
K O N T A K T

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
6.6 Konzepte „unbegrenzter“ und „begrenzter Rationalität“
Die evolutionstheoretischen Überlegungen weisen weg von einer rationalen Zentralsteuerung unserer Entscheidungsprozesse im Sinn eines „Laplaceschen Dämons“ hin zu plastischen Steuerungsstrukturen, bei denen es um die Plausibilität und Bewältigung von psychologischen Verarbeitungsprozessen, die Entwicklung von Lösungsansätzen für konkrete und spezifische Problemlagen im Gegensatz zu unüberschaubaren Gesamtbetrachtungen und die Anpassung an die gegebenen Umweltstrukturen in physikalischer wie sozialer Hinsicht geht. Die Lösungsansätze werden für spezifische Herausforderungen in einer spezifischen Umwelt entwickelt, nach ihrer Anpassungseffektivität beurteilt und auf ihre Schnelligkeit, Einfachheit und ihren effizienten Informationsverarbeitungsaufwand hin geprüft. So wie der Mensch Schreibmaschinen, Bibliotheken und Computer als exosomatische Werkzeuge entwickelt hat, so bringt er auch Heuristiken hervor, die es ihm erlauben, unter der Bedingung eingeschränkter Zeit- und Wissensressourcen sowie beschränkter Informationsverarbeitungskapazitäten Schlussfolgerungen über die Welt, in der er lebt, zu ziehen. Diese Heuristiken sind keine gusseisernen Steuerungen einer Laplaceschen Superintelligenz mit unlimitierten Ressourcen, sondern plastische Steuerungseinheiten im Kontext einer „begrenzten Rationalität“ wie sie von Herbert Simon beschrieben wurde.[1] Der Begriff „begrenzte Rationalität“ lenkt, wie schon in Kapitel 2.7.3 ausgeführt, die Aufmerksamkeit auf die Diskrepanz zwischen einer perfekten menschlichen Rationalität, die in klassischen und neoklassischen Theorien vertreten wird, und dem realen menschlichen Verhalten, wie es im Wirtschaftsleben beobachtet wird.[2]
Dem „Laplaceschen Dämon“ entsprechen jene Sichtweisen der Rationalität, die entweder die Rationalität als unbegrenzt betrachten oder sie unter dem Gesichtspunkt einer beschränkten Optimierung begreifen. Der Sichtweise der „begrenzten Rationalität“ entspricht das Konzept des „Satisficing“, das von Herbert Simon entwickelt wurde und bei dem es, wie schon im Kapitel zum „Modell der begrenzten Rationalität“ beschrieben (vgl. in Kapitel 2.7.4), um die Suche nach Alternativen bis zum Auffinden einer zufriedenstellenden Lösung geht, und jene schon angesprochenen schnellen und einfachen Heuristiken, die nach Schlüsselhinweisen für die Bevorzugung von Alternativen suchen.
Die Konzepte „unbegrenzter Rationalität“ nehmen, wie schon ausgeführt, kaum Rücksicht auf Zeit- und Wissensbegrenzungen sowie eingeschränkte Informationsverarbeitungskapazitäten. Hier stehen Modelle des maximierten Erwartungsnutzen oder der Kalkulation nach der Bayesschen Regel im Vordergrund, die Problemstellungen der realen Welt nur mit großen Anstrengungen berechnen können und vielfach an den kognitiven bzw. maschinellen Berechnungskapazitäten stranden. Entscheidungsfindung in der realen Welt verlangt anders als im Experiment, in dem alle notwendigen Informationen den Testpersonen zur Verfügung gestellt werden, eine Suche nach Informationen. Eine solche Informationssuche kann nicht unendlich fortgesetzt werden und muss unter bestimmten Kriterien durch Nutzung einer „Stoppregel“ beendet werden. Die Idee hinter dieser „begrenzten Optimierung“ besteht darin, dass sich der optimale Zeitpunkt zur Beendigung der Suche berechnen lässt. An diesem Punkt übersteigen die Kosten den Nutzen einer weiteren Informationssuche. Doch die Suche nach jenem Punkt, an dem die Kosten überwiegen, kann mehr Zeit, Wissen und Informationsverarbeitungskapazitäten beanspruchen als das Modell der „unbegrenzten Rationalität“. Die Idee der Optimierung wurde oft fälschlich als Konzept der „begrenzten Rationalität“ bezeichnet, was zu Missverständnissen zwischen den Begriffen „begrenzter“ und „unbegrenzter Rationalität“ führte. Siehe zu diesen Ausführungen auch die Ausführungen im Kapitel „Modell der begrenzten Rationalität“ (vgl. in Kapitel 2.7.3).
