
K O N T A K T

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
ab) Individualgewissen und Sozialgewissen
Wir wollen das Gewissen in zwei Erscheinungsformen untersuchen, die sich in der Literatur als juristisch relevant und denkbar abgezeichnet haben und in unterschiedlicher Weise beurteilt wurden. Dies ist auf der einen Seite das Individualgewissen und auf der anderen Seite das Sozialgewissen.
“Von einem Individualgewissen ließe sich sprechen, wenn man das Gewissen radikal auf die Persönlichkeit des einzelnen bezieht, ihm anheimgibt, sich in völlig freier Verantwortlichkeit die Sollensanforderungen zu suchen, denen er sich unterstellen will.”[1]) Hier geht man von der Idee aus, dass die Natur des Menschen ursprünglich eine unbestimmte ist, er sich selbst durch seine Moralvorstellungen gewissensmäßig bindet. Von einem Sozialgewissen ließe sich reden, “wenn man das Gewissen und die von ihm ausgehenden Sollensgebote von vornherein eingebettet sieht in das Pflichtenschema der objektiv vorgegebenen und vom Individuum angetroffenen Rechtsordnung”[2]).
Dabei darf nicht verkannt werden, dass das Individualgewissen sich durch die soziale Bindung in gewisser Weise an das Sozialgewissen mehr oder weniger annähert. Gewissen entsteht durch mannigfaltigen Kontakt mit moralischen Entscheidungen in unserer Gesellschaft. Dies beginnt in der Erziehung durch Familie und Schule, findet seine Fortführung in Beruf und Freizeit und erhält seinen stärksten Ausdruck in der rechtlichen Auseinandersetzung vor rechtsprechenden Instanzen. Würde dies nicht so sein, wäre ein menschliches Zusammenleben undenkbar, weil eine tausendfache Individualität der menschlichen moralischen Vorstellungen in jedem Bereich das Entstehen einer Rechtsordnung verhindern würde, deren Legitimation im letzten Grund auf der kulturell - moralischen Gemeinsamkeit der Menschen beruht. Je mehr die Grundbedürfnisse der Menschen betroffen sind, desto ähnlicher und übereinstimmender sind die Vorstellungen von Wert und Unwert, die das Gewissen bestimmen. Dies kommt sehr stark im Strafrecht zum Ausdruck, das in erster Linie ein Zusammenleben zwischen Menschen ermöglicht und die Anarchie verdrängt. Wäre dem nicht so, könnte man im Strafrecht von einem “aktuellen Unrechtsbewusstsein” nicht ausgehen, das vom einzelnen Menschen abverlangt, sich dessen bewusst zu sein, wann eine bestimmte Tat gegen die Rechtsordnung verstößt[3]), obgleich nur wenige Mitglieder einer Gesellschaft das Strafgesetzbuch mit seinen Delikten gelesen haben werden. Die gesamte Konstruktion des “maßgerechten Menschen” im Strafrecht müsste sich ad absurdum führen, könnte man nicht annehmen, dass annähernd alle Menschen Werte wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Vermögensschutz in gleicher Weise sehr hoch einschätzen und eine Verletzung solcher Werte für tadelungswürdig, unwert und dem Gewissen widersprechend erachten.
Die Frage nach dem Individualgewissen wird erst dort aktuell, wo Werthaltungen auftreten, deren Wertschätzung oder Unwertschätzung nicht mit elementaren Voraussetzungen des friedlichen Zusammenlebens kollidieren. Hier tritt der soziale Aspekt mehr und mehr zurück und der Anspruch der einzelnen Persönlichkeit auf Entfaltung in den Vordergrund. In diesem Bereich entfernt sich das Individualgewissen auch verstärkt vom Sozialgewissen. Zusätzlich soll das Recht nur soweit den einzelnen Menschen einschränken, als dies das menschliche Zusammenleben verlangt. Die Gesellschaft ist Gott sei Dank nicht in der Lage, ein uniformes Gewissen aller Menschen in allen Bereichen des menschlichen Lebens zu entwickeln. Vielmehr bedingen die tausend verschiedenen Seiten der Gesellschaft und die tausend verschiedenen wertmäßigen Erfahrungen der einzelnen Menschen unterschiedlichste Gewissensempfindungen, die die Unterschiedlichkeit der Menschen und dadurch mit die Persönlichkeit des einzelnen Menschen ausmachen.
Nun hat Diederichsen zum Teil recht, wenn er ausführt, dass eine juristische Berücksichtigung des Individualgewissens unter Umständen der Rechtsordnung widersprüchlich sein kann.[4]) Dies aber nur dann, wenn man das Individualgewissen uneingeschränkt in allen Bereichen unserer Rechtsordnung eingreifen lässt. In diesem Falle würde man sich eines unfassbaren Maßstabes bedienen, der den Weg in die Anarchie vorzeichnen würde. “Hierbei übersieht aber Diederichsen, dass es gerade darum geht, inwieweit die Rechtsordnung die Berufung auf das Gewissen gestattet, mit der Folge, dass dem Gewissenstäter auch von der Rechtsordnung kein Vorwurf gemacht werden kann.”[5]) Es geht um die Frage, wo die Grenzen der Persönlichkeitsentfaltung in Anbetracht und unter dem Maßstab eines friedlichen und geregelten Zusammenlebens liegen. Dass sich die Rechtsordnung einer Berücksichtigung des Individualgewissens nicht versperrt, bringen die Grundrechte zur Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art 14 StGG 1867 und Art 9 MRK) zum Ausdruck und manifestiert für das österreichische Privatrecht der § 16 ABGB, der bekanntlich die gesamte Persönlichkeit schützt. Hier geht es um die höchste Form der Entfaltung der Persönlichkeit, in der Sicherung der Möglichkeit nach Glauben und Gewissen zu handeln.[6])