
K O N T A K T
Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
PROLOG 3: SPIRITUELL REIFEN UND ERWACHSEN WERDEN
In der kirchlich-katholischen Tradition waren und sind es die Priester, die den Menschen als Mittler zwischen dieser Welt und dem geistigen Jenseits zur Seite standen und stehen. Die Autorität für religiöse und spirituelle Fragen lag und liegt nach kirchlicher Ansicht bei der heiligen Mutter Kirche. Der Papst als Nachfolger des Apostel Petrus hat als Oberhaupt und Vertreter Christi auf Erden jene Verbindung zum Höchsten, nämlich dem Heiligen Geist, aus dem sich diese Autorität speist. Das, was richtig und falsch ist, wird in Glaubenssätzen festgehalten und den Menschen als letzte Wahrheit vermittelt. Die kirchliche Lehre, festgehalten in einem Katechismus, wird durch die Glaubenskongregation geschützt. Wer widersprechende Ansichten vertritt, wird einer Befragung, der sogenannten „Inquisition“ ausgesetzt, die das Ziel hat, den Menschen wieder auf den rechten Weg zu bringen. Es bedeutet, dass der Mensch die Ansichten der Kirche als die einzig wahren Ansichten annimmt. Wer die Ansichten der Kirche grob verletzt, läuft Gefahr, aus der Kirche ausgeschlossen zu werden und die Gemeinschaft der Gläubigen als exkommunizierte Person verlassen zu müssen. In früheren Tagen wurde so manche Person wegen Ketzerei auch zum Tod verurteilt und hingerichtet. In einer Zeit, in der es eine hohe Anzahl an Kirchenaustritten gibt, ist die Kirche weniger rigoros in der Durchsetzung ihrer Autorität. Ihre Geschichte spricht aber eine sehr deutliche Sprache. Bei anderen Kirchen und Glaubensgemeinschaften stellen sich die Dinge leicht abweichend dar. In groben Zügen sind sie aber ähnlich strukturiert.
Im Kirchenverständnis ist es eine zentrale Annahme, dass man eine bestimmte Glaubensmeinung einnehmen und eine vorgegebene Glaubenshaltung annehmen soll. Zweifelsohne gibt es Menschen, die religiöse Erfahrungen machen, durch die solche Glaubensinhalte für diese Person zur Gewissheit werden. Genauso machen Menschen Erfahrungen, die für sie eben gerade diese Glaubensinhalte fraglich werden lassen. Dann wird oft davon gesprochen, dass dem Menschen der rechte Glaube fehle. Doch der Wert des Zweifels sollte nicht unterschätzt werden. Viele große Vertreter der Kirche und der Orden kamen mit den dogmatischen Ansichten der Amtskirche in Konflikt. Sie entsprachen nicht ihren eigenen religiösen, spirituellen oder mystischen Erfahrungen. Ich erinnere hier nur kurz an den Streit innerhalb des Franziskanerordens und der Amtskirche im Zusammenhang mit dem Armutsideal, das für Franz von Assisi von so zentraler Bedeutung war[i], oder an die Angriffe der Inquisition gegen Meister Eckhart, einem katholischen Lehrer und Mystiker des Mittelalters, der seine Hörerinnen und Hörer sowie Leserschaft dazu anhielt, eigene Selbst- und Gotteserfahrungen zu machen, um die von ihm beschriebenen spirituellen Einsichten nachvollziehen zu können.[ii] Die Kirche selbst fand in sehr grundlegenden Fragen keine Einigkeit, was z.B. zur Spaltung in eine Ost- und eine Westkirche führte oder die Reformation und Gegenreformation zur Folge hatte. Martin Luther wollte, dass die Kirche volksnäher und das Wort Gottes für alle zugänglich wird. Diesem Gedanken folgend, übersetzte er die Heilige Schrift ins Deutsche, sodass ihre Inhalte für alle Menschen zugänglich wurden. Auch Luther hatte die Idee, dass der Mensch direkt in Kontakt mit dem Göttlichen treten sollte und dafür nicht unbedingt die Vermittlung eines Priesters benötigt. Luthers Wirken zeigte so tiefgreifende Problemlagen in der katholischen Kirche auf, dass es anstatt zu einer Reform innerhalb der katholischen Kirche zu einem Schisma, einer Kirchenspaltung kam.[iii]
