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Beschreibung lebensfähiger Systeme in Anlehnung an das Viable System Model  (VSM) von Stafford Beer

 

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Gesamte Inhalte: © Dr. Christoph Paul Stock

 

Die Grenzen des linearen Wachstums

 

Das konstruktivistisch-technomorphe Denken bringt noch eine weitere Besonderheit hervor. Es hat die Tendenz, lineare Zusammenhänge zu forcieren. Es ist ein Denken, das sich von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt bewegt aber den Zielpunkt nicht wieder im Anfangspunkt verortet. Es hat die Angewohnheit, ständig in die gleiche Richtung zu wachsen, ohne dieses lineare Wachstum an einem bestimmten Punkt einzustellen und das Wachstum neu auszurichten.

Ich habe in meiner früheren Tätigkeit im Sozialbereich einen Mann kennengelernt, der über 2 Meter und 30 Zentimeter groß war. Das hatte für ihn eine Zeit lang große Vorteile, weil er als Basketballspieler durch seine Größe andere Spieler leichter ausspielen und den Ball häufig ohne Mühen im Korb platzieren konnte. Was ihn für die Basketballmannschaft hoch interessant machte, bedeutete für ihn selbst aber ein herbes Schicksal. Denn der Grund für seine Größe war ein Tumor im Gehirn, der bedingte, dass sein Längenwachstum nicht aufhörte. Zu der Zeit, als ich ihn kennenlernte, hatte er nicht nur Probleme durch einen normal hohen Türstock durchzugehen, Schuhe mit der passenden Größe zu finden oder ein Bett zur Verfügung zu haben, das lang genug war, damit er seine Beine ausstrecken konnte, sondern er hatte massive gesundheitliche Probleme mit seinen Gelenken und mit der Wirbelsäule. Es zeichnete sich ab, dass die sportlichen Aktivitäten früher oder später nicht mehr möglich sein werden, weil einfach der Stützapparat für das immer weitergehende Längenwachstum nicht ausgelegt war. Die körperlichen Proportionen vorschoben sich langsam in einen Bereich, der pathogene Wirkungen mit sich brachte.

Wir sind fasziniert vom Längenwachstum und der Möglichkeit den Raum zu ergreifen, unsere Leistungsziele immer höher zu schrauben und immer erfolgreicher und schneller zu werden. Wir sind versessen darauf, uns zu verbessern, zu optimieren und zu perfektionieren.

