
K O N T A K T

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
ENTWICKLUNG EINES INKLUDIERTEN ENTSCHEIDUNGSMODELLS
1. Einleitung, Fragestellung und Ziele
Viele Entscheidungen werden getroffen, ohne dass die Entscheider konkret wissen, warum sie die Entscheidung so und nicht anders getroffen haben. Die Entscheidung wird zwar bewusst gefällt, aber der Prozess, der zur Entscheidung geführt hat, ist vielfach nicht oder nur zum Teil bewusst. Entscheider vermeinen, durch den Einsatz ihrer Willenskraft die gedanklichen Prozesse gänzlich steuern zu können, doch in Wahrheit laufen die meisten Prozesse im Gehirn unbewusst ab, ohne dass wir in der Lage wären, uns diese Prozesse bewusst zu machen. Willkürliches und Unwillkürliches greifen ineinander.
Entscheider wissen auch, dass sie in vielen Situationen handeln müssen, auch wenn sie die Einflussfaktoren, die eine Situation bestimmen, nicht zur Gänze kennen und die Handlungsweise, von einem rein rationalen Standpunkt aus betrachtet, oft nicht abschließend rechtfertigen können. Der Flux des Lebens nimmt keine Rücksicht auf unzureichende Informationslagen und mangelnde Ressourcen zur Informationssuche und Informationsverarbeitung.
Entscheidungen formen sich weit weniger oft durch einen isolierten Akt des Denkens, sondern vielmehr im Prozess des Redens, Schreibens, Diskutierens, Argumentierens und Handelns. So schreibt Ludwig Wittgenstein: „Ich denke tatsächlich mit der Feder, denn mein Kopf weiß oft nichts von dem, was meine Hand schreibt“[1]. „Gefühltes Wissen“ oder „stilles Wissen“ spielen eine wichtige Rolle.
Diesen Phänomenen wird mit Skepsis und Vorurteilen begegnet. In der klassischen Ökonomie wird nach wie vor das Augenmerk auf analytische Optimierungsstrategien gelegt, die allgemein gültige und mit Hilfe der Mathematik und Wahrscheinlichkeitsrechnung berechenbare Entscheidungen suchen. Diese Methoden werden kritisiert, weil sie zu wenig die konkreten Situationen, in denen sich Entscheider befinden, beachten und unzureichend auf Lebensumstände, Lebensweisen und Lebensgeschichten im Entscheidungsprozess eingehen. Dabei lassen sich viele Zusammenhänge überhaupt nicht berechnen, sondern sind Ausdruck von Übung und Fleiß. Es ist nicht die willentliche Konzeption, die es dem Steinmetz erlaubt, den Stein adaptiv an der richtigen Stelle zu behauen, oder die es dem Abfahrtsläufer im Skisport ermöglicht, schwierige Stellen durch ein Antizipieren der Rennstrecke zu meistern, oder die eine Hebamme befähigt, die Lage eines Kindes durch das Abtasten des Bauchs der Mutter zu bestimmen. Gerade das Vertrauen auf die Erfahrung und die Vernetzung der Erfahrungsinhalte erlauben eine ausreichende und angemessene Anpassung an ungewohnte, komplexe und neue Situationen. Dennoch ist die Bedeutung rational-analytischen Vorgehens unbestritten und hat zur rasanten ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Entwicklung unserer Welt einen ausschlaggebenden Beitrag geleistet. Gefühle können Faktenwissen, Ahnungen können Entscheidungsmethoden nicht ersetzen.
Das Forschungsinteresse dieser Arbeit richtet sich also weniger auf die Frage, ob man sich auf rational-analytische oder auf intuitive Methoden verlassen sollte, sondern vielmehr auf den Problemzusammenhang, in welchen Situationen rationale und in welchen intuitive oder vielleicht auch andere Verarbeitungsmodi angemessen und vorteilhaft sind.
