
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
2) Hermeneutischer Lösungsansatz
Um die eigentliche Zweckrichtung der Grundrechte und damit ihre Bedeutung für das Privatrecht verstehen zu können, sollte man vielleicht versuchen über den Begriff der natürlichen Freiheit auf die Grundproblematik der institutionellen Verfangenheit des Menschen einzugehen.
Eine Definition der Freiheit nicht aus dem Blickwinkel der letzten Ausbruchsmöglichkeit aus institutionellen Zwängen, sondern als “gegenwärtiges Grundrecht, als status libertatis, müsste postulieren, dass der Mensch letztlich aller Herrschaft entzogen ist: seine Freiheit als Recht verstanden, müsste darin bestehen, dass er letztlich über jede Institution hinausgeht, von ihr aus gesehen unfassbar und unbestimmbar bleibt”.[1])
Diese Definition der Freiheit entstammt der modernen Naturrechtslehre, die Grundlage unserer Grundrechtsvorstellungen ist.[2]) Man geht hier von einer natürlichen Freiheit aus, noch völlig abstrahiert von jeglicher Einbettung in ein institutionelles Gefüge. Diese Freiheit muss erst in den bürgerlichen Zustand transformiert werden. Der Mensch ist also von Natur aus frei oder noch schärfer, die Freiheit besteht geradezu in der Natürlichkeit des Menschen. “Freiheit und Menschennatur sind dasselbe und werden in eins gesetzt im Bild vom Naturzustand”.[3])
Nun ist aber zu klären, was die Gleichsetzung menschlicher Freiheit mit menschlicher Natur heißen soll. Die menschliche Natur findet ihre Gestaltung in der Konkretion des einzelnen. Findet diese Konkretion in der scheinbar gegenwärtigen natürlichen Bestimmtheit keine Entfaltung, so ergibt sich negativ umschrieben aus der Eigenart des Naturbegriffes des Menschen, die Fähigkeit sich all dem scheinbar Bestimmten entgegenzusetzen oder zu entziehen.[4])
Die Natur des Menschen ist also eine gegenwärtig unbestimmte. Der Mensch ist ursprünglich zu nichts bestimmt. Doch der Mensch kann sich bestimmen. Daraus folgt, dass alle Bestimmtheit, die der Mensch hat, nicht seine Natur ist, sondern ein direktes oder vermitteltes Produkt der Freiheit.
Die fundamentale Unbestimmtheit des Menschen kann in verschiedenster Weise gewertet werden. Man kann diese Unbestimmtheit als gefährlich empfinden, wenn man im Menschen einen rastlosen Wolf sieht, der von der Sucht nach Macht bis in den Tod hinein getrieben wird.[5]) Man kann in ihr aber auch die Möglichkeit der Vervollkommnung[6]) sehen oder den Grund der Gesetzesbedürftigkeit des Menschen.[7])
Es ist nicht von besonderer Bedeutung, ob man den Freiheitsbegriff negativ dem typischen Gesellschaftszustand gegenüberstellt oder ob man ihn als ein konkretes Entwicklungsstadium ansieht, das als gesellige Verbindung sich schon vor dem Staat anbahnt[8].
Auf jeden Fall ist der Mensch von Natur aus unbestimmt und soll das natürliche Recht haben, sich dem Bestehenden entgegenzusetzen. Jegliche Institution entwickelt sich aus der Bestimmungsfreiheit des Menschen. Daher findet jede Institution ihr Ende an der natürlichen Freiheit. Zusätzlich treffen die Institutionen den Menschen niemals ganz, sondern immer nur in einer gewissen Zweckrichtung. “Die letzte Unfassbarkeit des einzelnen Menschen hat einen ontologischen Vorrang vor aller Ordnung.”[9]) Der Mensch soll sich zwar in ein institutionelles System einordnen, doch sollte er niemals als Mittel im Dienste eines institutionellen Zwecks behandelt werden.[10]) Man darf die natürliche Freiheit niemals mit dem Wert verwechseln, der ihr zugemessen wird.
Aus dem hier Gesagten wird erkenntlich, dass es die Unergründlichkeit der menschlichen Person ist, die den Anspruch auf Respektierung in sich trägt. Aus dieser Denkweise ist die verfassungsrechtliche Anerkennung von Grundrechten erwachsen. Es wird damit das Verbot postuliert, den Menschen ihre Zwecke vorzuschreiben. Dieses Verbot ist negativ beschrieben und bedeutet daher auch, dass echte Menschenrechte auch die entsprechenden negativen Grundrechte enthalten. So enthält das Recht auf freie Meinungsäußerung auch das Recht, keine Meinung zu äußern oder zu haben, das Recht auf Religionsfreiheit auch das Recht, nicht zu bekennen oder überhaupt nicht religiös zu sein, die Freiheit das Recht, im Einzelfall oder in bestimmter Beziehung nicht frei sein zu wollen. Für unsere Überlegungen ist hier ein Aspekt sehr wichtig! Es ergibt sich aus diesen Zusammenhängen erst die Möglichkeit des Vertrages. Im Vertrag kann jeder Mensch über seine Freiheit, die klarer Ausdruck seiner Persönlichkeit ist, disponieren und verfügen wie er will. Er kann sich im Vertrag bestimmen.
