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Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

 

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© Dr. Christoph Paul Stock

 

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KAPITEL 13: VON DER PROBLEM- ZUR KREATIVITÄTSORIENTIERUNG

 

Kreativität ist das, an was es dem Bösen mangelt. Selbst wenn das Leben Dinge zerstört, hat es immer schon die kreative Neugestaltung im Blick. Das Leben zerstört nicht aus reiner Zerstörungslust, es zerstört, um Neues erschaffen zu können. Das unterscheidet das Leben fundamental von dem, was man als Lebensfeindlichkeit oder als das Böse bezeichnet. Eine der am schwierigsten zu fassenden und zu verstehenden Tatsachen ist jene, dass das Leben selbst das Böse noch nutzt, um etwas Kreatives, Wachstum und Weiterentwicklung hervorzubringen. Mephisto in Goethes Faust verkörpert diese Kraft. Wir werden mit dem Bösen konfrontiert, um an ihm wachsen und uns weiterentwickeln zu können. In dieser Auseinandersetzung liegt wohl die größte Herausforderung in unserem Leben. Hier sind wir auch am meisten gefordert, nicht selbst böse und lebensfeindlich zu werden. Die Konfrontation mit dem Bösen hat absolut das Potenzial, uns spirituell zu zerstören, uns auf sehr dunkle und finstere Wege zu führen, die uns im schlimmsten Fall an jenen Ort führen, der als Hölle bezeichnet wird. Diese Hölle finden wir an vielen Orten. Sie ist nicht nur ein Ort fernab unseres Alltagslebens. Sie entfaltet sich vor unseren Augen. Wir müssen nur die Nachrichten im Fernsehen einschalten.

 

Wir glauben, dass wir der Lebensfeindlichkeit vielleicht mit der Wissenschaft Herr werden können. Wir versuchen das lebensfeindliche Verhalten als eine Art Krankheit zu behandeln und es als psychologisch beschreibbares und psychopathogenes Verhalten bestimmter Personen festzumachen, das therapiert und geheilt werden kann.[i] Aus meiner Sicht geht das Böse aber über diese personale Sichtweise hinaus und hat einen kollektiven Aspekt. Wenn negative und lebensfeindliche Tendenzen durch ein Verhalten, Handeln und Unterlassen ständig wiederholt werden, entstehen aus den Tendenzen negative Gewohnheiten, zerstörerische Verhaltensmuster und schließlich destruktive Haltungen. Diese können in einer Person aber auch in mehreren Personen so stark resonieren, dass sie eine Art Eigenleben auf geistiger Ebene entwickeln. Sie beginnen sich fast schon von allein zu manifestieren und sind nicht mehr auf eine bestimmte Person oder eine bestimmte Gruppe von Personen beschränkt. Dieser Geist kann ganze Völker ergreifen und sich in unterschiedlicher Art und Weise an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten manifestieren.

 

Die Tendenz fremde Menschen zu fürchten und ihnen gegenüber argwöhnisch zu sein, lässt sich leicht mit den Auseinandersetzungen um knappe Ressourcen erklären. Es gab in der Menschheitsgeschichte unzählige Ereignisse, bei denen Menschen von anderen überfallen wurden, weil die Angreiferinnen und Angreifer ihr Hab und Gut und das Land haben wollten, auf dem sie lebten. Diese in den Menschen vorhandene und verständliche Furcht lässt sich leider sehr gut nutzen, um mit Fremdenangst Politik zu machen. Man instrumentalisiert dann ganz geschickt die Angst vor dem Fremden, um sich von den Fremden etwas nehmen zu können, was einem gar nicht zusteht, oder ihnen die Hilfe zu verweigern, obwohl die Situation eine Hilfestellung notwendig machen würde und die Mittel für die Hilfe zur Verfügung stehen. Aus einer berechtigten Furcht wird ein negatives Verhaltensmuster, das dann zu einer destruktiven Haltung wird, wenn man dieses Verhalten zur politischen Maxime erklärt und man ausreichend viele Menschen von dieser Maxime überzeugen kann. Aus einer politischen Haltung kann so eine grundsätzliche Geisteshaltung, eine geistige Struktur werden, die ein Eigenleben hat und sich unter bestimmten Voraussetzungen fast automatisch verkörpert, ohne auf die in der Situation konkret bestehenden Gegebenheiten zu achten. Liefert eine solche Struktur vorrangig Tod und Zerstörung, vernichtet sie Leben, statt Lebensmöglichkeiten zu schaffen, kann man davon ausgehen, dass die Geisteshaltung lebensfeindlich ist.

