vorwegnimmt und durch Versuch und Irrtum die wahrscheinlichen Folgen des Verhaltens ermittelt. Es kommt damit nicht nur zu einer Steuerung, sondern auch zu einem Ausprobieren und Überlegen.[2]

Das Bewusstsein erscheint hier als ein strahlender heller Scheinwerfer mit großer Steuerungskapazität. In der Laborsituation hat sich das Bewusstsein aber eher wie ein flüchtiges und schmales Fenster erwiesen. Lesen wir zB einen Text, tritt nur für einen kurzen Moment die übermittelte Botschaft in unser Bewusstsein und damit in den Vordergrund und nimmt Bedeutung an. Soll die Botschaft über längere Zeit erhalten bleiben, müssen Gedächtnisspuren in Geflechten niedergelegt werden, die aus Synapsen von Nervenfasern bestehen und über das gesamte Nervensystem verteilt sind. Derart festgehalten im Langzeitgedächtnis können Erinnerungsspuren über viele Jahre erhalten bleiben. Doch der Blick des Bewusstseins auf das Gelesene ist nur etwa 15 Sekunden lang. Hier stellt sich die Frage, wie wir es schaffen, uns aus einer endlosen Reihe von maximal 15 Sekunden langen Erfahrungsschnipseln eine stimmig gegliederte bewusste Existenz zusammenzustückeln?[3] Darüber hinaus kann sich das Bewusstsein nur wenigen Dingen gleichzeitig widmen und nehmen die Reize extrem zu und entsteht durch ihre Intensität ein hohes Ausmaß an Stress, wird das Bewusstsein unstet und fragmentiert sich.[4] Es kann dann vorkommen, dass längere Episoden unseres Lebens keinerlei Spuren im Gedächtnis hinterlassen.[5] All diese Forschungsergebnisse, die viele Male unter verschiedenen Bedingungen wiederholt wurden, weisen auf eine gravierende Kapazitätsbeschränkung des Bewusstseins hin und stellen seine Steuerungsfunktion in Frage.[6]

Aus dieser Kapazitätsbeschränkung scheint sich zu ergeben, dass sich die meisten kognitiven Leistungen unbewusst abspielen. Wir greifen bei unserem Handeln, Denken, Sprechen und Phantasieren auf unbewusste oder automatische Verarbeitungssysteme in unserem Gehirn zurück, die offensichtlich durchaus parallel zueinander arbeiten können, ohne sich in die Quere zu kommen. Eine solche Parallelität ist dem Bewusstsein nicht möglich. Es kann sich nur nacheinander auf komplexere Zusammenhänge fokussieren. So wie es die Zeit gibt, die bestimmt, dass nicht alles gleichzeitig geschehen kann, hat die Natur das Bewusstsein so geschaffen, dass wir nicht gleichzeitig alles denken und tun können. In einer extremen Ansicht könnte man davon ausgehen, dass uns das eigene Handeln nur manchmal und dann auch nur verschwommen und ungenau bewusst ist und wir das Ausmaß an Kontrolle, das wir mittels des Bewusstseins ausüben, weitgehend überschätzen. Eine solche Ansicht würde uns Menschen aber in die Nähe von Robotern rücken, die sich, nachdem die unbewussten Mechanismen alles erledigt haben, hinterher einbilden, sie würden bewusst und frei über ihr eigenes Handeln gebieten. Manche Hardliner wollen dem Bewusstsein auch seine Rolle als eine Art Hauptprozessor absprechen und behaupten über die sich aus der Experimentalforschung[7] heraus ergebenden Kapazitätsbeschränkungen des Bewusstseins hinaus, dass das Bewusstsein keinen wesentlichen Beitrag zur Kognition und damit auch zur Steuerung leistet.