Wir sind in der vom Christentum geprägten Welt mit ihrer Verfolgung Andersgläubiger historisch stark belastet. Es gab Zeiten, da hatte man zu glauben, was der Landesfürst glaubte und wer das Falsche glaubte, wurde schnell als Häretikerin bzw. Häretiker ausgegrenzt, vertrieben und in nicht seltenen Fällen getötet. Diese Zeiten sind gar nicht so lange her. Meinungsfreiheit wird uns heute verfassungsrechtlich garantiert. Gleiches gilt für die Freiheit der Religionsausübung. Doch Glaubensfreiheit scheint uns immer noch suspekt zu sein. Traditionen des Ostens sind hier manchmal weniger vorbelastet. Gerade Indien hat eine große Tradition der Glaubensfreiheit. Vielleicht ist Indien auch deshalb jenes Land, in dem sich die Spiritualität mit einem gewaltigen Tiefgang entwickeln konnte. Wer Angst haben muss vor Ablehnung, Ausgrenzung, Vertreibung und Verfolgung, wenn er etwas glaubt, was nicht dem Mainstream entspricht, wird vorsichtig sein, was er hinsichtlich seines Glaubens sagt und weitergibt. Eine solche Zurückhaltung fördert keinesfalls die spirituelle Entwicklung von Menschen. Sie bewirkt, dass wir uns spirituell nicht ausreichend entfalten und Spiritualität in unserem Leben nicht jene Bedeutung und Rolle einnehmen kann, die ihr zukommen müsste. Wir bleiben spirituell unreif und haben immense Schwierigkeiten, uns mit dem Weltganzen zu verbinden.
Wer vorgegebene Glaubenskonzepte und Glaubensvorstellungen annimmt, ohne sie mit eigenen Glaubenserfahrungen zu überprüfen, verabsäumt das zu tun, was heute eigentlich Standard in der Erkenntnisgewinnung ist. Was uns davon abhält, ist wohl die Tatsache, dass Glaubenserfahrungen nicht in dem Sinn objektiviert werden können, dass sie durch eine andere Person in gleicher Weise überprüfbar sind. Wir bleiben in unserer subjektiven Erfahrung allein. Was in wissenschaftlicher Hinsicht mit Bezug zur Erforschung der Realität millionenfach gelebter Standard ist, fehlt in spiritueller Hinsicht mit Bezug zur Wirkkraft des Geistigen in weiten Bereichen. Die Wissenschaftlerin bzw. der Wissenschaftler muss sich der Kritik der eigenen Theorien aussetzen. Die spirituell suchende Person muss sich vom Drang, der Herde zu folgen, befreien und sich allein auf die Suche machen. Es ist immer wieder der Fall, dass weitere Forschungen die gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse bestätigen und damit weiter objektivieren. Gleichwohl ist es möglich, dass eine spirituelle Erfahrung so subjektiv und innerlich sie auch sein mag, von anderen erfasst und nachvollzogen werden kann. Wir können die subjektive Erfahrung einer anderen Person nicht erspüren oder nachempfinden. Es ist Menschen aber möglich, den gleichen Geist wahrzunehmen und dabei zu erkennen, dass ihre jeweils subjektive Erfahrung den gleichen Urgrund teilt und dem gleichen Lebensurbild entspringt.
