
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
6.7 Die Nutzung eines anpassungsfähigen Werkzeugkoffers
Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, und sein Team haben unter einem evolutionstheoretischen Blick einen adaptiven Werkzeugkoffer entwickelt, dessen Werkzeuge dazu dienen, Ziele im Umkreis der eigenen konkreten Lebensbedingungen zu erreichen. Sie untersuchten dabei das Verhalten von Organismen bei der Suche nach Beute, der Vermeidung von Räubern und der Wahl von Geschlechtspartnern, wie sie sich aus der Evolutionsgeschichte heraus ergeben, ebenso wie problemlösendes Verhalten, das den Anforderungen unseres zivilisierten und modernen Lebens entspricht, wie den Austausch von Gütern, das Profitstreben und das Verhandlungsverhalten bei Geschäften. Sie untersuchten auch die Anpassungsfähigkeit der Werkzeuge bei sich verändernden Umweltbedingungen und sich ändernden Zielparametern.
Bei der Entwicklung der Werkzeuge legten Gigerenzer und sein Team wenig Augenmerk auf Optimierungsstrategien, weil aus ihrer Sicht eine optimale Strategieformulierung zB selbst bei klar definierten Spielen wie Schach, bei denen die Regeln und Ziele einfach und eindeutig und keinen Veränderungen unterworfen sind, nicht möglich ist.[1] Die Gründe, weshalb die Optimierung scheitert, liegt an der oft gegebenen Vielzahl miteinander konkurrierender oder unvereinbarer Ziele, nicht vergleichbarer Lösungsansätze, dem Problem, dass alternative Lösungen erst generiert und nicht abschließend gereiht werden können, Lösungsansätze und Begründungen erst gesucht werden müssen und hinsichtlich ihrer Vorhersagekraft keine Aussage getroffen werden kann, zukünftige Folgen von Aktionen nicht abgeschätzt werden können und an der Vielfalt der zu treffenden Entscheidungen, die Menschen auf Grund beschränkter Verarbeitungsressourcen schlicht überfordern.[2] Optimierung ist nicht nur eine Frage der besten Wahl, sondern auch der richtigen Methode. Hier tun sich Menschen oft schwer, methodisch die richtigen Schritte zu setzen, weil sie keine entsprechende Anleitung haben. Die Suche nach der optimalen Entscheidung scheitert regelmäßig auch an einem nicht enden wollenden Suchprozess nach Optionen. Beschränkt man sich aber nur auf die gegebenen Informationen und Daten, entspricht dieses Vorgehen eher einer Laborsituation als dem wirklichen Leben. Die Suche nach der optimalen Lösung lenkt auch tendenziell davon ab, mehr über die Dynamik einer Situation zu lernen und zu verstehen, was zu unangemessenen Entscheidungen führen kann. Es wird teilweise argumentiert, dass die Suche nach optimalen Entscheidungen sinnvoll ist, weil sie das gedankliche Durchdringen des Entscheidungsprozesses fördert. Hier bleibt aber fraglich, ob nicht besser Standards gesucht werden sollten, die statt einer Optimierung eine Anhebung der Entscheidungsqualität im Auge haben.[3]
Im Gegensatz zu Optimierungsversuchen wird mit den im Werkzeugkoffer beschriebenen Heuristiken auf Grundlage vergangener Erfahrungen und eines Probierens quasi auf die Verhältnisse in der Umwelt „gewettet“ ohne Versuch einer vollständigen Analyse und anschließenden Optimierung.[4]
Die Heuristiken im Werkzeugkoffer nehmen die klassischen Annahmen der rationalen Entscheidungsfindung nicht als zwingende Vorbedingung an. Axiomen wie der fixierten Rangordnung der Alternativen, der Transitivität oder der Unveränderbarkeit der Präferenzordnung zwischen Zufallsgrößen wird nicht blind gefolgt, sondern es wird gefragt, ob sie für die Erreichung eines umweltrelevanten Entscheidungsziels einsetzbar sind oder nicht. Für die Erreichung eines bestimmten Ziels kann die Anwendung der Axiome von Vorteil, von Nachteil oder unbedeutend sein. In kooperativen Beziehungen ist eine Berechenbarkeit Grundlage eines vertrauensvollen und fairen Miteinanders. In Wettbewerbsbeziehungen können unlogische Elemente, die verwirren und verunsichern, von Vorteil sein. Gigerenzer erwähnt hier die Beispiele unberechenbaren Fluchtverhaltens von Beutetieren oder den „verrückten Tanz“ von Raubtieren im Zweikampf, die ihren nächsten Schritt vor dem Gegner zu verbergen suchen. In solchen Zusammenhängen könnte ein rational logisches Vorgehen tödlich sein. Manchmal werden auch Entscheidungen getroffen, nicht um eine Entscheidung grundsätzlich zu treffen und nicht um eine richtige Entscheidung zu treffen, sondern lediglich darum, um eine geschäftliche oder soziale Interaktion überhaupt ins Laufen zu bringen.[5]
Für jeden Supermarktbesucher ist klar, dass eine algorithmische Suche von Produkten durch Abschreiten aller Regale nach einem bestimmten Schema bis zum Auffinden des gesuchten Produktes unzweckmäßig, zeitaufwendig und ermüdend ist. Aus diesem Grund nutzen wir in solchen Situationen jene strukturierenden Informationen, die wir durch Besuche von Märkten gelernt haben und suchen die Milch eben bei den Milchprodukten im Kühlregal und die Kochschokolade bei den Backwaren im Umfeld von Mehl, Zucker und Eiern. Wir wissen, dass alle Märkte in unserem Umfeld ein ähnliches Schema haben und verlaufen uns dennoch in unbekannten Märkten auf der Suche nach sehr speziellen Produkten. Die angewendeten Heuristiken sind also in den meisten Fällen hilfreich und zeitsparend aber nicht in allen Fällen erfolgreich. Sie sind eben sehr stark von der betroffenen Domäne abhängig. Das beschriebene Problem im Supermarkt ist ein Adaptionsproblem. Es geht um die Gemeinsamkeiten mit Bezug zur untersuchten Form, ähnlich wie bei der Suche nach Partnern, der Wahl von Speisen oder Diätformen oder dem situationsangepassten physischen oder sozialen Verhalten. Neben diesen Adaptionsproblemen gibt es auch kognitive Aufgaben, die eine Klassifikation, Bewertung und Auswahl unter Alternativen verlangen. Die Entscheidung für den Kauf eines Fahrzeuges, der nächste Zug beim Schachspiel, die Auswahl der richtigen Finanzsoftware für ein Unternehmen gehören zu dieser Kategorie von kognitiven Entscheidungen. Gigerenzers Werkzeugkoffer enthält in diesem Sinn adaptive und kognitiv orientierte Formen von Heurisitken.[6]