Es soll an dieser Stelle Merlin Donald, ein emeritierter Universitätsprofessor für Psychologie aus Kanada zitieren werden, der einer Gegenansicht zu diesem extremen Standpunkt der Hardliner mit Bezug zum zeitlichen Rahmen, den die meisten experimentellen Paradigmen vorgeben, das Wort redet. Dieser zeitliche Rahmen sei „ganz einfach viel zu eng gesteckt, als dass er ein zutreffendes Bild des menschlichen Bewusstseins ergeben könnte. Laborstudien sind, so präzise sie auch konzipiert sein mögen, ganz auf das Hier und Jetzt fixiert, und zwar insbesondere auf kurzfristige Wahrnehmungs- und Erinnerungsvorgänge. … Diese Methodik führt zu einer ausschließlichen Konzentration auf relativ periphere oder unmittelbar hervorstechende Phänomene wie Kurzzeitgedächtnis, Vorstellungsbilder, Wahrnehmungstäuschungen oder die Zuteilung der Aufmerksamkeitskapazitäten. … Aufgrund ihrer intendierten, aber fest vorgegebenen Einseitigkeit nehmen solche Experimente nur die unteren Schichten des Bewusstseins in den Blick und lassen es als eine Art schlecht geschnittenes Video erscheinen, das mit einer unzulänglichen Kamera (unserem Gehirn) gefilmt worden ist. Heraus kommt ein Zerrbild, das unseren Untersuchungsgegenstand völlig falsch darstellt. Denn der Wirkungsbereich des menschlichen Bewusstseins greift weit über den engen Zeitkorridor hinaus, in den man es in den üblichen Laborexperimenten zwängen will.“[8]

Nach dieser Ansicht schmiegt sich das Bewusstsein den langsamen Rhythmen der sozialen Kognition an und steuert die Verarbeitung von Realitätsausschnitten, die weit mehr umfassen als nur den unmittelbar gegebenen Augenblick. In der sozialen Interaktion spielen nicht Sekunden oder Millisekunden die ausschlaggebende Rolle, sondern Minuten und Stunden. Man denke hier zum Beispiel an ein Argument, das uns im Rahmen eines Gespräches relevant erscheint und uns durch den Kopf geht, aber im aktuellen Gesprächsverlauf nicht eingebracht werden kann, weil man noch nicht an der Reihe ist zu sprechen oder sich der rote Faden des Gespräches in eine andere Richtung bewegt. Unser Bewusstsein als Steuerungsinstanz muss nun das Argument im Hinterkopf parat halten und auf einen passenden Augenblick warten, um vorzupreschen. Vom richtigen Zeitpunkt hängt die Schlagfertigkeit und Überzeugungskraft des Argumentes ab. Generell ist in Gesprächen mit mehreren Personen ein unablässiger, selbstreflexiver und metakognitiver Lenkungsprozess notwendig, durch den wir dem Strom des bewussten Erlebens über längere Zeit hinweg folgen, diesen überwachen und die sich in ihm wandelnden zeitlichen und räumlichen Bezüge im Gedächtnis ordnen und strukturieren können. Wir haben zwar für viele Situationen Pläne und Skripts in unserem Gedächtnis abgespeichert, die aber mittels unseres Bewusstseins in konkreten Situationen als passend abgerufen und im zeitlich-räumlichen Kontext richtig eingeordnet werden müssen. Im Lebensalltag ist es nicht entscheidend, ob unsere Fähigkeit wortwörtlichen oder in anderer Weise exakten Memorierens bei 15 Sekunden an seine Grenzen stößt. Diese Grenze gilt nur, wenn das Bewusstsein gezwungen wird, in hohem Tempo sensorische Reize zu registrieren. Aber in einer ausgedehnteren Zeitzone ist das Bewusstsein ungeachtet der im Labor festgestellten Beschränkungen weit effizienter und kommt mit den Ansprüchen an die Steuerung in konkreten sozialen Situationen sehr gut zurecht. Schließlich ist auch davon auszugehen, dass der Prozess der Automatisierung mentaler Prozesse eine Begleiterscheinung eines hochdifferenzierten Bewusstseins ist und auch ein notwendiges Gegenstück zu einer fortgeschrittenen Selbststeuerung und Lernfähigkeit darstellt. Denn müssten wir, um alle unsere Wissensbestände und erlernten Abläufe zu verwalten und zu steuern, ständig auf das Bewusstsein zurückgreifen, würde unweigerlich eine Überlastung eintreten und die frei verfügbare Kapazität des Bewusstseins wäre extrem eingeschränkt. Effiziente Automatisierung ist die Voraussetzung für eine effektive Nutzung des Bewusstseins und versetzt uns in die Lage, die enorme Plastizität unseres Gehirnes optimal zu nutzen. Automatisierung ist zwar das Gegenstück zum Bewusstsein, aber keineswegs unabhängig von ihm. Die Automatisierung ist das Endprodukt bewussten Übens und Überprüfens.