Auch wenn die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften besonders in modernen westlichen Gesellschaften schwächer werden, weicht die spirituelle Wirkkraft nicht aus unserem Leben. Leider nimmt sie oft Formen an, die durchaus gefährlich und fragwürdig sind. Menschen sind auf der Suche. Wenn sie von den traditionellen Religionen nicht mehr angesprochen werden, wenden sie sich dem esoterischen Markt zu, der ein riesiges Sammelsurium spirituell zersplitterter Elemente darstellt. Aus allen möglichen religiösen und spirituellen Traditionen und Richtungen werden Dinge zusammengetragen und in einem bunten Bauchladen zur Verfügung gestellt. Hier fehlt fast immer ein klares Fundament, eine nachvollziehbare Struktur und nicht selten ein verantwortungsvolles Vorgehen. In diesem Vakuum wächst auch das Interesse für das Übernatürliche und Übersinnliche. Dazu gehören Praktiken und Phänomene wie die Kontaktaufnahme mit Verstorbenen, das Thema Wunderheilung, die Telepathie und Gedankenübertragung, übersinnliche Wahrnehmung, das Hellsehen und Wahrsagen, Fragen zu Wiedergeburt und Seelenwanderung, Telekinese, Astrologie sowie Kontaktaufnahme mit außerirdischen Wesen etc. Auch wenn all diese Bereiche interessant und ihre Erforschung und Untersuchung durchaus wichtig und legitim sind, lenken sie uns meines Erachtens von der eigentlichen spirituellen Aufgabe ab. Die Suche nach dem Urgrund des Lebens wird dann durch eine Beschäftigung mit paranormalen und parapsychologischen Phänomenen verdrängt oder sogar ersetzt.
Wenn sich der Mensch von den traditionellen Kirchen und Glaubensgemeinschafen abwendet, hat dies meiner Meinung nach einen guten Grund. So wie gesunde junge Mensch irgendwann beginnen, gegen das eigene Elternhaus zu rebellieren und vieles von dem, was ihre Eltern tun und an Werten vertreten, ablehnen und zurückweisen, begeben sich auch spirituell suchende Menschen aus dem Schoß der Mutter Kirche und anderer religiöser Gemeinschaften heraus, um spirituell erwachsen werden zu können. Wer das eigene Elternhaus nicht hinterfragt, kann seinen eigenen Lebensweg nicht finden. Kinder sind für eine andere Welt geboren als ihre Eltern. Sie werden in ihrem Leben mit anderen Herausforderungen und Problemlagen konfrontiert werden. Sie haben andere Aufgaben wie ihre Eltern. Daher macht es keinen Sinn, die Eltern zu kopieren und ihre Lebensansichten dogmatisch zu übernehmen. Gleiches gilt für den spirituell suchenden Menschen. So wie Eltern kleinen Kindern sagen und zeigen müssen, wie die Welt ist und wie sie funktioniert und durch ihr Vorbild helfen, dass Kinder sich in der Welt zurechtfinden können, geben uns die traditionellen Kirchen und Glaubensgemeinschaften auch jenen Halt und jenes Rüstzeug, das wir benötigen, um in der spirituellen Welt lebensfähig zu werden. Doch ab einem bestimmten Zeitpunkt wird aus der Unterstützung, notwendigen Lenkung und Erziehung der Eltern eine Bevormundung und aus der Vermittlung religiöser und spiritueller Inhalte durch die eingesessenen religiösen Gemeinschaften eine dogmatische Indoktrination. Sobald aus der Erziehung Tyrannei und Diktatur und aus der spirituellen Unterstützung und Lenkung die Verfolgung Andersgläubiger und Zwangsbekehrungen werden, ist es Zeit, das Elternhaus und den schützenden Hort der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Frage zu stellen. Für die einen bedeutet es, den Kontakt abzubrechen und endgültig wegzugehen. Für andere bedeutet es, die Bande zu lockern, etwas auf Abstand zu gehen und Freiraum für sich selbst zu schaffen. Manche brechen mit ihrem Elternhaus, andere bauen eine neue und geänderte Beziehungsstruktur auf. Wie auch immer diese wachstumsbedingte Pubertät aussehen mag, sie ist notwendig für unseren Reifungsprozess.
