
K O N T A K T
Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
Von Rahmenbedingungen, Gesetzen und Normen
Es wird oft gesagt, dass Spiritualität schwer zu definieren ist. Jeder verstehe darunter etwas anderes. Der Begriff sei unscharf und unbestimmt. Ich sehe es sehr einfach. Spiritualität ist unsere Teilhabe am Kosmos. Es ist unser Eingebunden-Sein in das Große und Ganze. Spiritualität ist das Einssein mit dem Leben und es ist das Einende im Leben.
Wenn wir geboren werden, treten wir an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in Erscheinung. Es ist ein wenig so als beginnt man einen neuen Job in einem Unternehmen. Man wird mit bestimmten Personen bekannt gemacht, lernt das nähere Umfeld kennen, erfährt von Regeln und Normen, die es einzuhalten gilt und versteht mit der Zeit welche Freiheiten man hat und welche man nicht hat. Man lebt in einer bestimmten Kultur, einem bestimmten politischen und religiösen Umfeld und partizipiert an den sozialen Strukturen, die vorhanden sind.
Dieses Leben gibt uns einen Rahmen vor. Wir werden durch die Gravitation bestimmt, haben einen Körper, den wir gemäß seinen Funktionen unter Berücksichtigung der biologischen, physikalischen und chemischen Bedingungen nutzen können, sind mit einer Seele und einem Verstand ausgestattet, die unser psychisches und geistiges Leben ermöglichen und finden ein Umfeld vor, das wiederum festlegt, wie wir uns entfalten und entwickeln können. Dieser Rahmen schenkt uns die Möglichkeit, unser Leben zu gestalten und so unsere Freiheit zu entfalten. Dieser Rahmen bestimmt aber gleichzeitig die Grenzen, die wir nicht überschreiten können. Meist sind diese Grenzen aber weiter gesteckt als angenommen.
Neben diesen augenscheinlichen Rahmenbedingungen gibt es weitere Bedingungen, die unser Leben bestimmen. Das Leben hat einen inneren Rhythmus. Es legt fest, wie lange es dauert, bis ein Kind geboren wird. Es steckt den Rahmen ab, wann ein Kind welche Entwicklungen beim Großwerden machen sollte. Es gibt sensible Phasen. Wenn diese versäumt oder übersehen werden, ist eine Entwicklung zwar noch möglich, aber fällt nicht mehr so leicht und verläuft meist nicht mehr so optimal wie in jenen Fällen, bei denen der rechte Zeitpunkt eingehalten wird. Dieser Rhythmus bestimmt aber nicht nur unsere körperliche Entwicklung. Auch wenn es uns nicht immer klar ist, dieser Rhythmus bestimmt auch unsere seelische und geistige Entwicklung. Das Leben eröffnet bestimmte Themen, die jedes einzelne Leben in ganz besonderer Weise bestimmen. Manche dieser Themen spielen nur kurze Zeit eine Rolle. Es gibt aber Themen, die sich über weite Strecken unseres Lebens entfalten. Manche Themen tauchen dann im Leben von Menschen wieder und wieder auf. Bei manchen Menschen spielen sich die Themen vorrangig im Beruf, bei anderen in der Paarbeziehung, bei wieder anderen in der Familie oder in der Gemeinschaft, in der sie leben, ab. Verschiedene Themen laufen parallel oft mit unterschiedlichen Rhythmen. Unser Leben ist hochkomplex und vielschichtig. Die angesprochenen Rhythmen koordinieren diese Komplexität, die sonst kaum zu bewältigen wäre. Nicht selten brechen wir den Rhythmus und unser Leben wird chaotisch. Wir fühlen uns ausgebrannt und niedergeschlagen, rebellieren oder verzweifeln. Doch der Rhythmus hat seine eigene Macht und seinen eigenen Weg.