 

In diesem Sinn ist das Böse eine geistige Struktur lebensfeindlicher Konzepte, das ständig versucht, sich in der Welt zu verkörpern. Es hat einen spirituellen Charakter und ist immerfort auf der Suche nach Energie, weil es sich aus dem großen Energiefluss des Lebens herausgenommen hat, um unabhängig zu sein.

 

Spirituell müssen wir uns entscheiden, ob wir dem Lebensfluss folgen oder außerhalb von ihm leben wollen. Diese Entscheidung treffen wir jeden Tag. Dem Lebensfluss zu folgen, ist eine enorme Herausforderung. Das Leben ist ständig in Bewegung, ändert laufend seine Richtung, ist völlig unberechenbar und von seinem Wesen her einfach wild. Ehrfurcht ist das Wort, das mir dazu einfällt. Doch das Leben gibt uns alles, was es hat. Es ist von unvorstellbarer Großzügigkeit und Offenheit. Es ist mitfühlend und sorgend, streng und fordernd. Es ist alle Gegensätze, die wir kennen und geht über all unsere sinnliche Wahrnehmung und all unser intellektuelles Verstehen hinaus. Es ist ein grenzenloses Phänomen.

 

Kreativität beschreibt dieses Phänomen vielleicht am besten. Wir sind mit einer unendlichen Schöpferkraft konfrontiert. Wenn wir uns vom Bösen fernhalten wollen, dann macht es wahrscheinlich weit mehr Sinn, sich den kreativen Kräften zuzuwenden, als das Böse ständig zu bekämpfen. Da es eine geistige Kraft mit eigener Struktur ist, können wir das Böse niemals besiegen oder vernichten. Wir können es allerhöchstens bannen und in die Schranken weisen. Loswerden können wir es nicht.

 

Die christlichen Kirchen haben über die Jahrhunderte hinweg ein besonderes Augenmerk auf die Dichotomie von Gut und Böse gelegt. Die Lehre von den Sünden und Tugenden, der immer wieder dargestellt Kampf zwischen Gut und Böse, die klare Unterscheidung von Himmel und Hölle sind Ausdruck dieser Fokussierung. Vielleicht hat keine Glaubensgemeinschaft so tief in die Abgründe des Bösen geblickt wie das Christentum und dabei auch wichtige und entscheidende Erkenntnisse gewonnen. Unsere Kultur ist von dieser Ausrichtung geprägt und beeinflusst. Wir haben gelernt, das Böse zu erkennen und zu benennen. Wir haben die Auffassung angenommen, dass man die Dunkelheit bekämpfen muss. Dann wird das Schlechte bekämpft und gegen die Dunkelheit mobil gemacht. Es wurden unzählige Kreuzzüge gegen das Böse geführt und versucht, es loszuwerden, auszutreiben und es zu vernichten. Wenn man sich ansieht, was in der Welt jeden Tag passiert, wird ersichtlich, dass das Böse in der Welt wütet wie eh und je.