Wer dieser Schlussfolgerung zur Privatautonomie nicht folgen will, kann die besondere Stellung der Privatautonomie innerhalb der Gesamtrechtsordnung durch eine Betrachtung des B-VG feststellen. Zwar wird die Privatautonomie in keiner Bestimmung als verbürgtes Freiheitsrecht ausdrücklich ausgesprochen, aber es finden sich mehrere Bestimmungen im B-VG, die diese Vorstellung nahe legen. Der Kompetenztatbestand des Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG besagt, dass Gesetzgebung und Vollziehung in den Angelegenheiten des “Zivilrechtswesens” Bundessache ist. Laut der Zuständigkeitsvorschrift des Art 15 Abs 9 B-VG sind die Länder im Bereich ihrer Gesetzgebung befugt, die zur Regelung des Gegenstandes erforderlichen Bestimmungen auch auf dem Gebiet des Straf- und Zivilrechts zu treffen.
Nach der Rechtsprechung des VfGH ist in beiden Fällen der Zivilrechtsbegriff im materiellen Sinn auszulegen. Er ist in jener Bedeutung zu verstehen, die in der österreichischen Rechtsordnung zur Zeit der Schaffung des B-VG allgemein mit diesem rechtstechnischen Ausdruck verbunden war. Dies sind alle Sachgebiete, die nach ihrem Inhalt systematisch dem Zivilprozess- oder Exekutionsrecht angehören.[11]) Das B-VG geht daher von der Existenz dieser Sachgebiete aus, ohne sie selbst zu regeln. Es setzt sie als bestehend voraus und anerkennt sie in jener Bedeutung, die ihnen im Zeitpunkt des Inkrafttretens der betreffenden Verfassungsvorschrift nach dem Stand und der Systematik der Rechtsordnung zugekommen ist.[12]) Durch die Anerkennung des Zivilrechts als eigener Rechtskomplex, wird auch gleichzeitig das Grundprinzip der Privatautonomie, auf dem das ganze Zivilrecht beruht und ohne die es kein Zivilrecht geben würde, bejaht.
Die Privatautonomie ist daher ein eigenes Freiheitsrecht im Verfassungsrang, das gleichwertig neben den anderen Freiheitsrechten steht.[13])
Hier nun ist wieder die Frage nach den Grenzen der Privatautonomie berührt! Die freie Disposition des Menschen über seine Grundfreiheiten darf ihm wohl nicht durch eine analoge Anwendung der Grundrechte im Privatrecht verweigert werden. Dies entspricht bei Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Grundrechte nicht deren eigentlichem Schutzzweck und außerdem würde man die Freiheit des Menschen, sich frei zu bestimmen, negieren, was sicherlich nicht im Sinne der Grund- und Freiheitsrechte gelegen sein kann.[14]) Es gibt nur einen Aspekt, der die Bestimmungsfreiheit des Menschen einengt. Dieser Aspekt ist bedingt durch das menschliche Zusammenleben. Es steht jedem Menschen die gleiche Bestimmungsfreiheit zu. Daraus ergibt sich aber zwangsläufig, dass sich Interessensbereiche überschneiden, die aus der freien menschlichen Bestimmung resultieren. Solche Schnittstellen können Bereiche der Konfliktentstehung sein. Daher ist es notwendig, um das geordnete Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten, diese Konfliktpotentiale so klein wie möglich zu halten. Ein solcher Ausgleich ist durch die Schaffung von positivem Recht möglich. Daher ist es legitim, im Sinne einer Konfliktvermeidung, den Menschen durch positives Recht zu binden und in diesem Sinne auch seine Privatautonomie im notwendigen Umfang zu beschränken. Die positive Rechtsetzung ist in diesem Bereich sicherlich nicht Aufgabe der Verfassung sondern des Privatrechts, das für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen Gleichgestellter geschaffen worden ist. Auch finden wir besonders im Privatrecht Instrumentarien zur zweckmäßigen Beschränkung der Privatautonomie. Hier sind natürlich die “Guten - Sitten - Klausel”, der Grundsatz von “Treu und Glauben” die Formal und Auslegungsvorschriften für Verträge und vieles mehr zu erwähnen.[15])
Jene Bereiche der Privatautonomie, die durch positive Regelungen nicht beschränkt sind und damit über die Normenkontrolle des Verfassungsgerichtshofes nicht einer Überprüfung ihrer Verfassungskonformität unterliegen, sollten auch nicht über eine Drittwirkung der Grundrechte unmittelbar geprüft werden! Zu ihrer Prüfung sollen schon über lange Zeit entwickelte typisch privatrechtliche Lösungsansätze herangezogen werden. Denn auch die Tatsache, dass etwas gegen die “Guten - Sitten” verstößt, bedeutet noch lange nicht, dass es auch gegen die Grund- und Freiheitsrechte verstößt.
