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Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

 

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© Dr. Christoph Paul Stock

 

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Die Illusion einer stets fairen und gerechten Welt

 

Die Welt ist ein gefährlicher Ort, an dem wir immer wieder verletzt, unfair und ungerecht behandelt werden. Oft fehlt es an Verständnis, Mitgefühl und Aufmerksamkeit für unsere Anliegen und wir sammeln diese Verletzungen und Verwundungen an, um zu beweisen, dass das Leben unfair, ungerecht und gegen uns ist. Liebe schlägt um in Hass, Zuneigung verwandelt sich in Ablehnung, Vertrauen wird zu Misstrauen, Sympathie wird zur Antipathie, Verstehen zu Unverständnis und aus einem Miteinander wird ein Gegeneinander. Schnell haben wir das Gefühl, dass die Menschen von Ärger und Hass geprägt sind und Liebe und Mitgefühl die Ausnahmen in dieser Welt sind.

Doch es ist nicht wahrscheinlich, dass Ärger und Hass die primär bestimmenden Faktoren sind. Würden Ärger und Hass permanent herrschen und die Oberhand haben, wäre es eher wahrscheinlich, dass sich die Menschen schon gegenseitig ausgerottet hätten. Die Möglichkeiten dafür haben wir. Tatsächlich entspringen Liebe und Mitgefühl aus der Tatsache einer inneren Verbundenheit und Abhängigkeit, die wir Menschen und alle Lebewesen teilen. Auch wenn wir uns in besonders günstigen Zeiten unabhängig und stark fühlen, sind wir doch immer auf die Unterstützung anderer angewiesen, wenn wir krank, beeinträchtigt, sehr jung oder sehr alt sind. Daher sind Liebe und Mitgefühl permanent wirkende Faktoren. Sie entspringen dem tieferen Wesen der Existenz. Sie wirken eher im Stillen, in kleinen Gesten und Handlungen, sind nicht aufdringlich und oft unscheinbar. Ärger und Hass gehören auch zur Existenz. Sie sind laut, aufdringlich und durchschlagend. Daher können wir sie so gut wahrnehmen. Die Medien sind voll davon. Diese Energien entspringen vielfach unserem Bedürfnis, uns selbst zu schützen und abzugrenzen, um in der Welt für uns jenen Freiraum zu schaffen, den wir benötigen, um leben zu können. Die Gefahr ist, dass die negativen Emotionen Überhand nehmen oder jede Verhältnismäßigkeit verlieren, weil wir die wahre Bedrohung falsch einschätzen, zu rasch urteilen oder aus Vorurteilen heraus handeln oder negative Emotionen zu einer habituellen Reaktion werden lassen und so die Kräfte aus der Balance geraten.

 

Die Energie der aktiven Liebe weist uns darauf hin, dass wir immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe stehen.

 

Wenn Güter und Handlungsmöglichkeiten für bestimmte Menschen oder eine Gruppe von Menschen in einem Ausmaß zur Verfügung stehen, dass sie gar nicht mehr genutzt werden können und sie nur noch gehortet und zurückgehalten werden, stehen diese Güter und Möglichkeiten anderen nicht zur Verfügung. In einem gewissen Sinne sind sie anderen weggenommen. Wenn dies sehr maßlos ist, sind sie anderen nicht nur weggenommen, sondern gestohlen bzw. vorenthalten.[i] Es geht um die Frage, ob andere die Güter und Möglichkeiten weit dringender brauchen als man selbst. Wenn man auf Güter und Möglichkeiten verzichtet, um sie anderen zu geben, stellt man die Nächstenliebe über die Eigenliebe. Sonst sieht man nur den eigenen Vorteil und übersieht die anderen.

 

Selbst Freigebigkeit kann zu einem Problem werden, wenn das Geben mit einer falschen Absicht erfolgt. Manchmal geben Menschen anderen nur deshalb, um sie von sich abhängig zu machen. Sie hängen an das Gegebene eine Art moralische Verpflichtung. In einem solchen Geben spiegelt sich eher Eigenliebe als Nächstenliebe wider, da man die Seele des anderen binden und verpflichten möchte. Ein solches Geben sperrt ein und gibt oft nicht das, was gebraucht wird und oft nicht dann, wenn es gebraucht wird.