Kant meint, dass wir so handeln sollten, dass es eine Vorbildwirkung für andere haben kann. Doch die Themen der Menschen sind sehr unterschiedlich, jeder legt daher auf andere Dinge einen besonderen Wert. Was in einem Fall vorbildlich wirkt, ist in einem anderen Fall vielleicht gerade das Gegenteil. Wir können ein Vorbild für manche anderen Menschen sein. Für viele Menschen ist unser Leben und unser Handeln aber kein Vorbild, weil wir schlicht ihre Lebensthemen nicht oder nur am Rande berühren. Jeder Mensch lebt in seiner ureigenen Welt. Wir haben das Leben der anderen nicht gelebt und können daher ihr Leben auch nicht so verstehen und begreifen wie sie selbst. In der körperlichen Welt machen wir die Erfahrung, dass wir z.B. gemeinsam einen Berg besteigen können und dann vom Gipfel aus die gleiche Landschaft um uns herum sehen. Was das individuelle Leben eines Menschen anbelangt, stehen wir nie am gleichen Gipfel wie eine andere Person. Wenn wir in der gleichen Familie aufgewachsen sind, liegen die Gipfel vielleicht nicht so weit auseinander und wir nehmen die Umgebung ähnlich wahr. Wenn wir aber aus unterschiedlichen Familien, Kulturen, Weltregionen und politischen und religiösen Anschauungen kommen, wird sich die Weltsicht von einem Gipfel aus mit jener von einem anderen Gipfel aus nicht mehr vergleichen lassen, auch wenn wir in der gleichen Welt leben.
An diesem Punkt wird Spiritualität von besonderer Bedeutung. Sie ist die verbindende und einende Kraft, die über unser individuelles Leben hinausgeht und es gleichzeitig ermöglicht. So wie die oben angesprochenen Rhythmen sehr universal wirken, gibt es noch weitere Rahmenbedingungen, die uns als Menschen verbinden. Wir Menschen teilen die Erfahrung, was es bedeutet, nichts zum Essen und Trinken zu haben, nicht versorgt und allein gelassen zu werden. Wir alle verstehen, was es heißt, wenn die lebenserhaltenden Kräfte aus welchem Grund auch immer, auslassen.
Jeder Mensch kennt die Notwendigkeit, immer wieder aufbrechen und sich auf den Weg machen zu müssen. Das Weggehen und Heimkommen sind für jeden Menschen gängige Erfahrungen. Jeder Mensch wird mit Liebe und Hass konfrontiert. Wir sind soziale Wesen und erfahren alle die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Zusammenlebens. Wir alle kennen die Geburt und wir alle sind mit dem Tod schon vielfach in Berührung gekommen. Auch diese Erfahrungen und Herausforderungen sind universal. Wir alle wissen um die Notwendigkeit, Überkommenes und Altes zurückzulassen und uns neuen Dingen zuzuwenden. Über diese Themenkomplexe hinaus haben wir alle die gleichen Erfassungs- und Verarbeitungsmodi. Alle Menschen können DENKEN, FÜHLEN, EMPFINDEN und INTUIEREN (siehe Abbildung 17).[i]
Wir alle teilen auch die gleichen Verhaltensmodi. Wir kennen ein WOLLEN, ein SOLLEN, ein KÖNNEN, ein MÜSSEN, ein DÜRFEN und ein MÖGEN. So unterschiedlich unser Leben im Detail auch sein mag, so trennend mancher Lebensstil, manche Kultur, manche sprachliche Unterscheidung auch ist, wir teilen ein gemeinsames Mensch-Sein, das uns über alle Grenzen hinweg verbindet. Auf dieser Ebene macht Kants Forderung, Vorbild zu sein, wieder Sinn. Wenn wir lernen, diese universalen Rahmenbedingungen und Kräfte anzunehmen, richtig und lebensfördernd einzusetzen, dann kann daraus tatsächlich ein Handeln erwachsen, das vorbildlich ist. Doch das ist keine Leistung unserer Vernunft, die mit den unterscheidenden Besonderheiten unseres Lebens verbunden ist, sondern eine Leistung unserer Spiritualität. Unsere Vernunft blickt auf unsere Prägungen im Detail. Diese wirken tendenziell eher trennend als verbindend. Ein spirituelles Bewusstsein blickt auf die Rahmenbedingungen im Großen und Ganzen. Es ist einend und verbindend. Im Fall der Vernunft nutzen wir primär unser Denken, im Fall der Spiritualität nutzen wir primär unsere Intuition.

Abbildung 17: Erfassungs- und Verarbeitungsmodi nach C.G. JungGrafik-Design: © bei Christoph Paul Stock |
Viele Religionen und Glaubensanschauungen sind sich darin einig, dass es einen Geist gibt, der alle Dinge durchzieht. Dieser Geist ist die rahmengebende Kraft, in ihm sind die lebensgesetzlichen Normen zu finden, in ihm ist die Einheit aller Dinge gegeben.