Wenn sich jemand gegen Geld auspeitschen lässt, dann ist dieser Vertrag sicherlich sittenwidrig, doch greift er nicht in die Grund- und Freiheitsrechte des Ausgepeitschten direkt ein, weil dieser im Rahmen seiner Privatautonomie, deren Grundlage die grundlegende Bestimmungsfreiheit ist, auf diese Rechte verzichten kann.[16]) Dass für unsere Gesellschaft in Bezug auf ihre sittlich - objektive Wertordnung ein solcher Vertrag nicht zu akzeptieren ist, dürfte jedem einleuchtend sein, denn sonst würde ein friedliches Zusammenleben unmöglich werden. Es sei hier aber kurz angeführt, dass natürlich die Grundrechte auch mitbestimmend sind bei der Findung und Auslegung der sittlich - objektiven Wertordnung über die “natürlichen Rechtsgrundsätze”. Hier spiegelt sich aber eindeutig nur eine mittelbare Wirkung wieder, die stark bestimmt wird von typisch privatrechtlichen Instrumentarien. Das bedeutet aber auch, dass die grundrechtliche Wertordnung nicht in der Lage ist, allein abgetrennt vom Privatrecht alle Nuancen der sittlichen - objektiven Wertordnung widerzuspiegeln.
Natürlich kann auch im Privatrecht ein grund- und freiheitsrechtlicher Aspekt von besonderer Bedeutung sein. Soweit hier eine vernünftige Konfliktlösung durch Anwendung von Verfassungsrecht möglich ist, mag dieses auch im Privatrecht zur Anwendung kommen. Eine solche Konfliktlösung kann durch eine erweiterte Interpretation einer vorhandenen typischen privatrechtlichen Bestimmung, einer durch Analogie ermittelten Bestimmung oder eines “natürlichen Rechtsgrundsatzes” anhand der Wertordnung der Grund- und Freiheitsrechte erfolgen.
Es gibt Bereiche, wo eine Wirkung der Grundrechtswertordnung besonders angebracht ist, insbesondere dort wo Gewaltverhältnisse jeder Art bestehen und zB die Vertragsparität der Vertragsparteien nicht mehr gegeben ist oder durch einseitigen privatautonomen Akt eines Privatrechtssubjektes ein anderes Privatrechtssubjekt ungerechtfertigt benachteiligt wird. Hier muss der einzelne besonders geschützt werden, weil die sogenannte Privatautonomie nicht mehr dem Postulat der Gleichstellung gerecht wird. Ein solcher Schutzanspruch ist in der objektiv - sittlichen Wertordnung verankert – nach dem Grundsatz, der objektiv Schwächere ist vor dem objektiv Stärkeren zu schützen – und findet durch seinen typischen Schutzcharakter auch Bestimmtheit im “Schutzgebot” der Grundrechte.
Doch in jenen Bereichen, in denen der einzelne Mensch im Rahmen der durch das Gesetz bestimmten Privatautonomie durch keine fremdbestimmte Ungleichgewichtung der Vertragsparteien ausgeliefert ist, wird er nur mehr durch die sittlich - objektiven Wertordnung in seiner Bestimmungsfreiheit gebunden.
Die Grund- und Freiheitsrechte haben zusätzlich, ganz gleich ob sie zwischen dem Staat und dem Bürger oder unter den Bürgern Wirksamkeit erlangen, immer einen Schutzcharakter. Eine solche Schutzbedürftigkeit kann im Bereich der absolut ausgewogenen Privatautonomie nicht mehr entdeckt werden.
Schließlich darf man auch nicht übersehen, was die Privatautonomie für das rechtliche Zusammenleben leisten kann! Denn wenn Individuen aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts über den Inhalt und das gegenseitige Gewicht ihrer Interessen selbst entscheiden müssen, ergibt sich bei gleicher “bargaining power” eine bessere Gewähr für die sachliche Gerechtigkeit des Ergebnisses als durch jedes Gesetz und jede rechtliche Entscheidung!
Dem hermeneutischen Ansatz folgend, kann sicherlich gesagt werden, dass die Privatautonomie durch eine unmittelbare Wirkung der Grundrechte aus ihren Angeln gehoben wird. Eine solche Wirkung widerspricht aber dem Freiheitsanspruch des Menschen und kann auf keinen Fall Anliegen und Zweck der Grundrechte sein. Daher gehen wir in dieser Arbeit davon aus, dass nur positives Recht der unmittelbaren Überprüfung am Maßstab der Grundrechte unterliegt. Hingegen ist eine “mittelbare Wirkung” der Grundrechte über ihre Werte auf Bereiche der Privatautonomie dann vernünftig, wenn es nicht mehr möglich ist, an Hand des Privatrechts und seiner Instrumentarien eine befriedigende Lösung zu finden oder sich ein offensichtliches Schutzgebot ergibt, weil die Privatautonomie ihrem Grundsatz der Gleichgewichtung der Vertragsparteien nicht mehr gerecht wird. Es soll nach einem kurzen Exkurs zur Problematik Privatautonomie und dispositives Recht und “ergänzende Auslegung” im folgenden ein Blick auf die Schutzfunktion der Grundrechte geworfen werden.