K O N T A K T

Beschreibung lebensfähiger Systeme in Anlehnung an das Viable System Model (VSM) von Stafford Beer
Gesamte Inhalte: © Dr. Christoph Paul Stock
KAPITEL 2: WAS SIND DIE GRUNDLAGEN EINES SYSTEMISCH-EVOLUTIONÄREN ANSATZES?
Wenn wir die Natur betrachten, ist uns klar, dass sie der Mensch nicht hervorgebracht hat und wir sie einfach vorfinden. Ob sie nun von einem Schöpfergott erschaffen oder in einem evolutionären Prozess durch Zufall und Mutationen entstanden ist, wird intensiv diskutiert und ist heiß umstritten, für die vorliegende Fragestellung aber nicht entscheidend.
Hinsichtlich der menschlichen Kulturen und sozialen Systeme gehen wir meist davon aus, dass sie vom Menschen erschaffen und gestaltet worden sind und der Mensch selbst dafür verantwortlich zeichnet, wie die Systeme aufgebaut sind, wie sie funktionieren und welche Folgen sie für das soziale Miteinander in der menschlichen Gemeinschaft und darüber hinaus in der Natur haben. Überdies wird angenommen, dass der Mensch unter Nutzung seiner Vernunft die kulturellen und sozialen Systeme gestaltet hätte und hinter ihrer Entwicklung ein menschlicher Plan stecken würde, der aufgestellt und dann konkret verfolgt worden wäre. So betrachtet, würde der Verstand der kulturellen und sozialen Entwicklung des Menschen vorausgehen. Doch ist das wirklich so?
Wenn wir uns die menschliche Kultur- und Sozialentwicklung ansehen, wird deutlich, dass sich die Gesellschaften und Zivilisationen nicht linear, einem klaren Bauplan folgend, entwickelt haben. Es ist nicht so, dass zuerst der Keller betoniert, dann das Erdgeschoß errichtet, die weiteren Geschoße aufgesetzt und schließlich das Dach montiert worden wäre. Auf so manche Hochkultur folgte ein schlimmer Niedergang, in dem viele Errungenschaften wieder verloren gingen und teilweise erst wieder neu entdeckt, weiterentwickelt und revitalisiert werden mussten. Wie lange hat es gedauert, bis die demokratischen Strukturen der griechischen Polis in die Organisation von Nationalstaaten übernommen wurde und jene Demokratien hervorbrachten, die wir heute kennen? Große Städte wie London, Paris und Wien hatten im 19. Jahrhundert über lange Zeit noch kein funktionierendes Kanalsystem, weshalb sich Seuchen mit in regelmäßigen Abständen immer wieder ausbreiteten und vielen Menschen das Leben kosteten. Dies mag unverständlich erscheinen, wenn man weiß, dass schon die Römer ihre großen Siedlungen und Städte mit einem ausgeklügelten Kanalsystem ausgestattet haben und es im antiken Rom die Cloaca Maxima gegeben hat, die als größter Kanal der Stadt die toxischen und krank machenden Abwässer aus der Metropole schaffte. Im Übrigen sind heute noch Abschnitte der Cloaca Maxima Teil des römischen Kanalsystems.
Ganz offensichtlich hat sich die menschliche Geschichte nicht linear entwickelt. Ihre Grundlage war kein detaillierter Bauplan, der schon zu Beginn festlegte, was am Ende errichtet sein sollte. Außerdem scheint es kein vorgezeichnetes Ende für die menschliche Kultur- und Sozialgeschichte zu geben. Viele soziale Institutionen wie Sitte, Moral, Sprache, Recht, Familien- und Staats- sowie Geld- und Wirtschaftsstrukturen haben sich nicht aus einem konkreten Plan heraus entwickelt, sondern waren oft bestimmt durch kreative Ideen, hartnäckige Auseinandersetzungen im Ringen um Vorteile, Gerechtigkeit und Fairness, die dann bestimmte Ergebnisse zeitigten. Unermesslich viel menschliches Leiden hat dazu geführt, dass Menschen bestimmte Entwicklungen ablehnten und andere befürworteten. So gesehen kann man nicht sagen, dass der Mensch all diese Institutionen und Errungenschaften selbst denkend hervorgebracht hat. Vielmehr hat sich die Richtung der Entwicklung durch die Auseinandersetzung mit der Welt und durch positive und negative Erfahrungswerte vielfach jenseits der Vernunft spontan aus sich selbst heraus generiert. Die Vernunft ist all diesen Entwicklungen nicht vorausgegangen, sondern hat sich mit diesen Entwicklungen selbst erst entwickelt und geformt. Der Mensch ist also nicht ein Kultur- und Sozialwesen, weil er Vernunft hat, sondern er hat Vernunft, weil er ein Kultur- und Sozialwesen ist.
