top of page

Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

 

Lebensurbild%20Muster5_edited_edited.png

Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

Audio
00:00 / 14:46

KAPITEL 7: DAS SPIRITUELLE KIND ENTDECKEN

 

Von Geist und Materie

 

Wir erfahren in unserem Leben so viele Grenzen, Schranken und Einengungen, dass es für uns schwer vorstellbar ist, dass in uns etwas Grenzenloses, Zeitloses und Unendliches existieren könnte. Raum- und zeitlose Unendlichkeit sind Dinge, die über jede Vorstellungskraft, jede gefühlte Realität und jede empfundene Begegnung hinausgehen. Wir können Unendlichkeit nicht denken, weil jedes Konzept und jede Vorstellung zu klein sind, um sie zu erfassen. Wir können Unendlichkeit nicht fühlen, weil es dafür schlicht keinen Sinn gibt, der so etwas wie Endlosigkeit wahrnehmen könnte. Wir können Unendlichkeit auch nicht empfinden, weil wir gar nicht wissen, wie wir ihr begegnen und sie an- und begreifen könnten. Es wäre daher leicht nachvollziehbar, wenn sich jemand auf den Standpunkt stellt, dass es so etwas wie Unendlichkeit nicht gibt.

 

Doch der Mensch ist findig und hat abstrakte Konzepte entdeckt, die Unendlichkeit beschreiben können. Die Mathematik kann uns veranschaulichen, dass Zahlen bis in die Unendlichkeit hinein anwachsen können, ohne an ein Ende zu gelangen. Zahlen können auch in die Unendlichkeit hinein immer kleiner werden, ohne bei der Zahl Null anzulangen.

 

Ein Beispiel dafür ist Hilberts Hotel.[i] In einem normalen Hotel mit endlich vielen Zimmern können keine Gäste mehr aufgenommen werden, wenn alle Zimmer belegt sind. In Hilberts Hotel, dessen Zimmer mit natürlichen Zahlen beginnend bei 1 durchnummeriert sind und das unendlich viele Zimmer hat, die alle mit unendlich vielen Gästen belegt sind, gibt es die Möglichkeit, dass ein weiterer Gast einziehen kann. In diesem Fall wechselt der Gast von Zimmer 1 in das Zimmer 2, der Gast von Zimmer 2 in das Zimmer 3 usw. Damit wird Zimmer 1 frei für den neuen Gast. Da die Anzahl der Zimmer unendlich ist, gibt es keinen „letzten Gast“, der nicht in ein weiteres Zimmer umziehen könnte. Damit können endlich viele neue Gäste in das Hotel einziehen. Es gibt aber auch einen Weg, dass unendlich viele neue Gäste im Hotel Platz finden können. Dies ist möglich, wenn der Gast aus Zimmer 1 in das Zimmer 2 geht, der Gast aus Zimmer 2 in das Zimmer 4 und der Gast aus Zimmer 3 in das Zimmer 6 usw. Alle Gäste wechseln also in jenes Zimmer,

das der Multiplikation ihrer Zimmernummer mit 2 entspricht. Damit wechseln alle bisherigen Gäste in Zimmer mit einer geraden Zimmernummer. Die Neuankömmlinge können die Zimmer mit ungeraden Nummern beziehen. Unendlich viele neue Gäste können einziehen. Der Hotelmanager muss nur aufpassen, dass alle Gäste zur gleichen Zeit die Zimmer wechseln, weil sonst die Übersiedelung aus den bisherigen Zimmern in die neuen Zimmer unendlich viel Zeit in Anspruch nehmen würde.

Abbildung 14
Inhalt und Grafik-Design: © bei Christoph Paul Stock

Unsere primäre Lebenserfahrung ist jene des Hotels mit der begrenzten Anzahl von Zimmern. Wenn das Hotel voll ist, müssen wir uns ein anderes Hotel suchen, weil im gewünschten Hotel kein Platz mehr ist. Doch auch in einem begrenzten Hotel gibt es die Erfahrung des Unbegrenzten. Gäste kommen und gehen. So ziehen immer wieder neue Gäste ein und aus und selbst wenn oft die gleichen Gäste kommen, wohnen sie in unterschiedlichen Zimmern und vermischen sich mit anderen Gästen, die bei ihrem letzten Besuch nicht im Hotel gewohnt haben. Das Gästegeschehen im Hotel ändert sich also ständig und wenn das Hotel eine lange Tradition hat und schon viele Jahre besteht, ist auch eine enorm große Anzahl an Gästen ein- und ausgezogen, auch wenn man nicht von Unendlichkeit sprechen kann.

