
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
3) Interessenhäufung
Interessenverknüpfung treten nicht nur bei der Interessenidentität auf sondern auch bei der Interessenhäufung. Die Güter und Werte eines Menschen stehen sehr oft in einer engen Beziehung zueinander. Vielfach bringt daher eine Verletzung eines Gutes auch eine Beeinträchtigung anderer mit sich. Bei der Interessenabwägung ist es nun notwendig, alle Interessen zu berücksichtigen, die durch den Sachverhalt tangiert sind. Hier kann sich ein Interesse durch das Hinzutreten eines weiteren Interesses verstärken. Das geeinte Gewicht mehrerer Interessen kann unter Umständen ein grundsätzlich sehr ranghohes Interesse überwiegen. Besonders bei widerstreitenden gleichwertigen Interessen ist jenem Interesse der Vorzug zu geben, zu dem ein weiteres Interesse hinzutritt.[1])
Sehr schön lässt sich dieser Ansatzpunkt der Interessenabwägung am Beispiel der Scheinkonkurrenzen im Strafrecht aufzeigen. Hier konsumieren gewisse Delikte regelmäßig und typischerweise andere Delikte, die in ihnen enthalten sind.[2]) Dies bedeutet, dass eine ganze Reihe schutzwürdiger Interessen durch ein und dasselbe Delikt verletzt werden. Dementsprechend ist die Strafdrohung für ein konsumierendes Delikt höher, als für die, in ihm enthaltenen bzw konsumierten Delikte. Hier wäre als Beispiel der Schwangerschaftsabbruch (§ 96 StGB) zu nennen, der ohne gleichzeitige Körperverletzung der Schwangeren (§ 83 StGB) kaum denkbar ist.[3]) Auch beim Raub (§ 142 StGB) wird ein Diebstahl (§ 127 StGB) und eine Nötigung (§ 105 StGB) anzunehmen sein.[4]) Die Strafdrohung beim Raub ist daher höher als bei den gesonderten Delikten gegen die schützwürdigen Güter Eigentum und Freiheit.
Weitere Beispiele lassen sich auch aus dem Zivilrecht anführen. So haben im Konkursverfahren zwar die Gläubiger, die Ansprüche gegen die Masse eines Konkurses angemeldet haben, grundsätzlich das gleiche Interesse an der Befriedigung ihrer Forderungen (§ 46 KO), doch werden in dem Falle, dass nicht alle Masseforderungen befriedigt werden können, vorzugsweise die Barauslagen des Masseverwalters und dann die Forderungen der Arbeitnehmer vor jeglicher anderer Masseforderungen beglichen (§ 47 KO).[5]) Dies deshalb, weil beim Masseverwalter und bei den Arbeitnehmern noch besonders schutzwürdige Interessen hinzutreten, die wohl darin zu sehen sind, dass sie erstens selbst mit dem Schuldner nicht geschäftlich kontrahiert haben, zweitens nur so eine ordentliche Abwicklung des Konkursverfahrens durch den Masseverwalter zu erwarten ist und drittens ein Konkurs gerade die Arbeitnehmer im Normalfall am härtesten trifft.
Dasselbe Prinzip ist auch dort anzutreffen, wo die Interessen mehrerer Personen durch ein rechtliches Band, zB in einem Verein oder einer Gesellschaft, zusammengeschlossen sind.[6]) Im durch den Zusammenschluss geregelten sachlichen Bereich gebührt grundsätzlich dem gemeinsamen Interesse der Vorrang vor dem Einzelinteresse. Dieser Grundsatz kommt zB bei Abstimmungen über wichtige Veränderungen im Miteigentum zum Ausdruck, wo die Mehrheit über eine Minderheit bestimmen kann (§§ 834 ff ABGB).[7])
Um dem Interesse der Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft auf Fortführung derselben trotz pflichtwidrigen Verhaltens eines Mitglieds gerecht zu werden, also dem Mehrheitsinteresse den Vorzug zu geben, hat der Gesetzgeber neben der Auflösungsklage eine Antragsmöglichkeit auf Ausschließung des pflichtwidrigen Gesellschafters (im Sinne von § 133 HGB) in § 140 HGB geregelt.[8])
Aus diesen Beispielen lässt sich erkennen, dass im Normalfall den Gemeinschaftsinteressen der Vorrang vor den Individualinteressen eingeräumt wird. In diesem Prinzip der Interessenanhäufung liegt also das Körnchen Wahrheit, das der Satz “Gemeinnutz geht vor Eigennutz” enthält.[9]) Es gibt aber Fälle, in denen das Einzelinteresse so groß ist, dass auch die Anhäufung mehrerer oder vieler Interessen das Einzelinteresse nicht überwiegen.
So bestimmt zB § 22 WEG – in dem Sinne von Gemeininteresse geht vor Individualinteresse – , dass ein Wohnungseigentümer auf Klage der Mehrheit der Miteigentümer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden kann, wenn er seinen Pflichten aus der Gemeinschaft nicht nachkommt oder die zur gemeinsamen Benützung der Liegenschaft dienenden Teile entgegen den Interessen der übrigen Miteigentümer benützt oder durch ein rücksichtsloses, anstößiges oder ungehöriges Verhalten den Mitbewohnern das Zusammenleben verleidet. Der Abs 4 dieser Bestimmung spricht dieses Recht auch einem einzelnen Wohnungseigentümer zu, wenn trotz einem der Klage auf Unterlassung stattgebenden Urteil und einer hierauf begründeten Zwangsvollstreckung der Miteigentümer beharrlich gegen die schutzwürdigen Interessen des Wohnungseigentümers verstößt. Hier wird es zB möglich, daß ein einzelner einen ganzen Verein mit vielen Mitgliedern und umfangreichen Räumlichkeiten aus einem Wohnungseigentum ausschließt. Sein Individualinteresse übertrifft das Gemeinschaftsinteresse der Vereinsmitglieder.
Ein Bereich in dem das Kumulationsprinzip überhaupt versagt, ist dort gegeben, wo Höchstwerte beeinträchtigt werden. Dies gilt insbesondere für das Menschenleben, die Menschenwürde und den Persönlichkeitswert insgesamt. So lässt sich wohl heute aus unserem Kulturbewusstsein ableiten, dass in jedem Menschenleben ein unvergleichlicher Personenwert zu sehen ist, der nicht als bloßes Quantum einer Gewinn- und Verlustrechnung behandelt werden darf. Das Leben “ist das Ranghöchste aller Rechtsgüter und kann daher von keinem anderen Interesse überwogen werden. Das gilt selbst dann, wenn Leben gegen Leben steht. Daher kommt im Falle der Rettung eines Menschenlebens (oder vieler Menschenleben) auf Kosten eines anderen[10]) rechtfertigender Notstand nie in Betracht”[11]).[12])
Man kann also erkennen, dass neben der Qualität von Interessen auch die Quantität an Interessen von Bedeutung ist. So ist auch der unbefugte Namensgebrauch in einem Film durch eine Erhebung und Bewertung der Interessen des Namensträgers, der im Film investierten Werte, der Vielzahl der künstlerischen Leistungen und dem Interesse der Öffentlichkeit an der Vorführung des Films zu beurteilen.
Abschließend ist noch zu erwähnen, dass ein hinzukommendes unwertes Element den Achtungsanspruch eines Rechtsgutes verringern kann. So ist zB eine Sache von der eine Gefahr ausgeht weniger schutzwürdig als eine gleichwertige andere Sache, von der keine Gefahr droht.