Natürlich verirren sich Menschen, wenn sie den geschützten Raum verlassen. Manche der Jugendlichen rutschten in die Kriminalität oder ins Drogenmilieu ab. Manche werden zu einem psychologischen Problemfall. So verirren sich spirituell suchende Menschen auch in Sekten, fragwürdigen Gemeinschaften, obskuren Praktiken und fanatischen Lebenserklärungsmodellen. Man kann die jungen Menschen und spirituellen Sucherinnen bzw. Sucher davor nicht bewahren, schwierige Erfahrungen zu machen und einen Weg einzuschlagen, der sie verletzen kann oder auch zerstörerische Wirkungen hat. Nichts lässt Menschen so reifen, wie eine schmerzhafte Erfahrung. Doch wenn Menschen nicht hinausgehen und ihren eigenen Weg suchen, werden sie auf Dauer in einer Art innerer Rebellion gefangen bleiben. Ihre Pubertät hält an und hat auf lange Sicht gesehen destruktive Wirkungen. Wenn es gelingt, durch diese Pubertät durchzugehen und erwachsen zu werden, passiert oft etwas Verwunderliches. Das Objekt der früheren Rebellion wird plötzlich mit anderen Augen gesehen. Man erkennt die Bedeutung und die Tiefgründigkeit jener Werte und Lehren, die einem von den traditionellen Systemen vermittelt wurden. Man verzeiht den Eltern, wenn man erkennt, wie schwierig es ist, Elternschaft zu leben, man verzeiht den religiösen Führungsfiguren, wenn man versteht, wie herausfordernd es ist, ganz eigenverantwortlich ein vom Geist inspiriertes Leben zu führen.
Wenn wir auf Religions- und Ordensgründer blicken, erkennen wir, dass sie sich fast allesamt aufgemacht haben und den traditionellen Boden ihrer Herkunft verlassen mussten, um spirituell wachsen und sich entfalten zu können. Jesus stellte sich außerhalb der jüdisch-religiösen Tradition, als er vor dem Tempel in Jerusalem das Geschäft mit dem Glauben anprangerte und dafür eingesperrt, gefoltert und schließlich am Kreuz hingerichtet wurde. Sein Bruch mit dem bestehenden System war so tiefgreifend, dass es ihm das Leben kostete und sein Wirken so gewaltig, dass eine der größten und wichtigsten Religionen weltweit entstand. Was hier in Jerusalem ganz am Rand des großen römischen Reiches geschah und welche Wirkungen dieses kleine kaum wahrnehmbare Geschehen vor 2000 Jahren in der Welt entfaltet hat, ist ein Wunder.
Buddha war Prinz und sollte König werden. Doch er suchte nach einem anderen Königreich und verzichtete auf all seine Rechte, um als Bettelmönch die eine innere Wahrheit zu suchen, die ihn zur Erleuchtung führte.[iv] Sein Vorbild und die Wirkkraft seiner Lehre sind so fundamental, dass große Teile der Welt buddhistisch geworden sind.
Laotse lebte ein sehr einfaches und bescheidenes Leben. Er hat sich von der traditionellen Lebensweise seiner Umgebung losgelöst und abgeschieden. Er war ein verborgener Weiser. Ein Grenzkommandant soll ihn gebeten haben, um seinetwillen seine Einsichten niederzuschreiben. Er kam dieser Bitte nach und gab seine Weisheit an andere Menschen weiter.[v] Diese Einblicke eines so einfachen Mannes in die tiefsten Geheimnisse des Lebens sind im Tao Tê King niedergeschrieben und haben heute nicht nur im Osten, sondern in der gesamten Welt herausragende Bedeutung.
Die Verfolgungen der urchristlichen Gemeinschaften im römischen Reich waren brutal und menschenverachtend. Doch die Menschen hielten an ihrem Glauben fest, versteckten sich in Höhlen und Katakomben und übten dort verbotenerweise ihren Glauben aus. Nicht zuletzt die Kraft ihres Widerstandes und ihr unbeugsames Beharren auf jenen Werten, die ihnen zutiefst wichtig waren und ihr Leben erleuchteten, führten dazu, dass unter Kaiser Konstantin, der selbst den christlichen Glauben annahm, das Christentum an Einfluss gewann und schließlich zur Staatsreligion im römischen Reich wurde. Nur wenige Dinge haben die westliche Welt so bestimmt wie die christlichen Lehren.