Es geht nicht darum, zu bestimmen, ob Kopf, Herz oder Bauch der Vorzug zu geben ist, sondern wie diese Dimensionen ineinander spielen und wie sie sich im Entscheidungsprozess aussichtsreich oder nachteilig auswirken können. Es sollen die Grenzen, die Angemessenheit und Unangemessenheit der verschiedenen Entscheidungsmodi erforscht werden. Vielfach wird die Funktionalität der Ratio absolut gesetzt und Beschränkungen der Rationalität als Defizit gesehen. Solange die Ratio erfolgreich eingesetzt werden kann, bleiben dann andere Aspekte des Problemlösungsverhaltens unbeachtet. Erst wenn die Dinge rational nicht richtig funktionieren, sollten die Psychologen erklären, wie es sein kann, dass Menschen irrationale Dinge tun. Diese behauptete Gegensätzlichkeit rationaler und psychologischer Aspekte der Entscheidungsfindung lässt erkennen, dass in diesem Forschungsfeld nach wie vor ein wirtschaftspsychologisches Defizit besteht und ein Bemühen um einen Erkenntnisfortschritt begründet ist.
Das Beispiel einfacher, schneller und wenig aufwendiger Faustregeln wie sie zB in vielen Fällen des Wiedererkennens von Menschen, Dingen und Situationen eingesetzt werden, zeigen auf, dass diese Dichotomie einer praxis- und lebensbezogenen Grundlage entbehrt.
Diese Arbeit wirft daher die Frage auf, wie ein Entscheidungsmodell aussehen kann, in dem die Rationalität nicht zugunsten einer psychologischen Plausibilität aufgegeben und das Ergebnis eines Denkprozesses nicht losgelöst von den rahmengebenden Mechanismen des Denkens bewertet und eingesetzt werden kann. Es wird die Frage nach einem die verschiedenen Verarbeitungsmodi inkludierendem Entscheidungsmodell gestellt.
Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit klassischen Entscheidungstheorien der Ökonomie, beschreibt deren Entwicklung und die Hinterfragung ihrer Allgemeingültigkeit durch empirische Untersuchungen, die nachgewiesen haben, dass Menschen eher selten rein rational und vielfach nach anderen nicht logischen Kriterien entscheiden. Im Anschluss daran werden das Modell der „ökonomischen Rationalität“ und die Modellfigur des „homo oeconomicus“ diskutiert und neben dem ökonomischen Modell das „Modell der sozialen Entscheidung“ und das „Modell der begrenzten Rationalität“ untersucht.
Im zweiten Abschnitt steht der Akteur des Entscheidungsprozesses im Mittelpunkt der Überlegungen. Es wird ein Handlungsmodell entwickelt, die Bedeutung von Einstellungen, Involvement, Risikobereitschaft und kognitiven Dissonanzen erörtert und der Typus der rationalen und der intuitiv-kreativen Führungskraft beschrieben.
Der dritte Abschnitt erörtert die Herausforderung der Komplexität im Entscheidungsprozess unter Bezugnahme auf die Kennzeichen komplexer Systeme und Maßnahmen der Komplexitätsreduktion.
Der vierte Abschnitt ist der Intuition gewidmet, behandelt unterschiedliche Aspekte des Phänomens und arbeitet Stärken und Schwächen der Intuition heraus.
Der fünfte Abschnitt beschäftigt sich mit evolutionspsychologischen Ansätzen der Entscheidungsfindung. Es wird ein plastisches Steuerungsmodell beschrieben und daran anschließend die Wirksamkeit von Heuristiken dargelegt, die in Entscheidungsprozessen häufig Anwendung finden.
Im sechsten Abschnitt werden rationale Prozesse und intuitive Wahrnehmung in einem inkludierten Entscheidungsmodell zusammengeführt. Es wird versucht, in vier Dimensionen rationale, psychologische und soziale Gesichtspunkte sowie Aspekte der Komplexität in einem Modell abzubilden.