 

Manche Menschen geben von sich so viel, dass sie sich für andere aufopfern. In einem großen Heroismus vergessen sie sich selbst und stellen die Nächstenliebe über die Eigenliebe. Sie brennen für eine Sache und sagen sich, dass Geben seliger ist als Nehmen. Sich für andere aufopfern zu können und im Geben auch einen positiven Effekt für sich selbst zu erkennen, ist eine großartige Fähigkeit, die uns Menschen in besonderer Weise auszeichnet. Wenn aber durch das Opfer nichts Positives geschaffen wird und das Brennen für eine Sache uns selbst verbrennt oder ausbrennen lässt, wird aus einer positiven Nächstenliebe ein Mangel an Eigenliebe gleich wie heroisch das Handeln auch erscheinen mag.

 

Wieder andere sind nicht in der Lage, von sich selbst etwas zu geben. Sie lieben nur sich selbst und geraten so in eine furchtbare Einsamkeit. Ihre Liebesfähigkeit ist derart verletzt, dass sie vor anderen Menschen fliehen, um sich nicht hingeben zu müssen. Die Eigenliebe verschlingt in diesem Fall die Nächstenliebe für sich selbst. Was bleibt ist ein narzisstischer Blick auf sich selbst, der die anderen primär als feindliche Personen und Gefahr wahrnimmt.

 

Nur die Balance zwischen Eigen- und Nächstenliebe kann uns aus diesem Dilemma befreien. Die Botschaft von Jesus ist in diesem Kontext klar: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Wir können andere nur lieben, wenn wir uns selbst lieben, und wir können uns selbst nur lieben, wenn wir andere lieben. Das ist das geheime Paradox, von dem Jesus spricht.

 

Wir unterliegen immer wieder der Versuchung, in einer nach unseren Maßstäben fairen und gerechten Welt leben zu wollen. Dabei ist für uns das fair und gerecht, was wir als Idealbild dieser Welt uns vorstellen. Dieses Bild ist aber zwangsläufig immer subjektiv und einseitig, da wir die Welt nur aus jenem Blickwinkel betrachten können, aus dem sie für uns sichtbar ist. Jede Weltanschauung hat ihre Präferenzen, Vorlieben und Ausrichtungen. Wir können z.B. im Spiel der politischen Kräfte in einer Demokratie oder im Zusammenspiel von Demokratien wie in der Europäischen Union beobachten, wie ständig unterschiedliche Interessen, Meinungen und Vorstellungen aufeinanderprallen und sich in hitzigen Debatten entladen. Dabei sollten wir dankbar sein, dass wir Demokratie haben und die Spannungen nicht in kriegerischen Akten eskalieren.


Unsere Sichtweise ist unter unseren Gesichtspunkten oftmals richtig, doch die Sichtweise des Gegenübers kann es auch sein, obwohl sich die beiden Standpunkte widersprechen. Dann ist für den einen fair und gerecht, was für den anderen unfair und ungerecht ist und umgekehrt. Um das Gegenüber wirklich verstehen zu können, müssten wir in dessen Schuhen zumindest eine Zeit lang gehen können. Das ist aber nur in sehr selten Fällen wirklich möglich. Was uns darüber hinaus aber bleibt, ist die Möglichkeit, den anderen anzuhören, ihn sprechen und aussprechen zu lassen und dies so lange zu tun, bis man das Gesagte so gut versteht und nachvollziehen kann, dass man fähig ist, die vorgebrachten Gedanken, Argumente und Überlegungen an Stelle des anderen zu wiederholen. Damit sieht man nicht von seiner Position aus auf die Welt, damit ist man nicht wirklich in seinen Schuhen unterwegs gewesen, aber man bekommt dennoch ein Gespür für die Lebensrealität des anderen, die einem sonst weitgehend verschlossen bleibt.[ii]

 

Wenn wir der Versuchung widerstehen, unser Idealbild von einer gerechten und fairen Welt zu verfolgen, und uns stattdessen auf eine konstruktive Konfliktaustragung einlassen, kann es möglich werden, dass wir unser Idealbild aufgeben und durch ein größeres und dynamischeres Bild der Welt ersetzen, das durch einen Austausch im Miteinander immer wieder erarbeitet und erlangt werden muss. Damit kann es uns gelingen, aus den eigenen sich immer wieder im Kreis drehenden Vorstellungsmustern auszubrechen und eine größere Lebensdimension zu erfassen und zu erfahren.

 

So können wir vielleicht erkennen, dass unser Zorn hinsichtlich einer für uns ungerechten Situation nicht in der Form gerechtfertigt ist, wie wir glauben. Es kann sich zeigen, dass unser Neid auf Lebensumstände und Lebenschancen anderer sich abschwächen und verflüchtigen kann, wenn wir begreifen, dass diese Umstände und Chancen auch Lasten und Beschwerlichkeiten mit sich bringen, die wir nicht sehen konnten. Wir können freigiebiger werden, wenn wir die bedrückende und belastende Lebenssituation eines anderen Menschen wirklich begreifen und erfassen, welche Verbesserung und Erleichterung unsere Unterstützung geben wird. Wir können vielleicht damit aufhören, Dinge nur für uns anzusammeln, wenn wir verstehen, wie viel Leben sie ermöglichen, wenn sie nicht gehortet und aus Gier vor anderen weggesperrt sind.