Franz von Assisi musste das Kriegshandwerk aufgeben und Schimpf und Schande seines Vaters über sich ergehen lassen, als er den unverhohlenen Materialismus seines Elternhauses anprangerte und sich in eine Einsiedelei auf der Suche nach Gott in einer tiefen Verbundenheit mit der Natur und den Tieren zurückzog. Sein Vorbild und Wirken sind von ungebrochener Bedeutung. Unzählige nach ihm benannte Kirchen, Klöster und Hilfswerke sowie der Name des aktuellen Papstes sind Zeugnis dafür.
Martin Luther prangerte eine große Anzahl von Fehlentwicklungen in der Kirche an und schlug seine 95 Thesen an die Kirchentür in Wittenberg. Die Kraft seiner Überlegungen und Kritik am traditionellen System waren so groß, dass er um sein Leben fürchten musste. Seine Gedanken und Ideen waren so bedeutend, dass es zu einer Kirchenspaltung kam, die bis heute nicht überwunden werden konnte.
Wenn wir den Mut finden, spirituell unseren eigenen Weg zu suchen und dabei zu den traditionellen Systemen auf Abstand gehen, dann gibt es für ein solches Vorgehen wahrlich große Vorbilder. Wenn wir die Führung nur in anderen Autoritäten suchen aber nicht in uns selbst, bleiben wir Kinder, die nicht erwachsen werden. Wenn wir die Führung in uns selbst finden, die aus dem Weltganzen kommt, dann sind wir erwachsen gewordene Kinder des Lebens selbst. Diese Führung zu finden, ist eine gro ße Herausforderung und ein lebenslanger Suchprozess.
Sich selbst auf die Suche zu machen, bedeutet nicht, die Weisheit jener gering zu schätzen, die so vielen Menschen den spirituellen Weg gewiesen haben. Ich bin absolut davon überzeugt, dass in den Weltreligionen mit ihrer so weiten Verbreitung unendlich viel tiefgründige Weisheit enthalten ist. Diese Weisheit hat ein immenses Potenzial uns zu inspirieren und diese Weisheit hat enormen Anteil an heilenden Kräften, die in dieser Welt wirken. Die Gründungsfiguren dieser Religionen waren von so außerordentlicher spiritueller Kraft, weil in ihnen etwas wirkte, was weit über sie selbst hinausging. Sie haben diese innere Wirkkraft in sich so tiefgreifend erspürt, dass sie für uns Vorbilder geworden sind. Sie waren in der Lage, durch ihr Leben, Wirken, Lieben und Lehren ein lebendiges Beispiel für diese innere Wirkkraft zu sein. Uns dieser inneren Wirkkraft anzunähern, ist der Sinn der spirituellen Suche.
Aus meiner Sicht muss jede Epoche einen Weg finden, die tiefen inneren spirituellen Wahrheiten im Lichte ihrer eigenen Zeit zu ergründen. Vor ca. 10.000 Jahren lebte in der Region des heutigen Indiens und der im Norden an Indien angrenzenden Länder bis hin zum Himalaya ein Mann, den man als Adiyogi kennt. Er war der erste Yogi und Begründer einer uralten unkonventionellen Tradition.[vi] An sein Wirken schloss sich eine lange Kette an Yogis an, die zu ihren Lebzeiten immer wieder versuchten, die spirituellen Weisheiten in einer Form zu vermitteln, die es den jeweils zeitgenössischen Menschen ermöglichte, Zugang zu diesen alten Weisheiten zu finden. Es gibt keine Kirche oder Glaubensgemeinschaft der Yogis. Es gibt eine Weitergabe von Einsichten durch mündliche Überlieferung und Niederschriften und durch die Vermittlung von Praktiken und Techniken. Yogis sind Suchende, die sich an kein traditionelles System mit vorgefertigten und unveränderlichen Strukturen halten und binden. Sie suchen die alte Weisheit in jener Zeit und jenem Lebensumfeld, in dem sie leben. Daher wandeln sich ihre Praktiken, Übungen und Lehrmethoden immer wieder. Sie sind in einem evolutiven Prozess.
