
K O N T A K T
Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
KAPITEL 14: TRANSFORMATION UND TRANSZENDENZ
Die Psychologie beschäftigt sich mit dem Verhalten von Organismen, deren mentalen Prozessen und Erleben. Verhalten ist dabei alles, was ein Organismus macht und damit jede Handlung, die beobachtet werden kann. Mentale Prozesse sind innersubjektive Erfahrungen, die von außen nur aus dem Verhalten erschlossen werden können.[i]
Psychologische Intervention, psychologische Beratung und Psychotherapie unterstützen Menschen, wenn Verhalten oder mentale Prozesse zu einem leidhaften Erleben führen, das für den Menschen nur mehr schwer oder nicht mehr zu tragen bzw. ertragen ist und der Mensch den Wunsch entwickelt oder dazu gezwungen ist, etwas in seinem Leben zu verändern, um ein freudvolleres und glücklicheres Erleben zu erreichen.
Diese Interventionen sind im Grunde Verbesserungsprozesse. Es wird versucht, durch die Reflexion bisherigen Verhaltens und durch die Erforschung laufender mentaler Prozesse herauszufinden, was zum belastenden Erleben führt. Es wird darauf abgezielt, im hilfesuchenden Menschen durch eine Perturbation zu bewirken, dass er selbst das habituelle Verhalten und die eingefahrenen Denkmuster, die zum Leiden führen, aufbricht, unbewusste Inhalte ans Licht bringt und neue Wege und Perspektiven für sich sucht und entdeckt. Dies ist ein Prozess, der je nach Tiefe der Problemlage unterschiedlich viele Interventionen und damit Zeit in Anspruch nehmen kann.
Auch wenn es viele Problemlagen gibt, die durch eine solche Verbesserung und eine psychologische Unterstützung optimiert werden können, gibt es Situationen, in denen eine Verbesserung nicht oder nicht mehr möglich ist. Noch so viele Therapiestunden oder Beratungseinheiten bringen keine positive Veränderung. Dann braucht es einen Akt der kreativen Neuschöpfung. Mit einer solchen Neuschöpfung wechselt man aus einem Prozess der Transformation, der etwas verbessern möchte, in einen Prozess der Transzendenz, der etwas völlig neu erschafft. Die Karten werden neu gemischt. Man wechselt von der Psychologie in die Spiritualität.
Ich will dies anhand eines Beispiels illustrieren: Im kanadischen Montreal gibt es eine Brücke, die über den Sankt-Lorenz-Strom führt. Diese Brücke mit dem Namen Champlain-Bridge / Pont Champlain ist eine der wichtigsten Verkehrsverbindungen in Kanada mit einer enorm großen Verkehrsbelastung an 365 Tagen im Jahr. Diese Brücke wurde im Jahr 1962 errichtet und sollte 100 Jahre halten. Tatsächlich wurde sie nach 60 Jahren so baufällig, dass eine neue Brücke errichtet werden musste. Die alte Brücke konnte nicht mehr ausgebessert werden. Die Stadtregierung von Montreal hat von den Bauverantwortlichen eine bautechnische Neuerrichtung der Brücke in einer Form verlangt, dass die Brücke in den nächsten 125 Jahren für den Verkehr genutzt werden kann. Die neue Brücke wurde im Jahr 2019 in Betrieb genommen. Obwohl sie dem gleichen Zweck wie die alte Brücke dient, ist sie völlig anders aufgebaut und konstruiert. Sie hat technische Besonderheiten, die helfen sollen, die Einwirkungen auf die Struktur des Bauwerks durch die gewaltigen Temperaturschwankungen im Jahresverlauf möglichst gering zu halten, die Eisbildung am Sankt-Lorenz-Strom unbeschadet zu überstehen, die starken Kräfte, die durch den Wind auf die Brücke einwirken, auszugleichen und die Korrosion des Betons und das Rosten des Stahls so weit wie möglich hintanzuhalten. Diese neue Brücke ist eine technische Glanzleistung und eine Neuschöpfung. Sie enthält Verbesserungen gegenüber der alten Brücke, ist aber technisch gesehen ein ganz neues Bauwerk. Man versucht, Fehler, welche den raschen Zerfall der alten Brücke verursacht haben, nicht mehr zu machen und mit innovativen Techniken eine Brücke zu gestalten, die den Anforderungen der Zukunft länger standhalten wird als die alte Brücke. Die Errichtung eines solchen Bauwerkes ist ein evolutiver Prozess, weil Erfahrungen der Vergangenheit mit einem schöpferischen Neugestaltungsprozess kombiniert werden. Man kann auch sagen, dass hier Intelligenz am Werk ist, weil in der Vergangenheit Gelerntes in einer völlig neuen Situation kreativ eingesetzt wird.[ii]
