
K O N T A K T
Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

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© Dr. Christoph Paul Stock
Das reine Gefühl
Es ist die sinnliche Wahrnehmung, die alles Fühlen ermöglicht. Wenn man lange mit dem Kopf gearbeitet und man sich in rationalen Argumenten und Überlegungen vertieft hat, kommt der Moment, an dem man aus dem Kopf heraus und in die sinnliche Wahrnehmung hineinmuss. Als ich mich als junger Jurist zu sehr in Schriften, wissenschaftlichen Texten, Urteilsausfertigungen und philosophischen Abhandlungen verloren hatte und begann, daran zu leiden, sagte ein Psychologe zu mir: „Stecken Sie sich einen Kieselstein in den Mund und fangen sie wieder an, die Welt zu spüren!“. Er hatte absolut Recht. Ich hatte mich in meinen Hirnwindungen verloren.
Es gibt diese großartige Geschichte von Narziss und Goldmund, die Hermann Hesse geschrieben hat, in der ein Denker und Geistesmensch auf einen Sinnenmenschen trifft. Narziss gibt sich als Mönch einem geistigen Leben hin, Goldmund geht im Gegensatz dazu in die Welt hinaus und erfährt diese mit all ihren Höhen und Tiefen in tiefer Sinnlichkeit. Goldmund ist dabei auf der Suche nach der verlorenen Mutter, in der sich Berührung, Nähe, das Sorgen und Kümmern archetypisch verkörpern. Goldmund stirbt in der Überzeugung, dass Narziss ohne die Erfahrung dieses sinnlichen Mutterprinzips nicht glücklich sein kann.[i]
Goldmund hat genauso Recht wie der oben erwähnte Psychologe. Doch man kann sich auch in der Sinneswelt der Gefühle verlieren. Die Sinnes- und Lebenseindrücke, die Goldmund erfahren hatte, führten dazu, dass er sich von diesen Eindrücken nicht mehr befreien konnte. Er war in gewisser Weise in seiner Psyche eingesperrt, gefangen genommen von dem, was ihn im Leben tief berührt, verletzt, erfreut, genährt und im Stich gelassen hatte. Wenn wir keinen Abstand mehr finden können, zu ganz tief liegenden emotionalen Erfahrungen, sie gleichsam zum Zentrum dessen werden, um das unser Leben sich dreht, kreisen wir um die immer selben Gefühle und sperren uns damit nicht nur selbst, sondern auf Grund unserer emotionalen Anhaftung auch andere ein. Die sinnliche Erfahrung kann dann zu unserer Obsession und Fixierung werden. Die Verfolgung dieser Obsession wird im schlimmsten Fall zur Tyrannei, die andere in einen goldenen Käfig sperrt und ihnen die Freiheit nimmt. An diesem Punkt sind wir nur noch von unseren Emotionen gesteuert. Es ist ein Zustand einer Art reinen Gefühls, der fixierten Vorlieben und Abneigungen, das uns in ein lebensfeindliches Verhaftet-Sein führt. Wir müssen dem Unbekannten und Ungewissen begegnen, um aus einer solchen Anhaftung herauszukommen. Die zyklische Kreisbewegung muss hin in eine Vorwärtsbewegung durchbrochen werden. Das Denken und das Fühlen müssen sich treffen, Kopf und Herz müssen sich finden. In dieser Spannung stehen Narziss und Goldmund in der Geschichte von Hermann Hesse. Sie liebten und brauchten einander, doch um was sie beide rangen, war die Überwindung dieser Gegensätze. Das Rad dreht sich weiter vom Denken und Fühlen hin zur Berührung der Welt im Empfinden derselben.
[i] HESSE, H.: Narziß und Goldmund, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Ulm, 1975