 

Ein Flaschenhals entsteht dann, wenn z.B. 6 Gäste Zimmer beziehen wollen aber nur 5 Zimmer zur Verfügung stehen. Auch dieses Problem lässt sich lösen, wenn man, statt alles durch Multiplikation zu vervielfachen die Dinge durch Division einfach weiter teilt. Man stellt ein weiteres Bett in ein Zimmer und schon haben 6 Personen in 5 Zimmern Platz. Das Teilen ist eine kreative Idee. Es stellt sich nur die Frage, ob wir teilen wollen, weil eine gewisse Annehmlichkeit verloren geht. Natürlich lassen sich die Dinge in der realen Welt auch nicht endlos teilen.

 

Aus diesem Gedankenspiel wird ersichtlich, dass die materielle Ebene zwar Begrenzung kennt, der Geist aber in seiner Kreativität unbegrenzt und unendlich zu sein scheint. Ein Stück Ton ist eine begrenzte Menge an befeuchteter lehmiger Erde, die sich in viele verschiedene Formen bringen lässt. Das Material hat bestimmte Eigenschaften und kann daher nicht in sämtliche denkbare Formen verwandelt werden. Wenn aber ein Material an seine Grenzen kommt, können wir ein anderes Material verwenden. Häuser und Gebäude werden aus vielen verschiedenen Materialien errichtet. Es gibt Ziegel, Beton, Sandstein, Kalkstein, Marmor, Holz, Lehm, Stroh etc. Die Materialien und ihre Formbarkeit mögen begrenzt sein, doch der Geist kann aus ihnen schon unvorstellbar viele Formen gestalten. Selbst wenn uns die Materialien ausgehen, hat der Geist die Möglichkeit, neue Materialien zu erfinden. Plötzlich tauchen Stoffe auf, die es bisher in der Natur gar nicht gegeben hat. So bestimmen unterschiedliche Kunst- und Verbundstoffe unsere moderne Welt, die wir vor einigen Jahrzehnten noch gar nicht gekannt haben.