Die meisten Strömungen der modernen Psychologie sind vergangenheitsorientiert. Sie versuchen, vergangenes Verhalten und Erleben zu verstehen und dadurch eine Anpassung des Verhaltens und Änderung des Erlebens zu erreichen. Das ist so, wie wenn man die alte Brücke in unserem Beispiel saniert, damit sie weiter genutzt werden kann. Ein solches Vorgehen macht Sinn, wenn die alte Brücke noch in einem guten Zustand ist und eine Sanierung weniger aufwändig ist als der Neubau einer Brücke. Doch wenn die Brücke immer mehr zum Problemfall wird und langsam, aber sicher einzustürzen droht, werden die Sanierungsarbeiten immer aufwändiger und kostspieliger, obwohl man nicht verhindern kann, dass das Bauwerk in naher Zukunft für den Verkehr nicht mehr sicher ist.
Daraus erschließen sich zwei Dinge. Man muss erkennen, wann es keinen Sinn mehr macht, ein altes System weiter aufrecht zu erhalten, weil es so baufällig geworden ist, dass ein Abriss mehr Sinn macht als eine Sanierung. Darüber hinaus ist es wichtig, rechtzeitig die Weichen für eine kreative Neuschöpfung zu stellen, damit man nicht irgendwann ohne Brücke dasteht und der Verkehr massiv ins Stocken gerät. Beide Fragen haben einen ökonomischen, psychologischen und spirituellen Kontext.
Es gibt in der Psychologie auch Strömungen, die lösungs- und zukunftsorientiert sind. Hier versucht man auf dem aufzubauen, was funktioniert. Man fragt also danach, was aktuell schon den Unterschied macht und zu einer besseren Situation führt. Der Blick wird nicht in die Vergangenheit mit der Frage gerichtet, wie es zur Situation kam. Es wird darauf verzichtet, den Ursachen-Wirkungszusammenhang im Detail analytisch verstehen zu wollen. Vielmehr richtet sich der Blick auf eine positive Veränderung. Es wird also darauf aufgebaut, was schon ganz ist und vermieden, etwas zu reparieren, was nicht kaputt ist. Damit steht die Lösung und nicht das Problem im Vordergrund.[iii] Es geht um ein neugieriges Suchen nach neuen Wegen, von denen man sich durchaus überraschen lässt.
Die Gefahr solcher lösungsorientierten Ansätze liegt meines Erachtens darin, dass man beginnt, sich selbst eine neue Geschichte zu erzählen, die eine positive Sicht der Lebenssituation in den Vordergrund stellt. Man kommt in die Nähe des positiven Denkens, bei dem es nicht um spontan kreative Lösungen geht, sondern um subjektive Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen, die in die Zukunft projiziert werden. Sie stellen einen Gegenpol oder eine Gegenbewegung zu den negativen Erfahrungen dar, die man gemacht hat. In diversen Fällen kann das hilfreich sein. Es kann aber auch dazu führen, dass man beginnt, in einer in die Zukunft übertragenen Fantasiewelt zu leben. Aus meiner Sicht fehlt dabei oft die Rückverbindung an das Weltganze. Man möchte sich selbst eine Zukunft gestalten, in der die eigenen Probleme der Vergangenheit gelöst sind. Dabei berücksichtigt man nicht ausreichend die Zukunft anderer, die von meiner persönlich kreierten Zukunft mit betroffen sind. Man ist auf die eigene psychische Verfassung fokussiert und übersieht die Wirkung im systemischen Umfeld des eigenen Lebens.
Kreative Neuschöpfungen, wie ich sie oben am Beispiel der Champlain-Brücke beschrieben habe, sind daher aus meiner Sicht nicht die Domäne der Psychologie, sondern die Domäne des schöpferischen Geistes. Sie sind nicht psychischer, sondern spiritueller Natur. Es geht nicht nur darum, eine Form zu verändern, sondern darum, eine ganz neue Form zu schaffen. Es geht nicht darum, das Überleben einer bestehenden Struktur zu gewährleisten, sondern die Zerstörung der alten Struktur zuzulassen. Es geht nicht um Transformation, sondern um Transzendenz.