 

Wenn wir versuchen, das Gute hervorzubringen, indem wir das Böse erkennen, um so zu verstehen, was das Gute im Gegensatz zum Bösen ist, bleiben wir in der Dichotomie von Gut und Böse verhaftet. Natürlich ist es wichtig, das Schlechte, das Dunkle und Negative zu benennen. Wenn wir das nicht tun, kann diese finstere Kraft im Verborgenen ihr Unwesen treiben und wir sind ihr hilflos ausgeliefert. Wir müssen sie benennen und uns gegen sie stellen. Aber wir müssen auch verstehen, dass wir die Dunkelheit nicht durch einen Kampf mit moralischen Mitteln, indem wir das Gute als das schlichte Gegenteil des Bösen verstehen, besiegen können. Wir glauben dann gut und tugendhaft zu sein, weil wir gegen das Böse sind. In diesem Streben ist es sogar wahrscheinlich, dass uns die Moral in die eigenen Abgründe führt und uns das Böse dort auf subtile Weise in seinen Bann zieht und uns selbst zu negativem Handeln verführt. Hier kann rasch aus Tugend ein scheinheiliges und abgründiges Verhalten werden.[ii] Es reicht nicht, einfach dagegen zu sein. Wir müssen für das sein, was lebendig, lebensfördernd und positiv ist. Das Böse ist einfach ein negativer Zustand. Es ist die Abwesenheit der Verbundenheit mit dem Lebensfluss. Das Gegenteil zum Bösen bringt uns nicht zwingend in Verbindung mit dem Lebendigen.

 

Ich habe oft den Eindruck, dass das Leben im Umgang mit dem Bösen eine ganz andere Strategie verfolgt. Es ist wie ein großer Baum, der sich auf der einen Seite gegen die Angriffe stellt. Auf dieser Seite des Baumes wird das Böse gebannt und abgehalten weiter in den Baum einzudringen. Die Rinde des Baumes, die Äste und Zweige sind vielleicht versengt und verbrannt, doch auf der anderen Seite des Baumes erschafft das Leben schon das Neue. Dort ist es schöpferisch und kreativ, dort sprießen neue Zweige und Blätter, man vernimmt das Pfeifen eines Vogels, sieht wie die Käfer und Ameisen auf der Rinde unterwegs sind und spürt den lauen Abendwind im Licht der Sonne. Mit dem Atombombenabwurf in Hiroshima am Ende des zweiten Weltkrieges wurde in einer unvorstellbaren Gewalt eine ganze Stadt ausgelöscht. Nicht lange nach der Explosion, die jegliches Leben vernichtete, spross im Zentrum der Stadt aus einem völlig versengten Ginkgo[iii] ein Blatt. Der Baum hatte überlebt. Das Leben erhob sich aus der Asche. Martin Luther soll gefragt worden sein, was er tun würde, wenn morgen die Welt untergeht. Er habe gemeint, dass er einen Apfelbaum pflanzen würde. Das Lebendige ist nicht nur das Gegenteil des Lebensfeindlichen. Das Lebensfeindliche ist zwar subtil, gefinkelt und schlau und man muss sich davor sehr in Acht nehmen, aber in einem gewissen Sinn ist es auch borniert und langweilig. Es entsteht aus einer dauernden Wiederholung der gleichen negativen Muster. Doch das Lebendige ist das Licht schlechthin. In seiner Gegenwart kann sich die Dunkelheit nicht halten. Auch das ist eine Erkenntnis, die nicht nur von den Kirchen, sondern von vielen religiösen und spirituellen Traditionen vermittelt wird.

