
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
bb) Interessenjurisprudenz
Die Begriffsjurisprudenz muss bei ihrer Bezogenheit auf “rein logisch” ermittelte Begriffe irgendwann notwendigerweise an der Realität der Rechtsgewinnung scheitern, weil diese vermehrt und außerlogisch auf den Gedanken des “Zwecks" angewiesen ist, um einerseits eine rationale Vorarbeit zur Entscheidung praktischer Rechtsfälle durch den Richter leisten zu können, sowie um andererseits durch Rechtserkenntnisse unmittelbar das Verhalten der Laien beeinflussen zu können.[1]) Gerade diese Probleme wurden von der Interessenjuriprudenz[2]) aufgegriffen, die unter ihren Hauptvertretern Rudolf von Jhering[3]) und Philipp Heck[4]) zum heftigsten Gegner der Begriffsjurisprudenz wurde.
Die zweckorientierte Interessenjurisprudenz geht nicht mehr nur vom Bezugsobjekt des formulierten Textes der Rechtsnorm aus, sondern nimmt Bezug auf die “Gesellschaft” als Ganzes. Die einzelnen Rechtsnormen seien ein Resultat miteinander kollidierender menschlicher Interessen.[5]); dh aktueller oder dispositioneller, ideeller oder materieller “Begehrungsvorstellungen”.[6]) Die Rechtsnorm entscheide über einen konkreten Interessenkonflikt. Die Aufgabe der Jurisprudenz sei es, die menschlichen Interessen herauszuarbeiten, über die durch eine bestimmte gesetzliche Norm entschieden werden soll und weiters zu rekonstruieren welche anderen (Gemeinschafts-)Interessen dafür kausal sind, dass in einem vorliegenden Fall eine bestimmte normative Entscheidung getroffen wurde. “Die gesetzgeberische Interessenbewertung, nicht aber die uU irrtümlichen und damit fehlerhaften Vorstellungen der gesetzgebenden Personen über tatsächliche Gegebenheiten sind für die Rechtsanwendung verbindlich[7]) und bestimmen sowohl die Gesetzesauslegung im engeren Sinn wie auch die systemimmanente Rechtsfortbildung durch Analogie und ähnliche Schlussformen.”[8]) Bei Fehlen gesetzgeberischer Interessenbewertungen empfiehlt Heck, sich bei der Ausfüllung solcher “Anschauungslücken” an allgemein anerkannten Wertvorstellungen zu orientieren[9]) oder in Ermangelung selbiger auf die “richterliche Eigenwertung” zu vertrauen.[10])
Aus der Bindung an die Interessenbewertung des Gesetzgebers ergeben sich aber schwerwiegende Probleme. So ist ein Ableitungszusammenhang von der gesetzgeberischen Interessenbewertung zu einer allgemein anerkannten Wertvorstellung bzw der “richterlichen Eigenbewertung” nicht ersichtlich. Auch erscheint es aus dieser Sicht schwierig, tatsächlich geänderten Verhältnissen oder geänderten gesellschaftlichen Anschauungen Platz einzuräumen. Zur Lösung dieser Probleme werden Instrumentarien herangezogen, denen es an fassbaren und rechtlich relevanten Kriterien mangelt. Als Maßstab der Rechtsfortbildung wird unter Berücksichtigung der “Fortbildungs- und Stabilitätsinteressen” die “Zusammenpassung der Gebote zu einem harmonischen Ganzen”[11]) hervorgehoben. Ein solcher Maßstab ist zwar verständlich, aber scheitert dort, wo Lücken durch Analogie nicht mehr schließbar sind und veränderte historische Gegebenheiten den Ausschlag geben. Bleibt der Griff nach einer “produktiven Interessenjurisprudenz”[12]), deren Ab- und Herleitung zweifelhaft und unkonsequent erscheinen.
Trotz einiger Schwächen bietet die Interessenjurisprudenz eine juristische Methode, die nachhaltigen Einfluss für die heutige Praxis hat.[13]) Sie verlangt eine Bindung an die gesetzgeberische Interessenbewertung, was im Gegensatz zur “Freiheitsschule” ein grundlegendes Festhalten an den gesetzlichen Normen postuliert und versucht gleichzeitig bei Unvollkommenheit und unzureichender Klarheit der Formulierungen des Gesetzes erhebliche Freiheiten zu bewahren und damit eine Korrekturmöglichkeit zu bieten. Diese flexible juristische Methode hat Heck mit dem bezeichnenden Ausdruck “denkender Gehorsam”[14]) umschrieben.
Ein großes Verdienst der Interessenjurisprudenz ist auch die Bedeutungserfassung von “Begriffskern” und “Begriffshof”. Diese Unterscheidung lässt erkennen, dass schlichte Deduktion häufig möglich und ausreichend ist, aber auch gänzlich unzulänglich sein kein. “Zum ‘Begriffskern’ gehören alle Gegenstände, auf die der Begriff von Sprachkundigen ohne weiteres angewendet wird; zum ‘Begriffshof’ jene, bei denen dies nach dem Sprachgebrauch zweifelhaft, aber noch möglich ist.”[15]) Die Richtigkeit dieser Unterscheidung wird in der juristischen Arbeit täglich bestätigt und stellt eine unentbehrliche Erkenntnis zum Verständnis der Differenziertheit der juristischen Denkweise dar.
Die Interessenjurisprudenz hat die Rechtsanwendung vom sklavischen Haften am oft zufälligen Gesetzesbuchstaben befreit und ein im großen und ganzen nachvollziehbares gedankliches Verfahren der Ermittlung gesetzgeberischer Interessenbewertungen entwickelt.