Der Geist bringt zum Ausdruck: „Siehe ich mache alles neu!“. Der Geist gestaltet nicht nur mein Leben neu, sondern das Leben generell. Die Neuschöpfung betrifft nicht nur mich, sondern betrifft mich auch, so wie sie viele andere Menschen ebenfalls betrifft. Der Geist ist kein Instrument der persönlichen Wunscherfüllung, sondern ein universelles Phänomen des Seins.
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Spirituellen ist ebenfalls schnell ersichtlich. Alte Strukturen werden abgerissen, um neuen Strukturen Platz zu machen. Die Instandhaltung und Sanierung der alten Brücke wird aufgegeben, die Zufahrten zur alten Brücke mit der Inbetriebnahme der neuen Brücke abgerissen und das alte Bauwerk abgetragen oder dem natürlichen Zerfall preisgegeben. Es kommt also nicht nur zu einer kreativen Gestaltung eines neuen Bauwerkes, sondern auch zu einer kreativen Zerstörung der alten Konstruktion. Die Energie und die Ressourcen, die zuvor in den Erhalt der alten Brücke geflossen sind, werden nun für die Errichtung und den Betrieb der neuen Brücke eingesetzt. Das Alte wird aufgegeben, um das Neue zu ermöglichen. Es stehen die Energie und Ressourcen nicht zur Verfügung, die alte und die neue Brücke zu erhalten und zu betreiben. Daher muss die alte Brücke sterben. Der Geist ist ein kreativer Zerstörer in dem Sinn, dass er die Energien aus dem alten System herausnimmt, um sie in einem kreativ neu gestalteten System zu nutzen.
Aus dem gerade Gesagten erschließt sich eine weitere Besonderheit des Geistes. Der Geist bindet sich weder an das Materielle noch an das Psychische. Das Materielle ist eine Ansammlung von Materieteilchen, die in einer bestimmten Struktur auftreten. Das Psychische ist eine Ansammlung an Erfahrungen, die in einem narrativen zeitlichen und räumlichen Kontext strukturiert sind. In einer schöpferischen Neugestaltung werden Materieteilchen und Erfahrungen der Vergangenheit wie ein Kunstwerk durch den Geist neugestaltet. Sie verlieren in einem gewissen Sinn ihre bisherige materielle Struktur sowie ihre bisherige zeitliche und räumliche Einordnung und werden neu angeordnet. Der Geist bricht materielle und psychische Entwicklungen in Zeit und Raum auf und bringt spontan etwas Neues in der Welt hervor. In unserem Beispiel werden Brückenpfeiler so geformt, dass sie das winterliche Eis im Fluss nicht beschädigen kann. Fahrbahnen werden vertikal auf unterschiedlichen Ebenen angeordnet, damit sie für den Wind keine Angriffsfläche bieten. Das Abflusssystem der Fahrbahn wird so gestaltet, dass das Abwasser nicht in Berührung mit dem Beton des Bauwerks kommt, damit das im Abwasser durch das Salzen der Fahrbahn im Winter befindliche Salz nicht zum Stahl vordringen kann und diesen zum Rosten bringt, was Korrosionsschäden verursacht. Die Fahrbahn wird aus einem besonderen Dichtbeton gefertigt, damit das Wasser nicht durchdringen und den Stahl beeinträchtigen kann. All diese Bautätigkeiten sind in einem gewissen Sinn der materiellen und zeitlich-räumlichen Zuordnung der Vergangenheit enthoben. Die angesprochenen Problemlagen haben sich im Verlauf der Vergangenheit zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten gezeigt. Nun werden diese Situationen aus ihren materiellen sowie zeitlich-räumlichen Kontext gerissen und nehmen durch eine kreative Neuschöpfung spontan in einem neuen Bauwerk Gestalt an. Vermittelt über den Geist formt die Erfahrung der Vergangenheit verbunden mit einer kreativen Neugestaltung eine neue materielle Struktur in Zeit und Raum.
