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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

E) DIE GENERALKLAUSEL DES § 16 ABGB

 

Der § 16 ABGB stellt eine Generalklausel dar, der, wie bezugnehmend auf die Rechtsprechung des OGH schon ausgeführt wurde, noch keine besondere Anwendung in der Praxis zuerkannt wurde und auf deren tiefere Bedeutung kaum eingegangen worden ist. Daher werden wir uns dem Problemkreis § 16 ABGB auf der einen Seite historisch nähern und auf der anderen Seite die heutige Lehre durchforsten.

Die Urquelle war, wie ebenso schon erwähnt, der § 29 des Westgalizischen Gesetzbuches[1]). Diese von Martini ausgeführten Gesetzesstellen[2]) wurden fast unverändert in den Urentwurf des ABGB übernommen.

Eine Anregung zu einem solchen Vorgehen kam 1792 von der Kommission in Böhmen, die empfahl, eine einleitende Bestimmung mit staatsrechtlichem Inhalt als eine Art politischen Katechismus in das Gesetzwerk einzufügen, um damit das Verhältnis zwischen Landesfürst und Untertanen aufzuklären. Martini hat also die böhmische Anregung in einem Recht konzipiert.

Diese Konzipierung wurde aber von vielen Seiten stark angegriffen, als sie im Spannungsverhältnis zwischen Naturrechtslehre und einem absolutistisch aufgeklärten und polizeistaatlich geführten Staatssystem stand. So verlangte die Revisions - Hofkommission eine Streichung der genannten Bestimmung und wollte bloß die Aufnahme des Verbotes der Leibeigenschaft.[3]) Besonders Anstoß nahm die Direktionskommission im Jahre 1796 an dem “Recht, seine Leibes- und Geisteskräfte zu veredeln”, weil die Anerkennung dieses Rechts “mit dem Konskriptions- und Rekrutierungssystem im Widerspruch stünde. Man wollte Bestimmungen über die angeborenen Menschenrechte, weil dieselben zu Missverständnissen und zu “Verirrungen in den Gesinnungen Anlass geben könnten”, ausscheiden. Man meinte angeborene Menschenrechte und natürliche Freiheit gehören nicht in das bürgerliche Gesetzbuch.[4])

Für die Eliminierung sprach sich auch Zeiller aus. Er vertrat die Ansicht, dass einige der genannten Rechte teils in andere Teile des Gesetzbuches, teils in die Gerichtsordnung gehörten. Nur bezüglich der angeborenen Rechte meinte Zeiller, man sollte, um “allen Missdeutungen, besonders der auswärtigen, vorzubeugen”, die Aufnahme einer Generalklausel, gewissermaßen als Erinnerungsposten in das Gesetz aufnehmen. Die meisten Kommissionsmitglieder waren sich aber darüber einig, die Exemplifikation natürlicher, angeborener Rechte lediglich als spekulative Sätze anzusehen.[5])

Den beiden Mitarbeitern an der Kodifikation des ABGB, v. Sonnenfels und v. Haan, verdanken wir es, dass die natürlichen angeborenen Rechte nicht bloß den Charakter eines programmatischen Satzes erhalten haben. Sie erkannten nämlich, dass die Erstellung eines politischen Kodex noch lange auf sich warten lassen würde, und es daher notwendig sei, im gegenwärtigem Gesetzbuch die allgemeinen Grundsätze über die Rechte und Pflichten der Bürger im Staate aufzunehmen, weil das allgemeine Verhältnis der Bürger unter sich zuerst ausgemacht sein müsse, bevor von den anderen Rechten und Pflichten derselben gegeneinander die Rede sein könne.[6])

Mit der Verankerung der natürlichen angeborenen Rechte wurde etwas geschaffen, was man weder wegzulassen noch näher auszuführen wagte. Diese historische Unentschiedenheit erschwert die Deutung des § 16 ABGB. Man kann erkennen, dass eine Ausführung der Bestimmung sehr stark von der momentanen Gesellschaftsordnung und der diese bestimmenden Dynamik abhängt, also der § 16 ABGB einer dauernden und fortlaufenden Wandlung unterworfen ist und wohl kaum in seiner Gesamtheit erkannt und beschrieben werden kann. Doch sollten wir uns davor hüten, die Brauchbarkeit des § 16 ABGB zu gering zu schätzen. Er verrät uns von der Absicht, den Menschen mit einem Reservoir an Rechtsgütern auszustatten, dass seine Funktion als gesellschaftliches und frei handelndes Wesen nach Möglichkeit gewährleistet bleibt.[7]) So schreibt Wellspacher, § 16 ABGB sei der Ausgangspunkt “für die Ausbildung derjenigen Persönlichkeitsrechte, deren Anerkennung die fortschreitende Rechtsentwicklung erheischt und - was für uns Österreicher besonders wertvoll ist - dass wir nicht genötigt sind, für jede neue einzelne Frage auf diesem Gebiet das Einschreiten des Gesetzgebers abzuwarten.”[8]) In einem solchen Sinn wird man den § 16 ABGB als “allgemeines Persönlichkeitsrecht” begreifen können. Die Bestimmung schützt die Person in ihrer Gesamtheit unter Heranziehung gesellschaftlicher Komponenten. Aus diesen sollen Abgrenzungskriterien gewonnen werden, die notwendig sind in der Lösung des Problems, die Freiheit einer Person am Schnittpunkt der Freiheit mit einer anderen Person nach dem Maßstab der Gerechtigkeit und Billigkeit zu beschränken.