Ich glaube, dass auch in unserer westlichen Welt die Zeit reif ist für ein solches Vorgehen. Wir haben keine Tradition, die sich spirituell so frei entfaltet hat wie die Tradition der Yogis. Doch wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Ein analoger Weg zu den Yogis ist auch für uns gangbar. So wie sich die alte Seelsorge in der Psychologie über den wissenschaftlichen Weg emanzipiert und weiterentwickelt hat und heute nicht mehr in der Tradition der Kirche und der Vereinnahmung durch die Medizin steht, so gibt es auch Entwicklungen in der westlichen Welt, die das Spirituelle in einen von religiösen Traditionen weniger belasteten und freieren Raum führen.
Es wird vielleicht überraschen, aber die großen Vordenker der Psychologie und Psychiatrie haben meines Erachtens nicht nur für die Seelsorge, sondern auch für die spirituelle Suche hier große Vorarbeit geleistet. In der bahnbrechenden Erforschung des Unbewussten durch Sigmund Freud, die noch tiefer gehende Untersuchung des kollektiv Unbewussten mit Bezug zu archetypischen Strukturen bei C.G. Jung, die tiefgründige Beleuchtung des Willens und seiner Wirkung in vielen Bereichen des Menschlichen bei Alfred Adler und die Fokussierung auf den Logos der Sinnsuche bei Viktor Frankl wurde nicht nur die Psyche berührt, sondern auch der Geist selbst. Die Psychologie tut sich schwer mit der Spiritualität. C.G. Jung meinte einmal, dass er viele seiner Patientinnen und Patienten eigentlich gerne zu einem Priester geschickt hätte, weil sie ihn mit spirituellen Fragen konsultierten. Das Problem war nur, dass diese Menschen von den Priestern zu ihm gekommen waren. Die Psychologie möchte als Wissenschaft anerkannt sein. Sie hat um diese Anerkennung und Emanzipation von der Medizin hart gekämpft.[vii] Es ist verständlich, dass man sich diesen Platz in der Welt nicht mehr streitig machen lassen will. Sigmund Freud hat sich sehr schwer getan mit den spirituellen Ansichten, die bei C.G. Jung z.B. im Zusammenhang mit der von ihm beschriebenen Synchronizität[viii] auftauchten. Freud, der so hart für eine neue Psychiatrie und wissenschaftliche Anerkennung der Psychologie gekämpft hatte, fürchtete, wegen solcher Theorien nicht mehr als wissenschaftlich anerkannt zu gelten. Zusätzlich will sich die Psychologie klar von der Theologie abgrenzen. Das Problem ist tatsächlich eines der Wissenschaft. Die Wissenschaft zerlegt und zergliedert die Welt in Teilbereiche, um diese weiter zergliedernd untersuchen zu können. Das ist die Stärke der Wissenschaft und das ist ihr Metier. Das Metier der Spiritualität ist die Einheit aller Dinge. Das Wort „Yoga“ bedeutet genau diese Einheit. Die klassischen Methoden der Wissenschaft sind hier ungeeignet, da es nicht um ein Zergliedern, sondern um ein ganzheitliches Erfassen geht und weil das Vorgehen weder intellektuell noch kontemplativ, sondern meditativ ist. Die Existenz lässt sich zwar mit dem Verstand untersuchen, sie lässt sich aber nicht mit dem Verstand erfassen. Man kann die Existenz nicht wissen, man kann sie nur erfahren und erleben. Das englische Wort „Knowledge“ bringt das zum Ausdruck, was die Wissenschaft generiert. Das englische Wort „Knowing“ bringt zum Ausdruck, was die unmittelbare Erfahrung der Existenz bewirkt. Das eine liefert ein hartes Wissen, das man mittels der erforschten Fakten schriftlich festhalten und weitergeben kann. Das andere liefert ein achtsames Gewahr-Werden für etwas, das man niemals festhalten und bestimmen kann, weil es ständig im Fluss ist und sich permanent