In diesem Sinn wirkt der Geist nicht in der Welt, sondern auf die Welt der materiellen und psychischen Erscheinungen ein. Man könnte die materiellen und psychischen Strukturen als Realität bezeichnen. Real ist in diesem Verständnis das, was wir mit unseren Sinnen in der Welt vorfinden und intellektuell mit unserem Verstand verarbeiten können. Das, was aus dem Geist spontan entspringt, ist eher eine Wirkkraft, die in unsere Realität dringt. Den Bereich, aus dem der Geist kommt, könnte man daher als Wirklichkeit bezeichnen, also jenen Bereich, der Wirkung entfaltet. In diesem Sinn ist der Geist nicht eine Realität in der Welt, sondern eine Kraft, die in die Welt hineinwirkt. Der Geist hat also etwas Transzendentes an sich.
Wenn materielle sowie zeitliche und räumliche Strukturen aufbrechen und spontan neu geordnet und strukturiert werden, verlieren der diskursive Intellekt, der unsere Sinneseindrücke ordnet und verarbeitet genauso an Bedeutung wie unsere emotionalen Prägungen, die Erlebtes aus der Vergangenheit bewerten. Das kreative Wirken des Geistes kann daher weder intellektuell noch emotional erfasst werden. Was wir intellektuell bearbeiten und verarbeiten und emotional bewerten und einordnen können, sind aktuelle und vergangene Sinneseindrücke. Die kreative geistige Wirkkraft ist aber weder dem Denken noch dem Fühlen und auch nicht dem Empfinden zugänglich. Hier müssen wir unsere Sinne und die Verarbeitung ihrer Eindrücke aufgeben und uns auf das Einlassen und Verlassen, was man Intuition nennt. In der Realität verbindet sich diese kreative Schöpferkraft mit den Erfahrungswerten der Vergangenheit zu einer intelligenten Lösung. In unserem Beispiel entsteht eine Brücke mit einer Bauweise mit intelligentem Design.
Es wird klar, dass der Geist nicht unserem Intellekt bzw. unserem Verstand entspricht. Der Geist ist kein Wissen wie es ist. Der Geist ist kein Denken. Der Geist ist die Kraft, die das Denken erst hervorgebracht hat. Der Geist ist eine Intelligenz, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenbringt und sich im gegenwärtigen Moment spontan und kreativ entfaltet. Diese Intelligenz befindet sich nicht in einem einzelnen Gehirn oder in einer bestimmten Anzahl von Büchern. Der Geist nutzt alle Gehirne und alle Informationen, die vorhanden und in einem bestimmten Fall relevant sind. Seine Quelle ist nicht ein bestimmtes Wissen und auch nicht eine bestimmte Erfahrung, sondern eine Art Gesamtschau aller relevanten Dinge. Diese Gesamtschau entspricht mehr einem Bewusstsein als einem Wissen oder einem Verstehen. Es ist ein Ahnen, ein Bauchgefühl, eine Intuition, von der die Richtung vorgegeben wird. Eine Baumeisterin bzw. ein Baumeister, die bzw. der ein Leben lang Brücken gebaut und damit unglaublich viel Wissen, Verstehen und sehr viel Erfahrung angesammelt hat, entwickelt ein besonderes Gespür für Herausforderungen und Problemlagen beim Brückenbau. Wenn ein bisher unbekanntes und noch nicht dagewesenes Problem auftritt, bei dem man nicht sicher ist, wie man es lösen soll, macht es Sinn, die erfahrene Person nach der Meinung zu fragen. Diese Person wird die Antwort auch nicht wissen, aber ihre gesamte Erfahrung, ihr gesamtes Wissen, ihr Know-how werden dazu führen, dass sie hinsichtlich verschiedener Lösungsansätze ein positives oder negatives Bauchgefühl hat. Ihrer Einschätzung und Intuition zu vertrauen, ist zwar keine Garantie, dass es passt, aber die Chancen stehen gut.
Der Geist selbst ist der Baumeister des gesamten Universums und allen Lebens, das darin ist. All unsere Ansammlung an Wissen, Erfahrung, Know-how ist im Vergleich zu dieser Intelligenz sehr gering und klein. Bei allen kleinen und großen Errungenschaften der Menschen spielt die Unterstützung durch den Geist die entscheidende Rolle. Auf diese immense Kraft zu verzichten, ist bei allen wichtigen Fragen unseres Lebens schlicht unvernünftig. Es wäre so, als würden Kinder auf die Autorität der Erwachsenen verzichten und glauben, sie könnten alles ohne die Erfahrungen der Älteren erlernen und bewerkstelligen. In einem solchen Fall müsste man z.B. das Rad immer wieder neu erfinden, weil die kreativen Leistungen der Vergangenheit nicht an die Gegenwart und Zukunft weitergegeben werden. Ein solches Vorgehen ist schlicht ignorant und widersinnig.