Hans-Peter Dürr, ein deutscher Physiker und Essayist sowie langjähriges Direktoriumsmitglied des Max-Planck-Instituts hat im Kontext des Verhältnisses zwischen Geist und Materie den Gedanken in Anlehnung an den Physiker David Bohm formuliert, dass die Materie nichts anderes als „gefrorener Geist“ ist. Dieser Gedanke geht davon aus, dass der Geist oder eigentlich die geistige Idee der Materie vorausgeht. Aus diesem Gedanken ergibt sich, dass die Grundlagen der Materie aus dem Geist heraus erschaffen wurden und so die Existenz einer Grundstruktur entstand, die durch Replikation zu dem geworden ist, was wir unter Materie verstehen.[ii] Wenn wir uns die chemischen Elemente ansehen, dann steckt in ihnen allen die Idee eines Atomkerns mit Protonen und Neutronen, um den Elektronen auf bestimmten Bahnen kreisen. Wasserstoff als das einfachste Element hat ein Proton, ein Neutron und ein Elektron. Bei komplexeren Atomen nimmt die Anzahl der elementaren Teilchen zu. Ein einzelnes Atom ist ein zu vernachlässigendes Stück Materie. Doch wenn die Elemente reproduziert und vervielfältigt werden, entsteht aus vielen Eisenatomen ein Klumpen Eisen, aus vielen Goldatomen ein Goldstück, aus vielen Stickstoff- und Sauerstoffatomen eine Gaswolke. Die Ansammlung und Anhäufung einer ursprünglichen geistigen Idee lässt also Materie entstehen. Eine andere Idee lässt Atome miteinander reagieren. Es kommt zu chemischen Prozessen. Diese Prozesse lassen immer komplexere Atome entstehen. Es braucht eine neue Idee, denn sonst würde sich das Universum einfach mit z.B. Wasserstoffatomen endlos anfüllen. Wir würden in einem Meer der Gleichförmigkeit ertrinken. Natürlich braucht es hier weitere Rahmenbedingungen, die mit den Naturkräften der Gravitation, des Elektromagnetismus, der schwachen und starken Wechselwirkung zusammenhängen. Auf was ich hinaus will, ist eine Polarität, die sich in unserer Welt zeigt. Eine kreative Idee bringt etwas hervor, dass in seinen Anfängen sehr, sehr klein und unbedeutend ist. Durch Replikation und Wiederholung sammelt sich diese Idee an und gerinnt quasi zu dem, was wir Materie nennen. Würde dieser Replikationsprozess aber nicht an einem bestimmten Punkt gestoppt werden, würde sich eine bestimmte Idee endlos in die Materie hinein entfalten und das Universum ausfüllen. Aus diesem Grund muss Materie begrenzt sein. Es braucht eine neue Idee, einen neuen schöpferischen Akt, durch den der Prozess der Anhäufung und Ansammlung unterbrochen wird und das Leben sich evolutiv neu erfinden und umgestalten kann. Der Pool der schöpferischen Kraft dürfte absolut unbegrenzt sein. Die Grenzen ergeben sich durch alte Ideen, in der Zeit vergangene Schöpfungsakte, deren Reproduktion irgendwann zur Begrenzung werden. So ist es denkbar, dass das gesamte Universum mit der Struktur, die es hat, in ferner Zukunft an eine Grenze stößt, die eine weitere Kreativität verhindert. Doch wenn alles aus einer geistigen schöpferischen Kraft heraus entsteht, wieso sollte diese Kraft nicht in der Lage sein, alle alten Ideen zu verwerfen und mit einem ganz neuen kreativen Wurf ein neues Universum mit anderen Grundvoraussetzungen ins Leben zu rufen. Es wäre wie bei einer kunstschaffenden Person, die an einem bestimmten Punkt ihr Werkzeug zur Seite legt und das Kunstwerk als fertig belässt. Nun nimmt die Person sich ein neues Werk vor, in dem sie vielleicht ganz andere und neue Ideen zum Ausdruck bringen will. Sterblich ist dann das Universum mit seinen alten Ideen. Doch jene Quelle, die immer wieder kreativ etwas hervorbringt, wird weder mit ihren Ideen geboren noch stirbt sie mit ihren Ideen. Wir berühren wieder das Wesen der Unendlichkeit.

 

Das oben angeführte Beispiel mit Hilberts Hotel ist noch sehr abstrakt. Etwas greifbarer wird Unendlichkeit im nächsten Beispiel, bei dem es um Fraktale geht: Fraktale bestehen aus ganz einfachen mathematischen Formeln, welche unendliche Komplexität erschaffen können. Der Mathematiker Benoît Mandelbrot hat eine einfache Formel im Jahr 1980 publiziert, bei der das jeweilige Berechnungsergebnis wiederum als Ausgangswert für eine neuerliche Berechnung mit der gleichen Formel verwendet wird. Dieses Vorgehen nennt man Iteration. Wenn man diese Iterationen grafisch darstellt, entsteht ein Muster, das als Mandelbrot-Menge bezeichnet wird. Je öfter die Berechnung durchgeführt wird, desto mehr Details werden sichtbar. Dieser Prozess kann unendlich oft durchgeführt werden. Die einzige Einschränkung ergibt sich durch die Rechenleistung der Computer. Die Muster, die entstehen, wirken seltsam vertraut, sie scheinen in uns Assoziationen hervorzurufen. Diese Muster wurden von Benoît Mandelbrot Fraktale genannt. Die fraktalen Muster kommen einem so bekannt vor, weil diese überall in der Natur zu finden sind. Man findet sie in Strukturen von Landschaften, in Wolkenformationen, bei Pflanzen, in tierischen und menschlichen Organen, in der Kunst, in religiösen Ornamenten wie den

Mandalas und sogar in Strukturen des Kosmos. Charakteristisch an Fraktalen ist, dass sie eine Selbstähnlichkeit besitzen. Unabhängig davon, ob man in das Muster hineinzoomt oder vom Muster weiter weggeht und herauszoomt, das fraktale Muster sieht immer ähnlich aus. Das Fraktal als Ganzes resoniert hinsichtlich seiner Ähnlichkeit mit den nächstgrößeren oder nächstkleineren Teilen.