 

Aus dieser Einsicht ergibt sich eine weitere Erkenntnis. Wenn wir ständig um die Probleme kreisen, immer nur von dem sprechen, was schlecht ist, negativ wirkt oder nach unserer Einschätzung sogar böse ist, bleiben wir problem- und vergangenheitsorientiert. Wir blicken gebannt auf diesen negativen Zustand und werden von ihm gefangen genommen. Doch die Energie folgt der Achtsamkeit. Sie geht dahin, wohin wir blicken. Unsere Beobachtung lässt die Realität entstehen. Wenn wir ständig auf die Probleme fixiert sind, ist unsere Energie auch in den Problemen verhaftet. Dann schafft die Auseinandersetzung mit Problemen vielfach einfach neue Probleme und wir drehen uns im Kreis, ohne aus dem Karussell aussteigen zu können. Ja, wir müssen in einem ersten Schritt das Problem benennen und verstehen, um ihm die Chance zu nehmen, uns rücklinks zu überrumpeln und uns Schaden zuzufügen. Ignoranz ist gefährlich, weil sie das Problem ins Unbewusste befördert, von wo aus es uns getarnt und unsichtbar angreifen und attackieren kann. Dagegen müssen wir uns wappnen. Doch wenn das Problem gebannt ist, geht es in einem zweiten Schritt darum, aus der Problem- und Vergangenheitsorientierung auszusteigen, das Problem nicht mehr besessen anzustarren oder gegen es zu kämpfen oder gar Krieg zu führen, sondern uns einer Lösungs- und Kreativitätsorientierung zuzuwenden. Das Kreative entspringt den höheren Mächten des Lebens. Wir müssen kooperativ mit diesen Mächten schöpferisch tätig werden. Aus diesem Grund reicht eine psychische Auseinandersetzung mit schwierigen Lebensproblemen meist nicht aus, um diese zu überwinden. Psychotherapie oder psychologische Beratung sind in vielen Fällen nur der halbe Weg, um tiefliegende Lebensfragen zu bewältigen. Wir benötigen die Einbindung in das Große und Ganze, um über die Probleme hinaus dem Lebensfluss folgen zu können. In diesem Sinn ist Spiritualität nicht nur eine Sache für an Religion interessierte Menschen, nicht nur ein Thema für diejenigen, die einen starken Glauben haben. Spiritualität richtet an jeden von uns täglich die Frage, wo wir selbst und warum wir gerade dort im Leben stehen.


[i] Morgan Scott Peck hat ein Buch über die Möglichkeit einer psychologischen Behandlung des Bösen geschrieben. Peck geht davon aus, dass eine solche Psychologie entwickelt werden kann und das Böse behandlungsfähig ist. Aus seinen Fallbeschreibungen, die sich nicht nur mit klassischen psychotherapeutischen Fällen, sondern auch mit Exorzismen beschäftigen, kommt klar zum Ausdruck, wie gefährlich und fordernd die Auseinandersetzung mit dem Bösen ist. Der Therapeut ist jedenfalls immer auch in seiner eigenen Person gefährdet, wenn er sich mit derart schwierigen Fällen befasst. Peck arbeitet auf beeindruckende und gleichzeitig bedrückende Art und Weise heraus, was das Böse im Gegensatz zu klassischen Krankheiten ausmacht, und geht dabei auf das individuelle Böse genauso ein wie auf das kollektive Böse. Für dieses Buch braucht man starke Nerven, weil die Konfrontation mit dem Bösen schlicht belastend und extrem energiezehrend ist. Vgl. in: PECK, M.S.: Die Lügner, Eine Psychologie des Bösen - und die Hoffnung auf Heilung, Claudius Verlag, München, 1990, S. 285 ff
 
[ii] Es gibt dazu eine wunderbare Geschichte mit dem Titel „Rain“ von William Somerset Maugham, dem englischen Erzähler und Dramatiker, in der ein Missionar Menschen zu einem tugendhaften Leben bekehren möchte und dabei selbst seiner fleischlichen Lust verfällt. Maugham, W. S.: The Complete Short Stories, Volume 1, William Heinemann Ltd., London, Melbourne, Toronto, Cape Town Auckland, 1967, S.1ff
 
[iii] Man nennt Bäume, die den Atomangriff in Hiroshima überlebt haben, Hibaku jumoku, was übersetzt bedeutet, dass sie bombardiert wurden.

 

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