Herbert Simon bezog sich bei seinen Überlegungen zur „begrenzten Rationalität“, wie schon beschrieben, auf zwei Aspekte, die er mit den beiden Schneidblättern einer Schere verglich und die sich mit den Fragen menschlicher kognitiver Limitierung und der Bedeutung von Umweltstrukturen beschäftigten. Aus evolutionspsychologischer Sicht ist Simons Artikel aus dem Jahr 1956 mit dem Titel „Rational Choice and the Structure of the Environment“[3] von zentraler Bedeutung, in dem er zwei verschiedene aber strukturell typische Umweltcharakteristika aus psychologischer Sicht darstellte, die im einen Fall eine willkürliche Futterverteilung und im anderen Fall eine Futterverteilung mit Lösungshinweisen aufwies. Ein Organismus in der ersten Umwelt kann mit sehr einfachen Wahrnehmungs- und Entscheidungsmechanismen an Futter kommen. Ein Organismus in der zweiten Umwelt kann von seinen kognitiven Fähigkeiten bei der Futtersuche stark profitieren, wenn er die Lösungshinweise mit den Zielparametern in Beziehung setzt und bei der Futtersuche lernt, in planvoller Weise vorzugehen. Doch der Einsatz von Nutzenfunktionen oder gar ausgeklügelter Rechenoperationen zwecks Kalkulation der Grenzrate für die Beurteilung der Sinnhaftigkeit einer Substituierung verschiedener Bedürfnisse sei nicht notwendig. Als Umwelt wurde hier nur jenes Umfeld berücksichtigt, das für den Organismus zur Befriedigung seiner Bedürfnisse und Ziele von Bedeutung war und bezog sich nicht auf die gesamte physische und biologische Umwelt. Der springende Punkt liegt darin, dass es notwendig ist, die Informationsstruktur eines Umfeldes zu erkennen, um einschätzen zu können, welche Heurisitk unter welchen Umständen von einem Organismus erfolgreich eingesetzt werden und wann eine solche Heuristik wie gut funktionieren kann.[4]
Mit der von Simon durchgeführten Analyse wurde die Nützlichkeit ökonomischer und statistischer Theorien rationalen Verhaltens als Theorie zur Erklärung menschlicher Rationalität in Frage gestellt. Simon regte an, alternative Zugänge zur Beschreibung der Rationalität zu suchen, die psychologischen Theorien der Wahrnehmung und Kognition näher stehen.
Diesen Anregungen folgend, ist es notwendig, kognitive und emotionale Prozesse selbst genauso wie den Einfluss von Umweltbedingungen auf diese Prozesse zu untersuchen, um verstehen zu können, wie Entscheidungsverhalten auf Grund der gegebenen psychologischen Mechanismen zustande kommt. Dabei besteht die Gefahr, dass bei der Untersuchung der psychologischen Prozesse primär ein Augenmerk auf Erkenntnisirrtümer gelegt wird, ohne zu erkennen, dass bestimmte Mechanismen des Erkennens in spezifischen Umfeldern durchaus Sinn machen. Andererseits ist zu befürchten, dass natürliche Umwelten mit ihrer Einflussnahme auf die menschlichen Verarbeitungskapazitäten nur sehr zögerlich untersucht werden, weil es damit notwendig wird, nicht nur mit Reiz-Reaktions-Modellen zu arbeiten, die den Verstand in einer Black-Box sicher verwahrt wissen wollen, sondern sich mit angeborenen Reaktionen, Emotionen, Motivationen und Reifungsvorgängen auseinander zu setzen.[5]