Die Existenz des Baumeisters des Lebens wird oft angezweifelt und an seine Stelle der reine Zufall gestellt. Dann bringt nicht eine höhere Intelligenz, sondern der Zufall die Welt hervor. Die Quantenphysiker sagen uns, dass im Bereich des ganz, ganz Kleinen tatsächlich der Zufall regiert. Doch sie sagen uns auch, dass es dort Wahrscheinlichkeitsverteilungen gibt. Gewisse Ereignisse sind wahrscheinlicher als andere. Diese Wahrscheinlichkeitsverteilung fühlt sich ein wenig an wie das Bauchgefühl der erfahrenen Person im Brückenbau, die oben erwähnt wurde. Es gibt eine Tendenz, eine Richtung, eine Vision aber keine ganz konkrete Antwort im Detail. Das Leben hat tatsächlich etwas Zufälliges an sich. Gleichzeitig hat es aber auch Tendenzen, die sich aus einer unvorstellbaren Vielzahl an Erfahrungen ergeben, in denen sich ein Gespür für die Machbarkeit verbirgt. Das Leben spielt mit dieser Machbarkeit. Nicht anders kann man die Entwicklung der Arten in der Evolution verstehen. Da gibt es Versuche, die nach kurzer Zeit wieder verschwinden. Andere Entwürfe halten sich nicht nur 100 oder 1000 Jahre, sondern Jahrmillionen wie z.B. die Prozesse der Mitose und Meiose in Körper- und Keimzellen von Pflanzen, Tieren und Menschen, bei denen es um die Kern- und Zellteilung sowie die Neuerschaffung von Zellen geht. Diese Prozesse ermöglichen, dass aus einer einzigen Zelle ein komplexes Lebewesen wird. Sie sind auch die Grundlage für die geschlechtliche Fortpflanzung.[iv]
Wir können es uns nicht so recht vorstellen, dass das Leben selbst spielerisch vorgeht, um die Welt zu erschaffen. Aber so scheint es zu sein. Das entspricht auch unserer eigenen Erfahrung. Kreativität lässt sich nicht zwingen, stellt sich kaum ein, wenn wir verbissen und übermäßig zielstrebig sind. Es braucht einen verspielten, unbeschwerten und entspannten Zugang zu den Dingen, um Kreativität zu ermöglichen. Zusätzlich hat Kreativität ihre Zeit. Sie taucht spontan auf und widersetzt sich vehement einem strikt planerischen und linearen Vorgehen. Das Leben kennt Versuch und Irrtum und manchmal braucht es viele Versuche, bis ein Irrtum erkannt, verstanden und überwunden werden kann. Forscherinnen und Forscher können ein Lied davon singen. Doch sie merken sich, was bei den verschiedenen Versuchen problematisch und was eher förderlich war. Jeder Versuch hilft weiter, selbst wenn er nur die Information liefert, dass es auf die versuchte Art und Weise gar nicht geht. So nähert man sich dem Forschungsgegenstand immer mehr an und gewinnt Erkenntnisse, die manchmal den Erwartungen völlig widersprechen. Forscherinnen und Forscher entwickeln ein Gespür für ihr Metier. Wenn sie erfolgreich sind, werden andere ihre Einschätzung und ihre
Überlegungen erfragen, um bei ihren eigenen Forschungsprojekten voranzukommen. Warum sollte das alles beim Baumeister des Lebens anders sein? Warum sollte es hier keine Erfahrung und Erinnerung an die Entwicklung geben? Wenn man die Komplexität des Lebens betrachtet, erscheint es ausgesprochen wahrscheinlich, dass dahinter eine kosmische Intelligenz steht. Schon wieder haben wir eine Tendenz, eine Wahrscheinlichkeit, die wohl etwas über die Realität auszusagen vermag.