Abbildung 15
Inhalt und Grafik-Design: © bei Christoph Paul Stock

Die Ähnlichkeit des Musters setzt sich in beide Richtungen unendlich weit fort. Es ist naheliegend, dass hinter natürlichen Erscheinungen tatsächlich abstrakte durch Mathematik beschreibbare Muster existieren, die in ihrem Grundwesen nicht endlich, sondern unendlich sind.[iii] Es scheint also tatsächlich so zu sein, dass es im Universum das Unendliche gibt. Muster, die in unendlich weit entfernten Galaxien anzutreffen sind und sich auch hier auf unserer Erde, in unserer Atmosphäre, in unserer Landschaft und in unseren Körpern wiederfinden. Es handelt sich also um primordiale, universelle und uns allen gemeinsame Bilder. Daher stammen sie wohl aus dem kollektiven Bewusstsein.


Diese Mandelbrot-Mengen bringen aber noch eine weitere hoch interessante Gegebenheit zum Ausdruck. Wenn der Lebenshintergrund von universellen Mustern bestimmt ist, gibt es eine gewisse Determinierung unserer Welt und des Universums. Doch die Determinierung ist nicht in dem Sinn absolut, dass sie alle Details bestimmt und in der Praxis festlegt. Isaac Newton hat ein solches Universum mit den von ihm entdeckten Gesetzen der Gravitation beschrieben. Danach funktioniert das Universum wie ein Uhrwerk. In diesem Universum ist alles vorherbestimmt. Diese Sichtweise lässt dem Zufall keinen Raum und geht von einer perfekten Ordnung aus. Mit der Entdeckung der Quanten und der Entwicklung der Quantenphysik wurde diese Vorstellung in Frage gestellt. Albert Einstein schrieb in diesem Zusammenhang an seinen Physikerkollegen Niels Bohr, dass seiner Meinung nach Gott nicht würfelt. Er glaubte also an ein determiniertes und damit vorherbestimmtes Universum. Bohr glaubte im Gegenteil dazu an ein Universum, in das der Zufall miteingebaut ist. Das wäre ein Universum, dass zwar in seinen Prinzipien determiniert ist, in der praktischen Entfaltung aber den Zufall und damit die Unbestimmtheit kennt. Die Quantenphysik und die Entdeckungen im Bereich der Chaosforschung, zu der auch die Fraktale und die Mandelbrot-Menge gehören, legen nahe, dass es neben einer prinzipiellen Ordnung auch den Zufall gibt und damit auch Raum geschaffen ist für das, was wir den freien Willen nennen. Es scheint so zu sein, dass das Leben ein Universum hervorgebracht hat, in dem es Ordnung und Unordnung, Bestimmtheit und Zufall zur gleichen Zeit gibt. Ein absoluter Geniestreich der kreativen Schöpferkraft. Einstein müsste man dann antworten, dass sich nicht die Frage stellt, ob Gott würfelt, sondern dass die Frage eher die ist, wie Gott würfelt.[iv]


[i] Vgl. dazu die Darstellungen in folgender Netflix Dokumentation zum Thema Unendlichkeit: BESS, I. / HALPERIN, J. / MARSHALL, S. / WALL, A. (Produzenten), HALPERIN, J. / TAKAHASHI, D. (Regisseure), 22 Tigers Studio (Aufnahmestudio): A Trip to Infinity, Dokumentarfilm, 2022, 00:06:44 – 00:12:05
 
[ii] Vgl. dazu in: DÜRR, H.-P.: Es gibt keine Materie, 2. Auflage, Kindle-Version, Cortona Verlag GmbH & Co.KG, Amerang, 2012, S. 32 ff
 
[iii] Vgl. dazu die Darstellungen von Fraktalen in folgender Dokumentation: LESMOIR-GORDON, N. / SINCLAI, P. (Produzenten), LESMOIR-GORDON, N. (Regisseur), CLARKE, A. C. (Sprecher), Screenbound Pictures (Aufnahmestudio): Colours of Infinity, Dokumentarfilm, 1994
 
[iv] Ibidem, 00:45:30 – 00:47:20
© Christoph Paul Stock | Wien | 2025 | All rights reserved!
lebensurbild_begriffswolke_6.png
bottom of page