Ganz grundsätzlich ist daran nichts auszusetzen. Wir würden noch in Höhlen wohnen, wenn es in uns diesen Antrieb nicht geben würde. Ein Problem entsteht nur dann, wenn wir dieses Wachstum immer in die gleiche Richtung und damit linear verfolgen. Da wir praktisch immer in einem begrenzten Raum-Zeit-Gefüge leben, ist ein eindimensionales linear angelegtes Wachstum in eine Richtung auf Dauer schlicht nicht möglich. Wir steuern auf Grenzen zu, die ab einem bestimmten Ausdehnungsausmaß unserer Raumergreifung wie eine Mauer wirken und für uns nicht mehr überwindbar sind. Die aktuelle Umweltsituation zeigt uns genau solche Grenzen auf. Frühere Generationen konnten sich auf Grund der Größe und Dimension der Erde nicht vorstellen, dass die Ressourcen der Erde begrenzt sein könnten. Wenn Ressourcen in einer Region ausgingen, wanderte man in eine andere Region weiter. Doch in einer globalen Welt, in der praktisch alle Regionen erobert sind und zum großen Teil genutzt werden, sieht die Situation anders aus. Plötzlich reichern wir die Atmosphäre mit so viel Kohlenstoff, den wir aus der Erde nehmen und verbrennen, an, dass ein Treibhauseffekt entsteht, der wiederum Temperaturen steigen lässt und zerstörerische Wetterphänomene mit sich bringt, die große Umweltkatastrophen verursachen. Jedes weitere Emittieren von Kohlendioxid heizt die Atmosphäre weiter auf und verschärft das Problem. Nicht anders ist es mit den Kunststoffen, die man heute an den abgelegensten Orten der Welt wie am Boden der großen Ozeane und der Antarktis  aber auch schon im Blut von Menschen als Mikroplastik finden kann. Auch der Abbau von Rohstoffen bringt uns immer mehr an jene Grenzen der Umweltbelastung und -zerstörung, die für uns Menschen selbst problematisch sind und vielfach zerstörerische Wirkungen haben. Wenn wir die Ausbeutung und Zerstörung der Natur weiter vorantreiben, werden nicht nur Meere, Luft und Böden verschmutzt und mit unnatürlichen Stoffen kontaminiert sein, sondern auch die Fruchtbarkeit der Böden abnehmen, was unweigerlich zu Hunger und Elend führen wird. Wir verändern durch ein überzogen lineares Wachstum die Kreisläufe der Natur und greifen damit in ein sensibles Gleichgewicht ein, das unser eigenes Leben erhält und stabilisiert. Wir haben nicht gelernt, in Kreisläufen zu denken und unsere Ziele so zu setzen, dass beim Erreichen eines Ziels wir zum Ausgangspunkt zurückkehren und dann eine andere Bewegung einschlagen können. Wir wollen immer gleich weitermachen. Die Biologie des menschlichen Körpers kennt an vielen Stellen Wachstum. Längenwachstum ist nur eine Form von Wachstum, das man im Körper findet. Wenn ein Mensch eine bestimmte Größe erreicht hat, hört das Längenwachstum auf und andere Wachstumsprozesse treten in den Vordergrund. Der Körper differenziert sich in unglaublicher Art und Weise aus und schafft eine unvorstellbare Vielfalt an in sich verschränkten Kreisläufen, die das Funktionieren des Gesamtorganismus erlauben. Der menschliche Körper hat nicht das Bedürfnis, sich ständig weiter auszudehnen und immer größer zu werden. Doch er kennt andere Formen der Raumergreifung wie z.B. die Fortbewegung. Auch diese ist ein Geniestreich der Evolution und hat das Problem ortsfester Organismen gelöst. Wenn ein Baum immer am gleichen Ort steht, muss er sich auf alle Änderungen an diesem Ort anpassen. Er kann nicht sagen, dass es ihm im Winter zu kalt ist und er daher in den Süden fliegt, weil es dort wärmer ist. Er kann auch nicht sagen, dass ihm die Abgase und der Lärm an der Autobahn zu viel sind und er daher eine Lärmschutzwand errichten wird, hinter der er mehr Ruhe findet. Er kann auch nicht feuchtere Regionen aufsuchen, wenn der Boden, in dem er steht, besonders trocken ist. Manche Pflanzen und die meisten Tiere können sich fortbewegen und haben damit die Möglichkeit gewonnen, ungünstige Umweltbedingungen an einem Ort durch günstigere Bedingungen an einem anderen auszutauschen. Doch selbst bei Bäumen gibt es Formen der Bewegung. Der Baum hat Äste und Wurzeln, die er entsprechend seinen Bedürfnissen in Richtung Wasser im Boden oder in Richtung Licht hoch in der Krone strecken kann. Die Bäume haben unterschiedliche Samen und Früchte entwickelt, die wiederum ganz verschiedene Bewegungs- und Verbreitungsformen nutzen, um die Fortpflanzung abseits der Position des Baumes zu gewährleisten. Die Kreativität der Natur ist praktisch unbegrenzt. Sie kennt eine unvorstellbare Vielfalt und eine atemberaubende Ausdifferenzierung der Lebensformen. Die Natur ist geprägt von Gleichgewichtszuständen, rhythmischen Entwicklungen, einer Balance zwischen verschiedenen Wachstumsrichtungen, die ineinandergreifen und sich ergänzen und passiven und aktiven Abstimmungsprozessen, die ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Lebewesen und ihrer Umwelt herstellen. Unsere konstruktivistisch-technomorphe Welt ist zwar auch kreativ und in vielen Fällen wirklich genial, aber es fehlt uns weitegehend das Begreifen für jene großen ineinandergreifenden Prozesse und strukturbildenden Kräfte der Natur, die auf jeder Ebene eine Balance suchen, ineinandergreifende Schichten über Schichten bilden und sich in ständigen Kreisläufen bewegen. Das konstruktivistisch-technomorphe Denken ist primär linear und zielorientiert und bewirkt, dass wir die von Menschen geschaffene Welt zu wenig in Einklang und Balance mit der Natur bringen. Wir müssen erst richtig verstehen, wie natürliche Systeme funktionieren und sich evolutionär entfalten und wie wir unsere eigene von Menschenhand geschaffene Welt mit der Natur in Abstimmung und Einklang bringen können.

© Christoph Paul Stock | Wien | 2025 | All rights reserved!
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