K O N T A K T

Beschreibung lebensfähiger Systeme in Anlehnung an das Viable System Model (VSM) von Stafford Beer
Gesamte Inhalte: © Dr. Christoph Paul Stock
KAPITEL 3: DIE BEDEUTUNG DER AUTONOMIE IN DER OPERATIVEN STEUERUNG
Ich habe im letzte Kapitel erwähnt, dass Kinder eine eigene operative Einheit sind, die für eine Zeit geboren werden, in der die Erwachsene alt oder nicht mehr am Leben sind. Die Aufgaben und Herausforderungen ihrer Generation werden andere sein als jene der Elterngeneration. So gesehen sind Familien nichts anders als Generationenprojekte, die sich flexibel an sich ändernde Umstände und Bedingungen anpassen. Damit eine solche Anpassung und Adaptierung auch möglich sind, kann die Folgegeneration nicht einfach das wiederholen, was die Elterngeneration vorgelebt hat. Eine stupide Repetition hat in sich niemals jene Beweglichkeit, die im evolutiven Anpassungsprozess notwendig ist, damit Lebewesen an die sich laufend ändernden Umweltbedingungen adaptiert sein und bleiben können. Manche Eltern behandeln ihre Kinder so, als wären sie ein leeres und unbeschriebenes Blatt, das nun nach ihren Vorlieben und ihrem Gutdünken beschrieben werden kann. Nichts liegt so fern der Realität wie diese Vorstellung einer Tabula rasa, die ohne Vorprägung ist. Wenn sie das Glück haben, mehrere Kinder großziehen zu können, die vielleicht zusätzlich in einem kurzen Abstand zueinander geboren wurden, erschließt sich diese Tatsache sehr schnell und augenscheinlich. Obwohl die Lebensbedingungen der Kinder sehr ähnlich sind, weil sie die gleichen Eltern, Großeltern und Verwandten haben, den gleichen Kindergarten besuchen und die gleichen Schulen absolvieren, wird rasch klar, dass kein Kind dem anderen gleicht und jedes sich anders und oft grundverschieden entwickelt. Das eine Kind ist eher introvertiert, das andere eher nach außen gerichtet. Das eine Kind ist geschickt, das andere hat zwei linke Hände, das eine ist sportlich, das andere vielleicht eher musisch begabt, das eine ist mathematisch versiert, das andere hat ein besonderes Gespür für Sprachen. Jedes Kind hat Tendenzen, Eigenheiten und Besonderheiten, die als Potenziale in ihnen angelegt sind und nicht durch Erziehung und Lebensbedingungen entstehen. Zweifelsohne spielen die Erziehung und die Umwelt eine große Rolle. Sie bestimmen aber nicht, wer das Kind im Innersten ist. Jedes Kind hat eine innere Autonomie. Aus dieser Autonomie entspringt eine Orientierung, der Kinder grundsätzlich folgen, wenn ihre Eigenständigkeit nicht durch Erziehung, übermäßige Bevormundung und gesellschaftliche Konditionierung gravierend beeinträchtigt, unterdrückt oder gar zerstört wird. Wenn der familiäre und gesellschaftliche Anpassungsdruck sehr hoch ist, können sich viele Kinder ihre Autonomie und innere Selbststeuerung nicht bewahren. Sie können keinen natürlichen Zugang zu ihrer inneren Wahrnehmung entwickeln und werden Opfer einer repressiven vom Verstand geprägten Bevormundung, die sie im schlimmsten Fall zu Erziehungskrüppeln, „Anpasslingen“, Opportunisten und Mitläufern macht. Solche Menschen lassen sich instrumentalisieren, sie können benutzt und gefügig gemacht werden. Mit solchen Menschen kann aber keine lebendige Zukunft aufgebaut und gestaltet werden. Kinder benötigen die Unterstützung und Hilfe der Eltern, sie müssen in die Gesellschaft und Welt hineinwachsen und lernen, sich in ihr zu bewegen. Doch alle Eltern, die eine richtige Pubertät ihrer Kinder erlebt und manchmal auch durchlitten haben, müssen erkennen, dass ihre Kinder nicht nur ihre Kinder, sondern die Kinder des Lebens selbst sind. Kinder müssen sich gegen die Eltern und andere Mutter- und Vaterfiguren sowie deren Vorstellungen und Vorlieben stellen, weil es sonst nicht möglich wird, dass sie ihr eigenes Potenzial ins Leben bringen. Kinder sind die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie sind nicht dazu da, uns zu gefallen, uns zu imitieren und nachzumachen und unsere Wünsche, Hoffnungen und Vorstellungen zu erfüllen. Sie sind dazu da, ihr eigenes, das ihnen vom Leben gegebene Potential zu entwickeln und ihr höchstpersönliches Leben zu leben. Das kann im Einklang oder im Widerstand zu den Eltern und der Elterngeneration erfolgen. Wie sich das gestaltet, liegt an den Beteiligten selbst.
