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Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

 

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© Dr. Christoph Paul Stock

 

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Die reine Vernunft

 

Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Der Erwerb von Wissen und Information gehört zu den Eckpfeilern unserer modernen Zivilisation. Unser Bildungs- und Schulsystem ist darauf aufgebaut. Wir vertrauen darauf, dass uns die Anhäufung von Wissen vorwärtsbringen und unsere Entwicklung fördern wird. Mit dieser Fokussierung auf den Wissenserwerb stärken wir die Ausrichtung auf kognitive Fähigkeiten. Logik und Vernunft spielen eine ausgeprägte Rolle und werden intensiv gefördert. Was uns dabei nicht so sehr auffällt, ist die damit einhergehende Tendenz, dass Menschen davon ausgehen, in ihrem Kopf allein Probleme verstehen und dort auch lösen zu können. Man glaubt, das Leben mit dem Denken allein erfassen, verarbeiten, verstehen und bewältigen zu können. Wenn wir einen solchen Lebenszugang auf die Spitze treiben, können wir uns in etwas verfangen, dass der große Königsberger Philosoph Immanuel Kant Antinomien genannt hat.

 

Kant entdeckte das zentrale Problem der reinen Vernunft als er versuchte, zu entscheiden, ob die Welt einen zeitlichen Anfang hat oder nicht. Zu seinem Erstaunen fand er heraus, dass sich scheinbar gültige Argumente für beide Möglichkeiten aufstellen lassen.[i] Der Mensch versucht offensichtlich mittels des Verstandes immer wieder durch reines Denken den Grund der Dinge zu erkennen. Er wird dabei in die Irre geführt, weil die Widerspruchslosigkeit eines Gedankens durch seine Evidenz die Realität des Gedachten zu erweisen scheint. Widerspruchslosigkeit ist hier zwar Bedingung der gegenständlichen Erkenntnis aber nicht ausreichend. Widerspruchslose Gedanken können sich auf irreale, fantastische Dinge beziehen. Es entsteht eine Logik des Scheins.[ii]

 

Wer Gerichtsverfahren verfolgt und die Argumente der Rechtsvertretung in ihrer Tiefe erforscht, trifft immer wieder auf solche Verstandesleistungen, die versuchen, etwas aus dem reinen Denken heraus widerspruchlos zu argumentieren, das aber keinen tatsächlichen Widerhall in der Welt findet. Es ist die augenscheinliche Widerspruchlosigkeit der Argumente, die uns verwirrt und in die Irre führt. Wir unterliegen einer Täuschung.

 

Kant zeigt also die Grenzen all unseres Wissen-Könnens auf. Er kritisiert die reine Vernunft, die in dem Sinne „rein“ ist, dass sie von Sinneserfahrungen unberührt und durch keine Beobachtung kontrolliert wird. Kant zeigt, dass die Grenzen möglicher Sinneserfahrung und die Grenzen vernünftigen Theoretisierens über die Welt identisch sind.

 

Je komplexer Zusammenhänge werden, umso eher werden wir dazu verleitet, Schlüsse zu ziehen, die unter Umständen zwar logisch richtig, aber nicht ausreichend durch Sinneserfahrungen kontrolliert sind. So wurde auch über lange Zeit in der klassischen Wirtschaftstheorie angenommen, dass Menschen zumindest im Wirtschaftsleben rationale Entscheidungen treffen.[iii] Empirische Untersuchungen haben eindrücklich gezeigt, dass sich Menschen in vielen Fällen eben nicht rational verhalten, sondern zusätzlich zum Denken auch von Gefühlen geleitet werden. Der rein rationale „homo oeconomicus“ ist eine Illusion.[iv] Das Rad dreht sich weiter vom Denken zum Fühlen.


[i] In einem ersten Widerstreit formulierte Kant die Thesis, dass die Welt einen Anfang in der Zeit habe und formulierte den Beweis wie folgt: „Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt eine Ewigkeit abgelaufen und mithin eine unendliche Reihe aufeinander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, dass sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also ist eine unendlich verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins; welches zuerst zu beweisen war.“
In einer Antithesis formulierte er den Beweis, dass die Welt keinen Anfang hat und in Ansehung der Zeit unendlich ist. Der Wortlaut des Beweises lautet: „Denn man setze: sie habe einen Anfang. Da der Anfang ein Dasein ist, wovor eine Zeit vorhergeht, darin das Ding nicht ist, so muss eine Zeit vorhergegangen sein, darin die Welt nicht war, d. i. eine leere Zeit. Nun ist aber in einer leeren Zeit kein entstehen irgendeines Dinges möglich, weil kein Teil einer solchen Zeit vor einem anderen irgendeine unterscheidende Bedingung des Daseins vor der das Nichtseins an sich hat (man mag annehmen, dass sie von sich selbst oder durch eine andere Ursache entsteht). Also kann in der Welt manche Reihe der Dinge anfangen, die Welt selbst kann aber keinen Anfang haben, und ist also in der Ansehung der vergangenen Zeit unendlich.“ Diesen Widerstreit von Beweisen nannte Kant „Antinomie“. Vgl. in: Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, Marix Verlag GmbH, Wiesbaden, 2004, S. 270 f
 
[ii] JASPERS, K.: Die großen Philosophen, Band 2, Piper Verlag GmbH, München, 2007, S. 81
 
[iii] Vgl. bei: KIRCHGÄSSNER, G.: Homo Oeconomicus, 3. Auflage, Mohr Siebeck Tübingen, 2008, 12 ff
 
[iv] Vgl. dazu bei: KIRCHLER, E.M.: Wirtschaftspsychologie: Grundlagen und Anwendungsfelder der Ökonomischen Psychologie, 3. Auflage, Hogrefe-Verlag, 1999, S. 19 ff
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