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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

6.7.5 Ecological Rationality

 

Schnelle und einfache Heuristiken können genauso gut oder besser funktionieren wie Algorithmen, die weit mehr Information und auf Grund ihrer umfangreichen Informationsverarbeitung mehr Zeit benötigen. Die Gründe für das überraschend gute Abschneiden der Heuristiken liegen darin, dass sie die Umweltstrukturen bei ihrem Einsatz nutzen und sich durch Robustheit beim Einsatz in neuen Situationen auszeichnen. Obwohl die Informationsstrukturen der Heuristiken mit jenen der Umwelt abgestimmt sind, indem sie auf gleichbleibende Umweltbedingungen setzen, bleiben sie dennoch einfach und wenig komplex, so dass sie im Gegensatz zu manchen mit vielen Parametern überladenen komplexen Modellen keine überzogene Anpassung („overfitting“) an die konkrete Entscheidungssituation aufweisen, die einen Einsatz in neuen Situationen ausschließen würde. Diese Verbindung von Struktur und Einfachheit bringt jenes der Intuition widersprechende Resultat hervor, dass Schnelligkeit und Einfachheit auch Genauigkeit bedeuten kann.[1]

Die „recognition-heuristic“ macht sich in diesem Zusammenhang zu Nutze, dass wir bei unserer Suche nach Wissen systematisch eher Variablen untersuchen, die hervorstechen und bedeutend sind. Daher merken wir uns eher große Städte, Unternehmen und Universitäten als kleine. Ähnlich ist es mit der „Take-The-Best“-Heuristik. Diese Heuristik sticht alle linearen Modelle aus, wenn eine Reihung der Lösungsansätze möglich ist und die verschiedenen Ansätze nicht kompensiert werden können, was bedeutet, dass die Entscheidungskraft jedes vorgereihten Lösungsansatzes alle Werte der nachgereihten Ansätze übertrifft. „Take-The-Best“ ist gegenüber linearen Modellen dann meist erfolgreich, wenn die bekannten Lösungsansätze weitgehend begrenzt sind. Gibt es hingegen reichlich viele Lösungsansätze, tendieren lineare Modelle zu genaueren Ergebnissen. Da aber die zur Verfügung stehenden Informationen aus der Umwelt und im Gedächtnis der Entscheider meist knapp sind, ist „Take-The-Best“ eine erfolgsversprechende Strategie in vielen Problemsituationen des täglichen Lebens.[2]

Da Heuristiken an bestimmte Umweltbedingungen angepasst sind und damit eine gewisse Spezialisierung unvermeidbar ist, kann nicht jede Heuristik in jedem Umfeld erfolgreich eingesetzt werden. Aus diesem Grund wird ein ganzer Werkzeugkoffer mit Heuristiken für verschiedenste Situationen verwendet. Dabei geht es oft nicht nur um die Passung mit den Umweltstrukturen, sondern auch um die Frage der spezifischen Darstellung von Informationen. In diesem Zusammenhang ist die Frage interessant, ob wir auf Grund unserer kognitiven Disposition mit der Informationsdarstellung in der Form von Wahrscheinlichkeiten mittels Prozentangaben, wie sie heute vielfach bei der Beschreibung von wissenschaftlichen Ergebnissen verwendet wird, oder in der Form natürlicher Häufigkeiten besser umgehen können. Das Auftreten von Häufigkeiten ist etwas, mit dem sich schon unsere Vorfahren intensiv auseinander setzen mussten. Hingegen ist die Bayessche Regel[3] zur Schlussfolgerung von bedingten Wahrscheinlichkeiten, die von Thomas Bayes zur präzisen Erfassung des Zusammenhangs von statistischer Inferenz und Hypothesenprüfung im 18. Jahrhundert entwickelt wurde, eine mathematische Formel, die relativ komplexe Berechnungen verlangt und bei Menschen im Alltag, soweit sie keine Statistiker sind, keine Verwendung findet.[4]