wandelt. Das eine kann man besitzen, mit dem anderen kann man sich nur mitbewegen. Man steigt in den Fluss an jener Stelle, an der man zuletzt hineingestiegen ist, und vermeint im gleichen Wasser zu stehen. Doch das alte Wasser ist schon lange verflossen. Man steht in jedem Augenblick in einem neuen Wellenschwall an sich bewegenden Wassermolekülen, ohne sich dessen ausreichend bewusst zu sein. Mentale Strukturen können ein solches Phänomen nicht ausreichend klar erfassen. Nur Bewusstsein kann uns ein solches Phänomen erschließen und das Bewusstsein selbst ist ein Mysterium des Lebens. Aus der Sicht unseres rationalen Verstandes hat die Spiritualität immer etwas Verrücktes an sich. Doch aus einer Sicht der bewussten Wahrnehmung der Dinge heraus, erscheint so mancher Vernunftschluss illusorisch und in nicht wenigen Fällen lebensfeindlich. Immanuel Kant hat dies in seiner Kritik der reinen Vernunft unübertrefflich aufgezeigt. Man kann sich in den Vernunftschlüssen des Verstandes verlieren. Daher kann man die Spiritualität nicht zu einem Gegenstand der Wissenschaft machen. Man kann nur die Wissenschaft zu einem Gegenstand der Spiritualität machen. Wenn die Wissenschaft nicht den Geist erforscht, sondern ihm dient, hat sie ihren richtigen Platz gefunden. Wir tun uns damit schwer, dass etwas über unseren Verstand hinausgehen könnte. Doch am Punkt dieser Einsicht beginnt meines Erachtens die Suche nach dem, was man Spiritualität nennt. Hier berührt man die schöpferische Kraft aller Dinge.
Die Psychologie erforscht unsere Wahrnehmungen und Empfindungen, setzt sich mit den Bedürfnissen und Motivationen, der Volition und unserem konkreten Verhaltens- und Anpassungsmustern auseinander. Sie erforscht unsere mentalen Verarbeitungsprozesse und dringt ein in verdrängte und ins Unbewusste gefallene Erlebnisse und Problemlagen. Im Fokus stehen unsere Sinne und deren Verarbeitung, der aus ihnen gewonnenen Eindrücke. Aus meiner Sicht arbeitet sich die Psychologie von unten nach oben. Sie nimmt das zum Forschungsgegenstand, was sich in der Welt der Sinne und sinnlichen Verarbeitung formt, entwickelt und zum Ausdruck bringt. Sie blickt auf unsere mentalen Prägungen und überlegt, wie man diese Prägungen verändern und eventuell umgestalten kann. In diesem Bemühen ist die Psychologie in Bereiche und Regionen vorgedrungen, die über die sinnliche Dimension dieser Welt hinausgehen. Wenn ich einen Baum als Symbol nehme, hat sie den Baum von seinen Wurzeln über den Stamm bis hinauf zu den Ästen im Blätterdach und die Blätter selbst erforscht. An diesem Punkt berührt sie etwas, was nicht aus der Erde gewachsen und sich in die Höhe gerankt hat. Sie berührt die Strahlung, die von außen kommt. Es ist die Sonne, die das Blätterdach berührt und aus deren Energie die Pflanzen im chemischen Prozess der Photosynthese für sie nutzbare Energie gewinnen. Die Sonne ist ein Symbol für das, was von oben nach unten wirkt, im Gegensatz zu den Kräften, die den Baum im Wachstum von unten nach oben unterstützen. An diesem Punkt überschreitet die Psychologie ihren angestammten Bereich und berührt die Dimensionen des Spirituellen und Kosmischen. Dieser Bereich ist meines Erachtens nicht mehr der Bereich der Psychologie. Es ist der Bereich der Wirkkraft des Geistigen. Spiritualität wirkt manchmal abgehoben und wenig greifbar. Doch manche Konzepte aus der Psychologie helfen, den Berührungspunkt zwischen dem „Bottom Up“ (von den Wurzeln nach oben) und dem „Top Down“ (von der Sonne nach unten) besser zu verstehen. Sie