
K O N T A K T
Ein kurzer Überblick zu den wichtigsten systemischen Fragestellungen

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
KAPITEL 1: EINLEITUNG. BEGEGNUNG MIT DEM SYSTEMISCHEN DENKEN
Systemisches Denken ist nicht etwas, was uns in die Wiege gelegt wird. Wir sind es gewohnt und werden auch so erzogen, dass wir uns auf konkrete andere Personen beziehen. Als Kleinkinder ist uns bewusst, wie sehr wir von ganz bestimmten Personen in unserem Überleben abhängen. Das sind natürlich die eigenen Eltern und weitere Personen, die sich ständig in unserem näheren Umfeld aufhalten und sich um uns kümmern. Wenn wir heranwachsen, wird uns klar, dass insbesondere die Pädagoginnen und Pädagogen im Kindergarten und der Schule in unserem Leben eine besonders wichtige Rolle spielen. Dann sind es die Professorinnen und Professoren an den Hochschulen, die Lehrlingsausbildnerinnen und -ausbildner, die vorgesetzten Personen am Arbeitsplatz usw., die zu wichtigen Bezugspersonen werden. Die sozialen Medien und der gesellschaftliche Druck vermitteln uns, dass es entscheidend ist, viele Leute zu kennen und mit ihnen persönlich befreundet zu sein bzw. Kontakte zu ihnen zu haben. Es wird uns gesagt, dass Netzwerke alles sind. Die Botschaft dahinter ist klar. Die anderen werden dir helfen, weiter zu kommen und zu überleben, und dabei fällt der Blick immer auf konkrete Personen. Diese Haltung ist vernünftig und wie selbstverständlich nachvollziehbar. Es sind konkrete Personen, die unser Überleben ermöglichen, unser Wachstum fördern und uns helfen, unser Potenzial zu entfalten sowie unsere Chancen zu ergreifen. Gleichzeitig eröffnet dieser Bezug zu konkreten Personen auch die Möglichkeit negativer Entwicklungen, die von Manipulation über Irreführung bis hin zur Protektion und Korruption führen können.
Eine Gesellschaft, die sehr erfolgsorientiert ist, ist auch sehr individualistisch. In einer solchen Gesellschaft tummeln sich viele Menschen, die auf die persönlichen Vorteile und Möglichkeiten achten, vorankommen und es im Sinn der Gesellschaft schaffen wollen. Selbstwerdung und Selbstdurchsetzung stehen im Zentrum. Die westliche Gesellschaft bewundert den Gewinnertypus und verachtet den Verlierer.[1] Wenn man mit Menschen arbeitet, die zu den Verlierern zählen, wie Personen, die beruflich gescheitert und im Konkurs gelandet sind, Menschen, die vertrieben wurden und dann in einem fremden Land sich wiederfinden, dessen Sprache sie nicht sprechen und dessen Kultur sie nicht verstehen, oder Menschen, die auf Grund einer Behinderung die Erwartungen der Gesellschaft nicht erfüllen können, wird schnell klar, dass der Erfolgstyp gefragt ist.
In dem Bewusstsein, dass es viele Menschen gibt, die nicht diesen gängigen Klischees entsprechen, ist die Gesellschaft meiner Meinung nach dennoch sehr stark auf das Individuum und den Erfolg fokussiert. Das ist grundsätzlich nichts Schlechtes, weil die Leistungsgesellschaft viele wunderbare Dinge hervorbringt und eine unglaubliche technologische Entwicklung und einen beachtlichen Wohlstand bewirkt hat. Gleichzeitig entfaltet die Gesellschaft aber auch viele negative Dynamiken, die besonders den Systemen und hier ganz voran den Familiensystemen und den ökologischen Systemen schaden.
Mit Blick auf die industrialisierte Gesellschaft und die heutige Wissensgesellschaft, die primär von wirtschaftlichen Funktions- und Nützlichkeitsüberlegungen getrieben wird, ist es in vielen Familien zu Entfremdungserscheinungen gekommen. Väter sind häufig abwesend und fehlen vielfach als Vorbilder und Erzieher. Mütter wie Väter sind oft hoch belastet durch eine zunehmende Anzahl an Trennungen und Scheidungen, die zu einer separierten und unabgestimmten Erziehung führen oder die Eltern überhaupt zu Alleinerzieherinnen und Alleinerziehern machen.[2] Die Gesellschaft hat zusätzlich die Tendenz, primär linear zu denken und zu handeln. Unsere Probleme mit den Umweltentwicklungen und der Klimaproblematik spricht hier eine deutliche Sprache. Wir wollen die Welt erobern, verstehen aber viel zu wenig, dass der Raum der Welt begrenzt und die Welt heute statt Eroberung vielmehr Fürsorge und pflegliche Behandlung braucht. In Kreisläufen zu denken, fällt uns schwer.
