
K O N T A K T
Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
KAPITEL 8: POLARITÄTEN UND DUALITÄTEN
Uranus ist einer der großen planetaren Eisriese im äußeren Teil unseres Sonnensystems. Seine Umlaufbahn um die Sonne liegt zwischen jener des Saturn und jener des Neptuns. Er ist von der Sonne aus gesehen der siebte Planet im System. Mit freiem Auge kann man den Planeten nur selten sehen. Mit einem Fernglas ist es aber ohne Probleme möglich. Die Besonderheit bei Uranus liegt darin, dass seine Rotationsachse annähernd in seiner Bahnebene liegt. Die Erde dreht sich ähnlich wie ein Kreisel, der leicht geneigt ist. Uranus dreht sich wie ein Rad an einem Fahrzeug. Die Achse der Erde sehen wir, wenn wir von oben auf die Erde von der Bahnebene aus betrachtet blicken. Die Achse des Uranus sehen wir, wenn wir von der Seite auf den Planeten blicken. Das bedeutet, dass nach jedem halben Umlauf um die Sonne einmal die Nordhalbkugel und einmal die Südhalbkugel der Sonne zugewandt ist. Ähnlich wie bei Polarnacht und Polartag in den irdischen Polarregionen ist es dann auf den jeweiligen Halbkugeln des Planeten hell bzw. dunkel. Auf der Erde dauert der polare Sommer und der polare Winter in der Polarregion ein halbes Erdenjahr. Auf dem Uranus spielt sich dieses polare Wechselspiel praktisch überall und immer ab. Eine Ausnahme ist eine schmale Region zwischen der hellen bzw. dunklen Halbkugel. Die Polarität ist also eine besondere astronomische Eigenschaft von Uranus.[i]
Ohne polare Ausrichtungen wäre es schwierig, sich zu orientieren. Stellen wir uns eine Erde vor, die nicht um eine Achse rotiert, sondern ständig einem anderen Drall folgt, wie z.B. ein Tennisball, der je nach Schlag mit dem Schläger seine Drehung und Geschwindigkeit um die eigene Achse ändert. Niemand wüsste mehr wo Norden, Süden, Westen oder Osten ist. Das Wetter, das ohnehin schon chaotisch ist, würde völlig außer Rand und Band geraten und es ist fraglich, ob so ein Planet dauerhaft überhaupt eine Atmosphäre halten könnte. Tag und Nacht hätten keinen Rhythmus und so etwas wie Jahreszeiten wäre schlicht nicht vorhanden. Polarität ist also eine Grundvoraussetzung für eine Orientierung. Wer auf hoher See im Wellenmeer der Ozeane vor Erfindung der Satellitennavigation unterwegs war, musste sich am Horizont, der Sonne, dem Mond und den Gestirnen orientieren, um seinen Weg zu finden. An etwas anderem konnte man sich nicht festhalten.
Die Gegensätze ermöglichen eine Orientierung aber auch eine mentale Verarbeitung der Dinge. Dabei kennen wir Konzepte, bei denen unsere subjektive Position entscheidend ist. Wenn zwei Personen nebeneinanderstehen und wir sie bei Sonnenaufgang fragen, wo Osten ist, werden beide in Richtung der Sonne zeigen. Doch wenn es um die Position der Personen zueinander geht, dann wird man sich mit Gegensatzpaaren wie links und rechts, vor und hinter oder über und unter behelfen, um die Positionen zu beschreiben. Nicht anders ist es mit Unterschieden bei der Wahrnehmung. Da gibt es hell und dunkel, laut und leise, hart und weich, süß und sauer, lieblich und ekelerregend usw. All diese Wörter weisen auf sensorische Erfahrungen hin, die wir so in Gegensätzen beschreiben und mental verarbeiten können. Diese polaren Variationen in unserem Leben können wir in vielen Fällen auch mit einem die Polarität überschreitenden Begriff festmachen. Zu hoch und niedrig können wir vertikale Ausrichtung sagen. Zu heiß und kalt und allen Nuancen, die es hier in der Abstufung der Gegensätze gibt, sagen wir Temperatur. Alle polaren Eindrücke im visuellen Bereich sind für uns das Sehen, alle im auditiven Bereich das Hören usw. Wir können also die Identität von Gegensatzpaaren erfassen. Doch es gibt auch Gegensatzpaare, die sich nicht einfach durch einen weiteren Ausdruck beschreiben lassen. Das Gegensatzpaar ICH und DU gehört z.B. hierher. Der Grund liegt einfach darin, dass in diesem Fall das ICH selbst Teil des Gegensatzpaares ist. Das ICH ist das Zentrum der bewussten Wahrnehmung und blickt aus sich heraus auf alle Objekte um es herum. Diese Konfiguration von Subjekt und Objekt lässt sich weit schwerer überwinden und intellektuell und sprachlich kaum fassen, weil die Unterscheidung von Subjekt und Objekt so zentral ist für unsere Verortung als ICH in der Welt. Ohne diese Verortung im ICH entsteht Chaos und Orientierungslosigkeit. Wir tendieren dazu, dem Chaos aus dem Weg zu gehen.