Eine nicht unähnliche Situation ergibt sich in der Gestaltung unserer arbeitsteiligen Beschäftigungswelt. Personaler sind ständig auf der Suche nach Talenten, Potenzialen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Know-how, die im unternehmerischen Kontext passend eingesetzt werden können. Dabei suchen viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz, an dem sie sich entfalten können und ihnen auch ein gewisses Maß an Gestaltungsspielraum zur Verfügung steht. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer benötigen ein bestimmtes Maß an Autonomie. Dabei gibt es sicher Personen, die mehr Anleitung benötigen wie andere. Manche sind eben selbständiger als andere. Das Unternehmen sucht Personal, das in der Lage ist, tatkräftig die Unternehmensaufgaben zu erledigen und die Unternehmensziele zu erreichen. Ich sage gerne, dass der Eintritt in ein Unternehmen praktisch immer mit einer gewissen narzisstischen Kränkung einhergeht. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter muss sich beim Eintritt in ein Unternehmen mit der dort vor Ort vorherrschenden Unternehmenskultur anfreunden, bestimmte Vorgaben, Regeln und Normen einhalten und sich an konkrete Arbeitsabläufe anpassen. Der Start in einem neuen Unternehmen ist eine enorme Adaptierungsleistung der neuen Arbeitskräfte, die man nicht unterschätzen sollte. Menschen nehmen diesen Anpassungsdruck auf sich, um Geld verdienen und sich in das Unternehmen und die Gesellschaft einbringen zu können. Der Job bietet eben auch die Möglichkeit, sich zu entfalten und sich zu entwickeln. Aber mit der Entfaltung und der Entwicklung ist es oft nicht sehr weit her. Unsere Unternehmen sind weitgehend technomorph konstruiert. Sie sind nach wie vor hoch hierarchisch organisiert und haben die Tendenz, weniger das Potenzial von Menschen zu erkennen und zu nutzen, sondern vielmehr Menschen auf bestimmte Positionen zu setzen und sie dann vielfach fernab ihrer tatsächlichen Stärken und Möglichkeiten für bestimmte Tätigkeiten zu benutzen. Personal wird dann als Ressource und nicht als Potenzial begriffen und wenn Menschen Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen einfordern, wird ihnen dies nicht selten verweigert. Wenn der Anpassungsdruck im Verhältnis zur Entfaltungsmöglichkeit zu überbordend wird, geben die einen auf, kündigen innerlich und werden zu einem Rädchen im Getriebe, die anderen brechen aus und verlassen das Unternehmen und hinterlassen nicht selten einen Scherbenhaufen, den wieder andere aufräumen müssen. In einer Wissensgesellschaft ist eine hohe Fluktuation eine sehr kostspielige Angelegenheit, weil nicht nur der vakante Arbeitsplatz von anderen mitgetragen werden muss und Ressourcen notwendig sind, um neue Arbeitskräfte zu finden, sondern weil mit den aus dem Betrieb ausscheidenden Menschen auch das gesamte betriebsspezifische Know-how, das über Jahre angesammelt und aufgebaut wurde, das Unternehmen verlässt. Ein Schaden, der nur schwer auszugleichen ist. Unternehmen müssten also lernen, die Potenziale von Menschen stärker zu nutzen, ihnen mehr Autonomie geben und auf ihr selbständiges Handeln mehr vertrauen. Doch technomorph konstruierte Systeme setzen nicht auf Evolution und Entfaltung, sondern auf Kontrolle und das Maschinieren von Abläufen. In einem solchen Umfeld hat Kreativität weniger Chance und Selbstorganisation wird zu einem Fremdwort.