helfen uns, unsere Doppelnatur in dieser Welt als mit der Erde verbundene Wesen mit einer enormen geistigen Dimension zu begreifen und zu integrieren. In diesem Sinn bedeutet spirituell zu sein, nicht ein Übermensch zu werden, sondern wahrhaft menschlich zu sein. Eine Menschlichkeit, die fest mit dem Boden der Erde verbunden ist und gleichzeitig ihren Geist ausstreckt in die tiefsten Dimensionen des Kosmos. Daher ist es kein Wunder, dass geistliche Professionen über so lange Zeit Seelsorge und geistliche Begleitung als ihre gemeinsame Aufgabe begriffen haben. Für mich sind diese beiden Dimensionen ebenfalls nicht trennbar. Meines Erachtens lässt uns eine Spiritualität ohne Psychologie abheben und in schwer fassbare geistige Dimensionen davonschweben. Umgekehrt lässt uns eine Psychologie ohne Spiritualität in den zentralen Fragen des Lebens, wenn es um den Sinn des Lebens, die höhere Führung durch das Leben, die Fragen, was vor der Geburt und nach dem Tod ist und was das Göttliche in unserem Leben ausmacht, ziemlich schnell im Stich. In diesem Schnittbereich zwischen dem Psychischen und Spirituellen ist die Psychologie weit nicht so wissenschaftlich und weit nicht so rational wie sie gerne sein möchte. In diesem Schnittbereich ist aber auch die Spiritualität weit nicht so ungreifbar, irrational und wenig fassbar, wie dies vielfach behauptet wird. In diesem Schnittbereich berühren sich Himmel und Erde. Dieser Schnittbereich ist es, der mich interessiert und dieser Schnittbereich ist aus meiner Sicht eine enorme Bereicherung für beide Dimensionen und unser menschliches Dasein. Hier generieren wir eine Energie und Kraft, die aus den Wurzeln allein niemals kommen kann.
[i] Siehe in: RUSSELL, B.: Philosophie des Abendlandes, 2. Auflage, Europa Verlag AG, Zürich, 2005, S. 459 ff
[ii] RUFFING, R.: Einführung in die Geschichte der Philosophie, Wilhelm Fink Verlag, 2004, S. 109 f
[iii] RUSSELL, B.: Philosophie des Abendlandes, 2. Auflage, Europa Verlag AG, Zürich, 2005, S. 531 ff
[iv] Thich Nhat Hanh, ein vietnamesischer buddhistischer Mönch, Schriftsteller und Lyriker, hat in seinem Werk „Wie Siddhartha zum Buddha wurde“, die Lebensgeschichte des großen Religionsgründers lebensnah eingefangen. Siehe in: THICH NHAT HANH: Wie Siddhartha zum Buddha wurde, Eine Einführung in den Buddhismus, Theseus Verlag, Zürich, München, Berlin, 1992
[v] LAO-TSE, Tao Tê King, Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Victor von Strauss, Mannesse Verlag, Zürich, 1959, S.11f
[vi] Sadhguru (Jagadish Vasudev), ein südindischer Yogi, Mystiker und Visionär, hat das Leben Adiyogis wunderbar mit tiefgründigen Einsichten in nachfolgendem Werk beschrieben:
SADHGURU / SUBRAMANIAM, A.: Adiyogi, The Source of Yoga, Harper Collins Publisher India, Uttar Pradesh, 2019
[vii] MYERS, D.G.: Psychologie, 2. Auflage, Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 2008, S. 5 ff
[viii] Bei der Synchronizität handelt es sich um eine Entsprechung zwischen einem innerpsychischen und einem äußeren, physischen Ereignis, die in einem zeitlichen Zusammenhang auftauchen und sich gegenseitig spiegeln. Das Konzept wurde vom Psychiater und Psychoanalytiker Carl Gustav Jung entwickelt. Jung ging davon aus, dass die zeitlich korrelierenden Ereignisse zwar nicht über eine Kausalbeziehung verknüpft sind, dennoch aber als miteinander verbunden wahrgenommen und in Bezug zueinander verstanden und gedeutet werden. Vgl. dazu in:
STEIN, M.: C.G. Jungs Landkarte der Seele, 4. Auflage, Patmos Verlag, Ulm, 2011, S. 232 ff