
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
6.7.6 Social Rationality
Menschen leben in sozialen Netzwerken, folgen sozialen Normen, fühlen sozialen Druck und vergleichen sich auf sozialer Ebene. Alleine die Anwesenheit anderer beeinflusst schon unser Verhalten. Wir erbringen bessere Leistungen bei einfachen Aufgaben und schlechtere Leistungen bei schwierigen Aufgaben, wenn uns andere beobachten.[1] Die Anwesenheit anderer kann auch zu sozialem Faulenzen und zu Deindividuation führen.[2] Das soziale Umfeld charakterisiert sich durch die Geschwindigkeit seiner Veränderung und die Notwendigkeit, Entscheidungen, die durch andere getroffen werden, zu berücksichtigen. Viele soziale Entscheidungen schließen sich an frühere Entscheidungen an oder müssen mit anderen Personen abgestimmt werden. Dadurch steigen die Herausforderungen an das Handeln im sozialen Kontext und die Komplexität sozialer Entscheidungsfindung.[3]
Viele Entscheidungen, die sozialen Normen folgend getroffen werden, sind im Kontext einer sozialen Betrachtung rational, im Kontext individueller Präferenzen gesehen, verletzen sie aber den klassischen Grundsatz der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen. Wenn man normalerweise die Alternative A der Alternative B vorzieht, sollte man sich dementsprechend unabhängig von anderen Alternativen entscheiden. Auch wenn eine weitere Alternative X hinzutritt, sollte die Entscheidung für A gegenüber B bestehen bleiben. Die Alternative X ist aus individueller Sicht irrelevant. Untersuchungen und Experimente haben aber gezeigt, dass menschliches Verhalten nur selten diesem rationalen Axiom entspricht.[4]
Man denke nur an das Beispiel sozialen Verhaltens im Zusammenhang einer Essenseinladung, bei der noch nicht alle Gäste eine delikate Schokoladencreme als Nachtisch bekommen haben und man selbst aus lauter Höflichkeit die letzte Creme nicht essen will, obwohl man eigentlich der sündigen Versuchung kaum widerstehen kann, weil sonst eventuell eine andere Person leer ausgehen würde. Ist aber absehbar, dass die Gastgeber noch mehr Schokoladecreme kredenzen werden, wird man sich für den Genuss der Creme gegenüber der Alternative, leer auszugehen, entscheiden. Durch das Hinzutreten einer weiteren Alternative X entscheidet man sich plötzlich nicht mehr für die Alternative B, nämlich den Verzicht, gegenüber der Alternative A, das Essen der Creme, sondern wählt A gegenüber B weil es die Alternative X gibt, die bei einer rationalen Entscheidung aus individueller Sicht irrelevant sein müsste. Doch das Verhalten in dieser Situation erscheint nur dann irrational, wenn man das soziale Umfeld außer Acht lässt. Erfahrungen lehren uns, dass sich in vielen Situationen Höflichkeit und Anstand auszahlen, Verärgerungen verhindern und zukünftiges kooperatives Verhalten ermöglichen. Menschliches Verhalten kann oft sehr rätselhaft sein, wenn soziale Regeln und Normen nicht bekannt sind oder berücksichtigt werden. Werden sie beachtet, lässt sich das Verhalten in vielen sozialen Situationen nicht nur erklären, sondern auch vorhersagen.[5]
Die Beurteilung von Situationen mit der reinen Logik des Verstandes kann in die Irre führen. Wird von einer jungen einunddreißig Jahre alten ledigen, intelligenten Frau berichtet, die ihre Meinung offen sagt, Philosophie studiert, sich für Fragen der sozialen Gerechtigkeit engagiert und gegen Atomkraftwerke protestiert, und danach gefragt, ob diese Frau nun Bankangestellt (A) oder Bankangestellte und in der Frauenbewegung aktiv ist (A+B), halten in 80 bis 90 Prozent der Fälle die Probanden in einer Untersuchung (A+B) für wahrscheinlicher als A.[6] Diese Einschätzung ist aber falsch, weil sie gegen Gesetze der Logik verstößt, da eine Konjunktion von Gegebenheiten nicht wahrscheinlicher sein kann als eine Gegebenheit allein. Die Teilmenge kann die Gesamtmenge nicht übersteigen. Von Tversky und Kahneman wird dieser Fehlschluss, der von den meisten Menschen begangen wird, als „Konjunktionsfehler“ („conjunction fallacy“) bezeichnet. Doch von einem Fehler kann man nur dann ausgehen, wenn man annimmt, die mathematische Logik sei die Richtschnur, um Urteile als rational oder irrational zu bestimmen. Erkennt man aber, dass es nicht nur um einen logischen Zusammenhang, sondern auch um einen besonderen Inhalt geht, der sich mit Denkzielen verknüpft, die nicht von der Berechenbarkeit der Situation in einem künstlichen logischen System, sondern von Situationen einer ungewissen und unberechenbaren Welt bestimmt werden, ist die überzogene Informationsbewertung eher als intelligente Intuition denn als Fehler zu verstehen. Es geht weniger um Eindeutigkeits- als vielmehr um Mehrdeutigkeitsprobleme, die sich nur durch die Einschätzung der Relevanz von Informationen und Gegebenheiten lösen lassen. So wird der in der Untersuchung verwendete Begriff „wahrscheinlich“ weniger in einem mathematischen Sinn, sondern in einem Bedeutungssinn verstanden, der die beschriebenen Gegebenheiten relevant erscheinen lässt und ihnen durch Plausibilität Sinn verleiht.
Der Fehler liegt eher darin, Intuitionen nach den Gesetzen der Logik zu bewerten, statt sie mit Bezugnahme zu beobachteten Faustregeln zu begreifen. Weitere Untersuchungen, die von ihrem Design her klar auf die Bedeutung von „wahrscheinlich“ im mathematischen Sinn zielen, zeigen auf, dass Menschen durchaus bewusst verstehen, dass eine Menge nicht kleiner als eine Teilmenge sein kann.[7] Für Falldarstellungen wie jenem der jungen Frau, ist die Logik keine geeignete Norm, um die Unsicherheit in einem Zusammenhang, in dem plausible Vermutungen durchaus naheliegend und berechtigt sind, zu beseitigen.[8] Werden bezüglich der Situation Fragen anders gestellt und Häufigkeiten ins Auge gefasst, indem man fragt, ob viele Menschen von der Art der jungen Frau Bankangestellte sind, wird der logischen Konjunktionsregel häufiger gefolgt.[9]
Das beschriebene Fallbeispiel zeigt auf, wie Verhalten, das vordergründig als Fehlverhalten interpretiert werden kann, tatsächlich ein Ausdruck menschlicher Intelligenz ist, die erlaubt, richtige semantische und pragmatische Schlüsse zu ziehen. Über den sozialen Kontext hinaus spielen auch Normen und Emotionen für das menschliche rationale Verhalten eine bedeutende Rolle.[10] Sie erlauben wie das Verständnis sozialer Zusammenhänge eine bessere Definition der menschlichen Rationalität und der Funktionsweise unserer Kognition.