Im Spannungsverhältnis zwischen Zufall, Wahrscheinlichkeit und Machbarkeit scheint sich das Schöpferische aus der Transzendenz heraus zu entfalten.
Das Wirken des Geistes im Kontext der Neuerrichtung einer Brücke zu beschreiben, bringt Abstand und Distanz zur Problemstellung. Eine Brücke ist eine materielle Struktur, die im vorliegenden Beispiel aufgegeben und neu errichtet wird. Durch die Zerstörung und Neuerrichtung einer Brücke fühlen wir uns selbst nicht unmittelbar betroffen oder gar bedroht. Ganz anders sieht die Situation aus, wenn nicht eine neue Brücke, sondern ein neues Selbst entstehen soll.
Wir tendieren dazu, uns ständig selbst verbessern und entwickeln zu wollen. Wir möchten morgen vielleicht weniger aggressiv, weniger zornig, dafür gelassener und entspannter sein. Morgen soll unser Leben angenehmer und glücklicher sein als es heute ist. In diesem Verständnis braucht es eine Veränderung, eine Transformation, einen Anpassungs- und Verbesserungsprozess, der sich in der Zeit entfaltet. Wir möchten unser Selbst und damit unser Ego verbessern. Das kann in vielen Fällen einen Sinn machen. Doch es gibt Situationen, bei denen das eigene Selbst an ein Ende gerät. Das Ego wird in Frage gestellt. Es kann sein, dass das Ego genauso ausgedient hat wie die oben beschriebene alte Brücke, deren Erhalt sich wirtschaftlich nicht mehr lohnt. So kann es sein, dass der Erhalt des Egos immer mehr Problemlagen, Schwierigkeiten und vielleicht auch Unglück in unser Leben trägt. Dann braucht es wie im Fall der Brücke keinen Verbesserungsprozess, sondern eine spontane Neuerschaffung für uns selbst.
Wenn wir in eine solche Situation kommen, sind wir vielfach dazu verleitet, im Denken des Fortschrittes und im Versuch, die eigene Situation zu verbessern, den Ausweg aus dem Dilemma zu suchen. Unser Ego möchte sich selbst erhalten, seinen Fortbestand sichern und sich selbst schützen. Das Ego wird beginnen, alles zu tun, um nicht sterben zu müssen. Es beginnt sich an alles zu klammern, über das es sich definiert. Das kann der eigene familiäre, berufliche oder gesellschaftliche Status sein. Das kann mit Vermögenswerten, Beziehungen, dem eigenen Glaubens- und Kulturverständnis, den eigenen Traditionen, Vorstellungen und Lebenskonzepten zusammenhängen. Man hat sich im Leben eingerichtet und will sich nicht neuerlich auf den Weg machen müssen. So bleibt man im Verbesserungsprozess stecken, um das eigene Ego nicht aufgeben zu müssen. Doch wenn ein Kunstwerk vollendet ist, kann der Versuch, es weiter verbessern zu wollen, rasch dazu führen, dass das gelungene Kunstwerk seinen Glanz, seine Schönheit und seine Bedeutung verliert. Man muss erkennen, wann etwas an sein Ende gekommen ist und sich nicht mehr verbessern lässt.
Wenn wir an einen solchen Punkt kommen, müssen wir all das, was wir angesammelt und über das wir uns selbst definiert haben, loslassen und gehen lassen. Wenn wir an all dem alten Ballast festhalten, kann nichts Neues ins Leben treten. Die Anhäufung des Gestern lässt dem Neuen keinen Raum, um sich entfalten zu können. Wir haben das Gestern in unserem Verstand abgespeichert. Der Verstand ist der Platz, an dem wir alles angehäuft und abgelagert haben. Nur wenn es uns gelingt, diesen Ballast der Erinnerung und Erfahrung loszulassen, kann aus dem Raum des Geistes etwas Neues auftauchen und geboren werden. Nur wenn wir das Gestern hinter uns lassen könne, kann im Heute etwas geboren werden, das eine Zukunft hervorbringt, die nicht einfach die Wiederholung des Gestern, sondern der Aufbruch in ein unbekanntes Morgen ist. Dann endet das bisherige Selbst und es endet auch der Zwang zur Selbstverbesserung. Es kann etwas Neues hervortreten, das nicht nur über unser bisheriges Ego, sondern auch über unser bisheriges Leiden hinausgeht und es transzendiert.[v]