Was teilweise fehlt, sind Menschen, die sich nicht nur auf Einzelpersonen beziehen, nicht nur in den Kategorien des eigenen Erfolges und des individuellen Wohlstandes denken, sondern darüber hinaus das größere Ganze im Auge behalten. Das kann die Kleinfamilie sein, das kann ein Unternehmen oder ein staatliches System sein, das kann aber auch global die wirtschaftliche, ökonomische und ökologische Entwicklung unserer Zivilisation sein. Wie systemische Entwicklungen sich entfalten können, hat uns die Covit-19-Krise klar vor Augen geführt hat.
Das größere Ganze bringt aber ein weiteres Problem mit sich. Es ist nicht leicht zu verstehen, entzieht sich in vielen Fällen unserem wissenschaftlichen Postulat der Induktion[3] und ist widerspenstig, wenn es um die Gütekriterien der Wissenschaft wie Objektivität, Reliabilität und Validität geht, weil intersubjektiv überprüfbare Aussagen oft nicht getroffen werden können. Diese Systeme sind komplex, lassen sich kaum begreifen, verhalten sich dann auch noch so unberechenbar, dass man schnell den Mut verliert, wenn man sie steuern soll. Wer hat schon gelernt, mit Komplexität umzugehen. Da ist es schon einfacher, sich mit altbewährten Instrumenten zu helfen. Vertrackt daran ist nur, dass wir mit den alten Instrumenten die systemischen Probleme eher verschärfen als lösen.[4]
Auch die enormen Rechenkapazitäten der modernen Computer lösen das Problem nicht wirklich.[5] In logisch und analytisch funktionierenden Maschinen ist es schwer, die Psyche des Menschen nachzubilden. Computer sind gut darin, Risiken und Gefahren zu berechnen, wenn sie mit ausreichend vielen Daten gefüttert werden, aber schlecht darin, das Verhalten von Menschen auf Risiken und Gefahren hin zu begreifen. Sie können Fahrzeuge sicher steuern, so dass weniger Unfälle geschehen, sie sind aber für die Frage von Schuld und Verantwortung unzugänglich. Ähnlich ist es im Zusammenhang mit prosozialen oder asozialen Verhalten. Dieses wird durch hochkomplexe psychische Mechanismen gesteuert, die von neuronale Komponenten, der Erziehung, der Persönlichkeitsentwicklung und dem Normverständnis von Menschen sowie weiteren Faktoren bestimmt werden.[6] Auch hier sind Maschinen zu rational als dass sie das Irrationale, das in unserem Leben eine größere Rolle spielt als uns oft lieb ist[7], berücksichtigen könnten.
Die Verantwortung, als Menschen systemisch denken zu müssen, wird uns wohl nichts und niemand abnehmen. In Wahrheit tun wir uns mit diesem Denken aber sehr schwer, weil wir es in der Vergangenheit kaum benötigt haben und unsere genetisch bedingte kognitive Ausstattung mit der Lösung komplexer Problemstellungen vielfach überfordert ist.
Wenn wir aber auf die Systeme nicht achten, wird ihr Scheitern auch unser Scheitern sein, da sie zwar durch uns als Individuen existieren, gleichzeitig aber über uns hinaus überleben und so zukünftigen Individuen, von denen wir heute noch nichts wissen und die wir auch nicht kennen, Halt, Schutz, Rahmen und Überleben geben. Manche Systeme haben wir selbst geschaffen. Hier kann man zumindest annehmen, dass im Fall eines Scheiterns diese Systeme von Menschen neu aufgebaut werden können. Andere Systeme wurden nicht von uns Menschen geschaffen.[8] Wenn wir die Natur nachhaltig schädigen, sind wir nicht mehr in der Lage, diese neu zu errichten. Dann bleibt uns nur, auf ihre Regeneration und Selbstorganisation im autopoietischen Sinn zu hoffen. Fraglich ist nur, ob uns dafür genug Zeit bleiben wird, denn in ihrer Gesamtheit bringt die Natur als emergentes Phänomen gerade durch das Zusammenwirken ihrer unzähligen Einzelbestandteile Qualitäten auf einer höheren Systemebene hervor, die unser Überleben sichern. Man denke nur an den Sauerstoff- und Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Zustand der Wälder weltweit stehen und für unser Überleben entscheidend sind.