Das Bewusstsein bringt also in der Wechselwirkung mit unserem Geist und unserer Umwelt steuernd Erzeugnisse, Werkzeuge und Kunstwerke hervor, die vielfach das Begriffsvermögen der meisten oder sogar aller Menschen übersteigen. Die Ergebnisse so mancher Diskussion, die den Stand des Erkenntnisfortschrittes in einem Wissensbereich beschreiben, sind für viele Menschen nicht nachvollziehbar oder begreifbar. Selbst Experten müssen sich die Zusammenhänge bewusst machen und klar strukturiert durchdenken, um sie weniger informierten und verständigen Personen erklären zu können. Wer versteht schon ohne Probleme Einsteins Relativitätstheorie, Freuds tiefenpsychologische Ansätze, Jungs Verständnis der Kollektivseele oder Kants Antinomien? Trotzdem versetzen diese abstrakten Ideen, die vielfach nur unvollständig erfasst werden können, ganze Berge.[9]

Für Entscheidungsträger ist es also in einem evolutionstheoretischen Ansatz wichtig zu verstehen, dass vorläufige Lösungen mit Problemen und Zielen derart in einer Wechselwirkung stehen wie steuernde und gesteuerte Teilsysteme im Kontext eines plastischen Steuerungssystems. Dies bedeutet, dass sich Ziele ändern können und die Wahl eines Ziels zum Problem werden kann. Ziele können beginnen, zu konkurrieren, es können neue Ziele erfunden werden und eine Kontrolle nach Versuch und Irrtumselimination notwendig werden. Wichtig bleibt, dass die Kontrolle und Steuerung nicht gusseisern erfolgt, sondern plastisch ist, indem neue Ideen genauso wie notwendige Veränderungen zugelassen werden, die eventuell sogar durch einen zufälligen Fehler oder eine unerwartete Dissonanz auftreten.[10]


[1] Diese Ansicht, dass es zwischen Leib und Seele eine Wechselwirkung gibt, wie sie von Popper vorgeschlagen wird, spricht sich in Bezug zum klassischen kartesianischen Leib-Seele-Problem gegen eine Parallelität zwischen bzw. Identität von Leib und Seele aus. Unabhängig von der Lösung des Leib-Seele-Problems bleibt die offensichtliche gegenseitige Einflussnahme von geistigen Zuständen auf körperliche Zustände und körperlicher Zustände auf geistige Zustände unabhängig einer Erklärung ihrer Wirkungsweise und Charakterisierung ihrer Verbindung zueinander entscheidend. Die Evolutionstheorie liefert auf jeden Fall triftige Gründe für eine Wechselwirkung und das bestehen unterschiedlicher Ebenen der Steuerung ohne zu erklären, wie die Wechselwirkung genau vor sich geht.
[2] Vgl. bei: Popper, K. R.: Objektive Erkenntnis: ein evolutionärer Entwurf, 2. Auflage, Hofmann und Campe, Hamburg, 1994, S. 262
[3] Vgl. bei: Donald, M.: Triumph des Bewusstseins, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 2008, S 19 f
[4] Bekannt sind hier die Untersuchungen von William James geworden, der eine Handvoll Murmeln aufnahm, sie in eine Schachtel auf dem Boden seines Arbeitszimmers warf und versuchte, wenn sie aufkamen, mit einem Blick zu erkennen, wie viele es waren. Er stellte fest, dass ihm das ohne Zählen gelang, wenn es nur fünf oder sechs waren.
[5] Vgl. bei: Donald, M.: Triumph des Bewusstseins, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 2008, S 27
[6] Vgl. bei: Myer, D.G.: Psychologie, 2. Auflage, Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 2008, S. 294
[7] Eine gute Zusammenfassung verschiedener Experimente zum Phänomen des Bewusstseins findet sich in: Becker, P.: In der Bewusstseinsfalle, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2009, S 123 ff
[8] Donald, M.: Triumph des Bewusstseins, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 2008, S 51
[9] Vgl. bei: Popper, K. R.: Objektive Erkenntnis: ein evolutionärer Entwurf, 2. Auflage, Hofmann und Campe, Hamburg, 1994, S. 264
[10] Vgl. bei: Ibid., S. 264 f
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