Doch Autonomie ist eine grundsätzliche Antwort auf ein Problem, mit dem immer mehr Unternehmen und Gesellschaftsstrukturen zu kämpfen haben. Autonomie ist in der Lage, Komplexität in einem viel höheren Ausmaß zu absorbieren und zu bewältigen als maschinenhaft aufgebaute Strukturen, die Autonomie und Selbstorganisation eher skeptisch gegenüberstehen. Der Grund dafür ist einfach. Rein zentral gesteuerte Einheiten haben eine geringe Steuerungsspanne. Planwirtschaft funktioniert nicht effektiv, was der Niedergang des Kommunismus aufgezeigt hat. Das bedeutet nicht, dass der neoliberale Kapitalismus die richtige Antwort wäre. Die Antwort liegt in einer gezielten Nutzung selbstorganisierender Kräfte, deren Entfaltung zugelassen wird, deren unerwünschten Effekte aber gleichzeitig durch Organisation entgegengesteuert wird. Man muss den Kindern vertrauen, dass sie selbst wissen, wohin der Weg geht. Gleichzeitig muss man ihnen aber auch einen Rahmen geben, innerhalb dessen sie sich bewegen können und der ihnen Halt und Sicherheit gibt. Es braucht Regeln, Normen und Grenzen. Nicht anders ist es in Betrieben. Man muss Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Freiraum geben, in ihrem Arbeitsbereich sich selbst zu organisieren und mit anderen im Betrieb und im betrieblichen Umfeld sich abzustimmen und zu koordinieren. Das alles verlangt aber nach Rahmenbedingungen und Grenzen, die festgelegt und abgesteckt werden müssen. Es braucht Regelkreisläufe, die gewährleisten, dass die Autonomie nicht in einer sich verstärkenden Oszillation endet, bei der die einzelnen Einheiten eines Systems sich immer weiter auseinanderentwickeln und schließlich der systemische Zusammenhalt verloren geht. So kann die egoistische Selbstentfaltung von Mitgliedern einer Familie diese genauso zerbrechen lassen wie der überzogene Anpassungsdruck und eine harsche Bevormundungsstruktur. Nicht anders ist es in Unternehmen. Nehmen Abteilungsegoismen überhand, kann es schnell geschehen, dass ein Unternehmen nicht mehr konzertiert jene Ziele verfolgt, für die es eigentlich da ist, sondern das macht, was den Vorlieben und Wünschen einzelner dominanter Abteilungen entspricht. Diese sehen nur ihre kleine Welt, ohne den Blick auf die gesamte Organisation richten zu können. Sie sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Umgekehrt kann eine überzogene Kontrolle und Entmenschlichung der Arbeit rasch dazu führen, dass Menschen serienweise innerlich Kündigen und ihr eigentliches Lebensinteresse aus dem Unternehmen hinaus in den Privatbereich oder andere Bereiche des persönlichen Engagements lenken. Mit Menschen, die in ihrer Arbeit nur mehr eine Einkommensmöglichkeit aber keine Chance zur persönlichen Entfaltung sehen, die Arbeit also zu einem Brotjob verkommt, lässt sich auf Dauer kein erfolgreiches Unternehmen führen.