 

Dabei dürfen wir aber auch nicht naiv sein und an eine stets heile Welt glauben. Der Versuch in sich selbst oder in anderen immer nur das Gute sehen zu wollen, verkennt, dass Menschen ungerechte, unfaire und unmenschliche Dinge tun. Die menschliche Boshaftigkeit kennt unheimlich viele verschiedene und subtile Facetten. Menschen unterliegen den Verführungen und Versuchungen negativer geistiger Kräfte. Der böse Geist ist leider eine Realität, auch wenn das, wozu er uns verführen will, unreale und illusorische Annahmen und Vorstellungen sind. Die heile Welt ist eine genauso große Illusion wie die faire und gerechte Welt. Denn heil ist wiederum das, was wir aus unserer Perspektive als heil begreifen. Der Jahrhunderte alte Streit zwischen den Religionen mit all ihren Versuchen, die eigene Wahrheit als die einzige Wahrheit durchzusetzen, gibt Zeugnis dieses vergeblichen Versuches. Auch die Spannungen zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen denen, die glauben wollen und denen die zweifeln wollen, bringt diese Problematik zum Ausdruck. Das, was heil ist, können wir nur in der Überschreitung und Ausbalancierung der Pole erfassen. Das ist kein statischer Zustand, sondern ein ständiges Austarieren gegensätzlicher Weltanschauungen.

 

Wir sollten uns also nicht von Idealbildern verführen lassen und versuchen, die Welt so anzunehmen, wie sie ist. Wenn wir immer unseren Idealbildern hinterherjagen und versuchen, sie zu verwirklichen, versäumen wir auf jene Bewegung des Weltganzen zu achten, die nur spürbar wird, wenn wir bei dem, was ist, stehenbleiben. Dann bewegen nicht wir uns, sondern der Kosmos bewegt sich unter uns. Diese Bewegung geht über die polare Welt hinaus und transzendiert unsere Vorstellungen von einer heilen, fairen und gerechten Welt.


[i] Thomas Merton hat sich in seinem Bestseller „Keiner ist eine Insel“ sehr intensiv mit dem Thema Eigenliebe und Nächstenliebe befasst. Seine Darstellung dieses Themenkomplexes besticht durch ihre Klarheit und die Berücksichtigung tiefgreifender psychologischer und spiritueller Einsichten. Siehe unter: MERTON, T.: Keiner ist eine Insel, Benzinger Verlag, Zürich und Düsseldorf, 1997, S. 10 ff
 
[ii] Steven R. Covey, der US-amerikanische Autor, Hochschullehrer und Fachmann für Management, hat im Zusammenhang mit der Frage gegenseitigen Verstehens ein indianisches Kommunikationsmittel in Erinnerung gerufen, das die Häuptlinge der Irokesen-Föderation einigen Gründungsvätern der Amerikanischen Republik – darunter auch Benjamin Franklin – beigebracht haben. Es handelt sich um den sogenannten „Indian Talking Stick“. Es ist ein physischer Sprechstab, der bei einer Zusammenkunft einer Person übergeben wird, die gerne ihr Anliegen schildern möchte. So lange diese Person den Stab in Händen hält, darf sie, ohne unterbrochen zu werden, so lange sprechen, bis sie überzeugt davon ist, von den anderen anwesenden Personen verstanden worden zu sein. Solange der Stab bei dieser Person ist, dürfen die anderen Personen weder ihren Standpunkt darlegen, noch argumentieren, zustimmen oder ablehnen. Sie sollen verstehen und dann wiedergeben, was sie verstanden haben. Wenn sich die Person mit dem Stab verstanden fühlt, ist es ihre Pflicht, den Stab an eine andere Person weiterzugeben und dafür Sorge zu tragen, dass sich diese Person verstanden fühlt. Dadurch übernehmen alle Beteiligten des Prozesses die volle Verantwortung für die Kommunikation. Durch dieses Vorgehen können sich negative Energien auflösen, Streitigkeiten verflüchtigen und gegenseitiger Respekt entstehen. Es können Lösungen gefunden werden, die einen synergetischen Effekt freisetzen.
COVEY, S.R.: Der 8. Weg, Mit Effektivität zu wahrer Größe, 3. Auflage, Gabal Verlag GmbH, Offenbach, 2006, 229 ff

 

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