In der österreichischen Literatur herrscht Uneinigkeit über Bestand und Anwendbarkeit des § 16 ABGB. Zum einen Teil wird die Bestimmung als unbrauchbar bezeichnet und auf besondere Persönlichkeitsrechte verwiesen, zum anderen Teil bestreitet man die Sinnhaftigkeit eines “allgemeinen Persönlichkeitsrechts” wegen seiner Weite und Dynamik und einer sich daraus ergebenden behaupteten Rechtsunsicherheit. Es soll hier ein kurzer Abriß der verschiedenen Meinungen, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben, erfolgen.

Ehrenzweig[9]) äußert sich skeptisch zu den Persönlichkeitsrechten, meint aber resignierend, daß die Annahme des Bestehens von Persönlichkeitsrechten den Feststellungs- und Unterlassungsansprüchen eine passende Grundlage bietet; somit sei die Annahme von Persönlichkeitsrechten für den österreichischen Rechtsbereich durchaus zulässig;

Wolff[10]) lehnt die Persönlichkeitsrechte ab. Die ganze Kategorie von Persönlichkeitsrechten sei unbrauchbar. Fehle eine bestimmte gesetzliche Regelung, dann könne kein subjektives Recht nach Art eines Persönlichkeitsrechts angenommen werden. Er ist völlig in den Fesseln der historischen Schule verfangen.

Gschnitzer[11]) meint ohne nähere Ausführung, dass auch für das österreichische Recht, gestützt auf § 16 ABGB, ein “allgemeines Persönlichkeitsrecht” anzunehmen sei.

Aicher[12]) meint in Rummel, dass der dem § 16 ABGB zugrunde liegende Rechtsgüterschutz durch die positive Anordnung des § 16 ABGB zu einer normativen Kategorie geworden sei, und überdies habe dieser Schutz seine Verfeinerung im Rechtsgüterschutz des Zivilrechts und den Grundwertungen der Verfassung erfahren. Soweit man eine Differenzierung des Rechtsgüterschutzes für erforderlich halte, sei dies durch Interpretation und Lückenfüllung im Rahmen positivierter Wertungen möglich. Er führt Bydlinski, Gschnitzer, Ostheim, Moser und Reischauer als Zeugen dafür an, dass die heute ganz herrschende Lehre im § 16 ABGB die positivrechtliche Anerkennung der Persönlichkeitsrechte erblicke. Die Ablehnung eines “allgemeinen Persönlichkeitsrechts”, das sich aus § 16 ABGB ergebe, wie auch heute noch bei manchen Schriftstellern anzutreffen, sei nicht haltbar. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei allerdings, im Gegensatz zu den positivierten Persönlichkeitsrechten, kein absolutes, sondern nur ein Rahmenrecht, eine Ermächtigungsnorm für den Richter. Die Ausgestaltung könne nicht von oben herab geschehen, sondern müsse stets von den positiven Persönlichkeitsrechten ausgehen.

Ermacora[13]) führt aus, dass sich der Gleichheitssatz in Bezug auf die Menschenwürde aus dem § 16 ABGB ergebe.

Nach Bydlinski[14]) lasse sich der Persönlichkeitsschutz in Österreich besser durch die Herausarbeitung einzelner konkreter Persönlichkeitsrechte als durch eine uferlose Generalklausel eines “allgemeinen Persönlichkeitsrechts” vollziehen. Der § 16 ABGB sei die Grundlage für die einzelnen bereits anerkannten Persönlichkeitsrechte. Weitere sollten durch Analogie gewonnen werden.

Für diese Arbeit wird § 16 ABGB als die Bestimmung eines “allgemeinen Persönlichkeitsrechts” herangezogen. Die Begründung dafür sind in den vorangehenden Ausführungen zu finden. Doch zeigt sich bei der Untersuchung der Lehre, dass immer stärker ein “allgemeines Persönlichkeitsrecht” in den Vordergrund tritt und ein einhelliges Verständnis dahingehend vorhanden ist, dass man den § 16 ABGB nicht brachliegen lassen darf, sondern ihm Leben einhauchen soll, um ihm so eine effektive Bedeutung und Verwendbarkeit zuzubilligen.


[1]) Im § 29 des Westgalizischen Gesetzbuches heißt es: “Zu den angeborenen Rechten des Menschen gehören vorzüglich das Recht sein Leben zu erhalten, das Recht die dazu nöthigen Dinge sich zu verschaffen, das Recht seine Leibes- und Geisteskräfte zu veredeln, das Recht sich und das Seinige zu vertheidigen, das Recht seinen guten Leumund zu behaupten, endlich das Recht mit dem, was ihm ganz eigen ist, frey zu schalten und zu walten.” (Entwurf Martini).
[2]) Durch Harras v. Harrasowsky ist überliefert, daß die Ausführungen von § 29 WGGB von Martini selbst stammen; Harrasowsky, Der Codex Theresianus und seine Umarbeitung
V (1883 - 1886) 16 A. 2.
[3]) Heute im zweiten Satz des § 16 ABGB enthalten.
[4]) Harrasowsky, Der Codex Theresianus und seine Umarbeitung V (1883 - 1886) 16 A. 2.
[5]) Ofner, Protokolle I 37 f; Festschrift zur Jahrhundertfeier des ABGB (1911), Das Naturrecht und das ABGB I 180 f.
[6]) Ofner, Protokolle I 38.
[7]) Migsch, Die absolut geschützte Rechtsstellung des Arbeitnehmers 65.
[8]) Wellspacher, in Festschrift zur Jahrhundertfeier des ABGB I (1911) 188.
[9]) Ehrenzweig, System des österreichischen Privatrechts, Allgemeiner Teil2 I 125 ff.
[10]) Wolff in Klang2 I/1, 130.
[11]) Gschnitzer, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts2, 70.
[12]) Aicher in Rummel, Kommentar zum ABGB2 I 42 ff.
[13]) Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte 60.
[14]) Bydlinski, Die Grundrechte in Relation zur richterlichen Gewalt 69.
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