Mit Bezug zu diesem kognitiven Verarbeitungsproblem ergibt sich bei Untersuchungen tatsächlich, dass Menschen neue Daten im Bezug zur Grundgesamtheit im Zusammenhang mit Bayesschen Wahrscheinlichkeitsschlussfolgerungen zu stark gewichten.[5] In einer Untersuchung von Gigerenzer und Hoffrage[6] wurde ein Teil der Probanden, die Studenten waren, mit dem Problem konfrontiert, dass zehn von 1000 Frauen im Alter von 40 Jahren, die an einer Routineuntersuchung zur Erkennung von Brustkrebs teilnahmen, auch tatsächlich Brustkrebs hatten. Bei acht dieser zehn Frauen ergab die Mammografie ein positives Ergebnis. Aus der Gruppe der 990 nicht erkrankten Frauen erhielten ebenfalls 95 ein positives Untersuchungsergebnis. Die Studenten wurden nun nach ihrer Annahme gefragt, wie viele Frauen tatsächlich an Brustkrebs erkrankt waren. Einer zweiten Gruppe von Studenten wurde dasselbe Problem im Kontext einer Bayesschen Beschreibung vorgelegt. Dabei war die Wahrscheinlichkeit, dass eine 40-jährige Frau an Brustkrebs erkrankt 1 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit einer positiven Mammografie lag bei 80 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau ein positives Mammografieergebnis ohne tatsächlicher Erkrankung erhält, lag bei 9,6 Prozent. 46 Prozent der ersten Gruppe der Studenten beantwortete die Frage richtig. Hingegen waren es in der zweiten Gruppe, denen nur Wahrscheinlichkeiten statt Häufigkeiten präsentiert wurden, nur 16 Prozent. Unter Medizinern mit einer durchschnittlich 14-jährigen Berufserfahrung lag die Quote richtiger Antworten bei der Häufigkeitsdarstellung bei 46 Prozent und bei der Wahrscheinlichkeitsdarstellung unter dem Wert der Studenten bei lediglich 10 Prozent.[7]

Dieses Beispiel zeigt eindrücklich, dass die Darstellung von Informationen unser Verständnis für Häufigkeiten nutzen und auf Wahrscheinlichkeitsdarstellungen eher verzichten sollte. So kann auch Medizinern geholfen werden, die richtigen Schlüsse aus Diagnosen zu ziehen und Untersuchungsergebnisse bei schweren Erkrankungen wie AIDS richtig zu interpretieren.[8]


[1] Vgl. bei: Gigerenzer, G./Todd, P.M.: Simple heuristics that make us smart, Oxford University Press, Oxford, 2001, S. 361
[2] Vgl. bei: Chase, V.M./Hertwig, R./ Gigerenzer, G.: Visions of rationality, Trends in Cognitive Science, Volume 2, Number 6, 1998, S. 210. Internetzugriff am 02.03.2012 unter http://psiexp.ss.uci.edu/research/teaching/chase_hertwig_gigerenzer_1998.pdf
[3] „Die Bayessche Regel lautet wie folgt:
für die bedingte Wahrscheinlichkeit von Ai nach B. Besitzen zB drei Urnen je als Inhalt I1 zwei weiße und sechs schwarze Kugeln, eine vierte Urne als Inhalt I2 eine weiße und acht schwarze Kugeln, so kann für die willkürliche Auswahl einer Urne und anschließende Ziehung einer Kugel aus dieser Urne die Wahrscheinlichkeit P(B) für das Ereignis B >die gezogene Kugel ist weiß< nach dem Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit berechnet werden: Ist Ai das Ereignis >eine Urne mit Inhalt Ii , wird gewählt (i=1,2)<, so ist A1A2=Ø und deshalb P(B) = P(A1) P(B| A1) + P(A2) P(B| A2). Da drei der vier Urnen den Inhalt I1 besitzen, ist P (A1) =  3/4  und P (A2) = 1/4, und offensichtlich ist P(B| A1) = 2/8 = 1/4 und P(B| A2) = 1/9, also folgt P(B) = 3/4.1/4+1/4.1/9 0,215" Vgl. in: Brockhaus-Enzyklopädie, Artikel zu Wahrscheinlichkeit, 21. Auflage, F.A. Brockhaus GmbH, Leipzig, Mannheim, 2006, Band 29, S. 338 f
[4] Vgl. in: Brockhaus-Enzyklopädie, Artikel zu Thomas Bayes, 21. Auflage, F.A. Brockhaus GmbH, Leipzig, Mannheim, 2006, Band 3, S. 422
[5] Tversky, A./Kahneman, D.: Availability: A heuristic for judging frequency and probability, Cognitive Psychology, Volume 5, Issue 5, 1973, S. 207-232. Internetzugriff am 12.01.2012 unter
http://dx.doi.org/10.1016/0010-0285(73)90033-9
[6] Gigerenzer, G./Hoffrage, U.: How to improve Bayesian reasoning without instruction: Frequency formats, Psychological Review, Volume 102, Issue 4, 1995, S. 684-704. Internetzugriff am 04.03.2012 unter http://dx.doi.org/10.1037/0033-295X.102.4.684
[7] Vgl. bei: Chase, V.M./Hertwig, R./ Gigerenzer, G.: Visions of rationality, Trends in Cognitive Science, Volume 2, Number 6, 1998, S. 211. Internetzugriff am 02.03.2012 unter http://psiexp.ss.uci.edu/research/teaching/chase_hertwig_gigerenzer_1998.pdf
[8] Gigerenzer, G./Hoffrage, U./Ebert, A.: AIDS counseling for low-risk clients, AIDS Care, Volume 10, Issue 2, 1998, S. 197–211. Internetzugriff am 04.03.2012 unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/9625903
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