Im Zen erkennt man die Auseinandersetzung mit Gegensätzen als eine zentrale Aufgabe in der spirituellen Entwicklung. Durch die Nutzung sogenannter Koans wird versucht, die Dichotomie von Subjekt und Objekt zu überwinden. Man übt durch die Auseinandersetzung mit diesen paradoxen Problemstellungen in einen Bereich vorzudringen, in dem sich die Teilung in Subjekt und Objekt auflöst. Man betritt dann einen Raum, in dem die klassische Orientierung, wie wir sie kennen, verschwindet. Man landet in einem Ozean, der keinen Himmel mit Gestirnen kennt, die einen leiten können. Koans, die in diesen Raum jenseits der Pole führen sollen, sind z.B. „Zwei Hände klatschen und es entsteht ein Geräusch, was ist das Geräusch einer einzelnen Hand“ oder „Schau auf die Blume und die Blume schaut zurück“ oder „Wie sieht dein originäres Gesicht aus, bevor deine Mutter und dein Vater geboren wurden?“.[ii]
Koans werden gerade im Westen oft als psychologisches Vehikel verstanden, mit dem man den Verstand in die Ecke drängt, ihn vergeblich versuchen lässt, ein Problem zu lösen, bis er sich so tief in endlose Widersprüche verstrickt, dass er aufgibt. Man geht dann davon aus, dass es durch diesen Zusammenbruch des diskursiven Denkens zu einem Durchbruch in einen Bereich kommt, der ohne Verstandeskonzepte und sprachliche Sinnerfassung auskommt. Eine Art entleertes Bewusstsein, das dem Verstand vorausgeht.
Diese Sichtweise wird immer wieder in Frage gestellt. Der Fehler scheint darin zu liegen, dass man den Zusammenbruch des rationalen Denkens in den Vordergrund stellt, statt zu erkennen, dass es darum geht, vom Erfassungsmodus des Denkens in einen anderen Erfassungsmodus zu wechseln, den ich als Intuition festgemacht habe. Es geht also nicht darum, einen Erfassungsmodus zu zerstören, um in einen Raum ohne diesen Modus zu wechseln, sondern darum, den Erfassungsmodus des Denkens so zu beruhigen und so auszurichten, dass der Erfassungsmodus des Intuierens arbeiten kann. Die Intuition hat es schwer, wenn das Denken oder auch das Fühlen oder die Welt rund um uns herum ständig alles überlagert. Es ist schwierig, ein leises Etwas, das durch sein Signal eine bestimmte Richtung angibt, wahrzunehmen, wenn laute Musik gespielt wird. Man muss die Lautstärke der Musik leise stellen oder nach Möglichkeit die Musik ganz abschalten, um etwas hören zu können. In diesem Sinn will uns ein Koan mit der Intuition in Verbindung bringen. Das ist seine eigentliche Aufgabe.
Die Antworten der Zen-Mönche auf die gestellten Rätselfragen im Koan weist der Zen-Meister immer dann zurück, wenn er den Eindruck hat, dass sie lediglich beschreibend, erklärend und diskursiv sind. In diesen Fällen befindet sich der praktizierende Mönch noch immer im Erfassungsmodus des Denkens und damit im Verstand. Es ist ihm noch nicht gelungen, über die Dichotomie von Subjekt und Objekt hinauszugehen. Wenn der Wechsel vom Verstand in die Intuition gelingt, kommt es nicht mehr zu einem Denkprozess, sondern zu einer unerwarteten spontanen Handlung, die durchaus auch in einem sprachlichen Ausdruck gegeben sein kann. In einem Fall stellt ein Schüler seine Sandalen auf den Kopf, in einem anderen Fall schweigt er einfach. Im nächsten Fall gibt er einen Laut von sich. Dann hebt er den Finger oder verbeugt sich einfach. In wieder einem anderen Fall spricht er etwas aus, was eine innere Authentizität zum Ausdruck bringt, die sich der Sprache zwar bedient aber über die Sprache und den sprachlichen Diskurs hinausgeht. Es werden das Denken, das Fühlen und das Empfinden quasi als Vehikel genutzt, um etwas zum Ausdruck zu bringen. Doch das, was zum Ausdruck gebracht wird, entspringt einer anderen Ebene, zu der man nur intuitiv Zugang finden kann.
Wenn ein Mensch eine tiefe innere Zuneigung zu einem anderen Menschen empfindet, dann kann es sein, dass er sich schwertut, diese innere subjektive Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Doch in ihm entsteht ein Drang, diese innere Realität der geliebten Person zu vermitteln. Man kann nicht wissen und selbst der Person wird es vielleicht nicht klar sein, welchen Ausdruck diese tiefliegende Bewusstseinshaltung finden wird. Vielleicht wird die Person plötzlich und unerwartet die andere Person zärtlich und kurz küssen, vielleicht wird die Person eine Blume pflücken und sie überreichen, vielleicht ist die Handlung auch ganz unromantisch und wirkt fast bieder und banal, vielleicht ist es der besondere gesprochene Ausdruck der Worte „Ich liebe Dich!“, die schon vielfach ausgesprochen wurden aber noch nie in dieser authentischen Art und Weise. Wenn sich eine Wirkkraft in die Realität unvermittelt Bahn bricht, wird dies durch die Intuition vermittelt. Wir können die Ebene, an der sich das ICH und das DU auflösen bzw. das ICH sich in der WELT auflöst und die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt aufhört, nicht direkt über eine Art pures, völlig entleertes Bewusstsein zum Ausdruck bringen. Wir benötigen dazu einen Ausdruck, der sich der polaren Mittel unserer Realität bedient. Doch das, was sich ausdrückt, entstammt einer Welt jenseits von Zeit und Raum, jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmung und unseres diskursiven Denkens, jenseits unseres Ich-Bewusstseins. So kann man einen traditionellen Zen-Vers verstehen, der wie folgt lautet: „Am Anfang sind Berge eben Berge und Flüsse eben Flüsse. Dann sind Berge keine Berge und Flüsse keine Flüsse. Doch schließlich sind Berge wieder Berge und Flüsse wieder Flüsse“.[iii]
Alle höheren Energien sind Ausdruck einer sich auflösenden Polarität. Dem Urweiblichen können wir nur gewahr werden, wenn wir die Dichotomie von Chaos und Ordnung, Sein und Werden, Fremdverantwortung und Eigenverantwortung austarieren. Das Urmännliche bleibt in uns nur lebendig, wenn wir die Dichotomie von Wildnis und Zivilisation, Beharrlichkeit und Vorwärtsstreben, Eigeninteresse und Fremdinteresse überwinden. Liebe können wir nur empfinden, wenn wir die Dichotomie von Ich und Du, Strenge und Mitgefühl, Grenzen und Durchlässigkeit überschreitet. Kreativität kann sich nur einstellen, wenn man die Dichotomie des Alten und des Neuen, der Stabilität und Veränderung, der Gewohnheit und der Spontanität transzendiert. Reinkarnation ist nur möglich, wenn man die Dichotomie von Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein, Festhalten und Loslassen überschreitet. Willenskraft ist nur gegeben, wenn man die Dichotomie von Diesseits und Jenseits, Möglichkeit und Realität, Eigenimpuls und Fremdimpuls bewältigt. Es gibt noch viele weitere Gegensatzpaare, die hier angesprochen werden könnten. Die Sprache kann die Komplexität des Lebens nicht abschließend fassen. Sie kann immer nur auf das Eigentliche hinweisen, es diskursiv beschreiben, es andeuten und in uns eine Ahnung erzeugen. Doch im Bereich unserer polaren Welt gibt es kein ganzheitliches Erfassen. Alle Dinge können nur nacheinander und nie vollständig beschrieben werden. Wir sind durch Raum und Zeit begrenzt, durch unsere Sinne eingeschränkt und in unseren Begegnungs- und Ausdrucksmöglichkeiten eingeengt. Die Intuition ist anders. Sie erfasst auf einer völlig anderen Ebene die Dinge unmittelbar und ganzheitlich. Doch dann muss sie sich doch wieder der begrenzten Mittel unserer polaren Welt bedienen, um das Ungeteilte wieder mitteilbar zu machen, um aus der Vision wieder eine greifbare Realität werden zu lassen.
Doch auch die Ebene der höheren Energien kennt eine Struktur, die sie ordnet und in ein Zusammenspiel bringt. Das Urweibliche steht in einer Dualität zum Urmännlichen, das Urweibliche und das Urmännliche greifen in der Liebe ineinander, durchdringen und ergänzen sich bis hin zu einer Auflösung, in der sie sich im Alten aufgeben und sterben und im Neuen kreativ wiedergeboren werden. Diese ganze höhere Welt steht in einer Dualität zur Realität, in die hinein sich die höhere Welt mit enormer Willenskraft immer wieder aufs Neue inkarniert. Es ist ein Spiel der Energien, ein Tanz des Lebendigen, ein Wirbeln der Atome im Hintergrund unserer real fassbaren und materiellen Welt, das weit komplexer und vielschichtiger ist, als wir uns das je vorstellen könnten. Es ist eine Unendlichkeit, die wir erahnen können, wenn wir in die Weiten des Ozeans blicken oder in die buchstäblich unendliche Tiefe des Weltalls.