Der Mensch gestaltet die Welt nicht durch ein rational geplantes Vorgehen, sondern dadurch, dass er in sie hineingeboren wird, in ihr wächst und erwachsen wird, sein eigenes Leben lebt und reflektiert und im Ringen um unterschiedliche Konzepte und Vorstellungen sowie Vorlieben und Abneigungen, die sich allesamt aus oft schwierigen und schmerzhaften menschlichen Erfahrungen bilden, bestimmte Haltungen, Neigungen, Ansichten und Tendenzen annimmt, die sich dann im gesellschaftlichen Miteinander manifestieren und ausgestalten. Vieles bleibt dabei unter der Schwelle des Bewusstseins im Unbewussten versteckt, wirkt auf verborgene und manchmal rätselhafte Weise und kann oft auf Grund seiner Komplexität vom menschlichen Verstand gar nicht ausreichend durchdrungen und verstanden werden. Wir haben diese Idee eines steuernden Verstandes, der unter Heranziehung des rationalen Denkens in der Lage wäre, eine Zukunft zu gestalten, die unser Leben und Überleben sichern könnte. Hier unterliegen wir einer Illusion. Was unser Leben gestaltet und formt, ist ein evolutionärer Prozess, den wir nicht einfach nur beobachten und von außen beeinflussen, sondern in dem wir uns direkt mit bewegen, in den wir als Menschen geworfen und verstrickt sind und der uns mit sich trägt als integralen Teil einer größeren Realität, die von unserem Verstand alleine niemals erfasst werden kann. Wir sind selbst eine immense Struktur, die ganz bestimmte Regeln und Bedingungen hat. Diese bestimmen unser Sein und beeinflussen uns auf eine Art und Weise, die rein rational nicht zu kontrollieren ist. Nicht anders verhält es sich mit den Systemen um uns herum, in die wir eingebettet und mit denen wir verwoben sind. Auch sie haben eine eigene Struktur, die bestimmt, wie sie sich verhalten und entwickeln und welche bildenden Kräfte wirksam werden und welche nicht. Dabei greifen Systeme in Systeme und bilden sich rekursiv aus. Ein Kind wird in eine Familie geboren, die Familie gehört einem größeren Sippenverband an, der Sippenverband ist Teil eines Volkes und Teil eines Staates, die wiederum zusammengeschlossen sind in transnationalen Organisationsgebilden bis hin zu globalen Vereinigungen. Alle kulturellen und sozialen Systeme sind untrennbar mit der Natur und ihren Systemen verbunden, deren Komplexität über die Komplexität der kulturellen und sozialen Strukturen weit hinausgehen. Die Natur ist wiederum eingebunden in ein biologisches System, dessen Grundlage chemischer Natur ist, die wiederum auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten, Regeln und Rahmenbedingungen fußt. Wenn man den religiösen und spirituellen Traditionen Glauben schenken darf und vieles spricht dafür, entfaltet sich jenseits der materiellen Welt eine geistige Welt, aus der die materielle Welt hervorgegangen ist. Die materielle Welt scheint in einem ständigen Austausch mit der geistigen Welt zu stehen. Es wird angenommen, dass die Strukturen des Geistes weit über die materiellen Strukturen hinausgehen und sich in eine Unvorstellbarkeit hinein ausdehnen, der nicht einmal der Blick in die unendlichen Weiten des Weltalls gerecht werden kann. In diesem Gefüge des Lebendigen überschätzen wir die Möglichkeiten des Verstandes maßlos, der sich lediglich im Ausmaß unserer persönlich gemachten Erfahrungen zu entwickeln vermag. Wie soll dieser Verstand aus sich heraus alleine in der Lage sein, die Komplexität des Lebens zu beherrschen. Er kann es nicht. Diese Tatsache ist für uns sehr schwer zu akzeptieren. Doch an dieser Einsicht führt kein Weg vorbei, wenn wir die großen komplexen Probleme unserer Zeit bewältigen wollen.
Die Gefahr besteht darin, dass der Mensch vermeint, seine Vernunft sei die Baumeisterin all der kulturellen und sozialen Systeme. Menschen, die z.B. nicht begreifen, dass eine Familie eine soziale auf evolutionärem Weg gewachsene Ordnung darstellt, die in der Lage ist, die komplexen Interaktionen ihrer Mitglieder durch eine in sie eingeschriebene Ordnung zu absorbieren, stülpen über diese natürlich gewachsene spontane Ordnung ihre rational geformten Zielvorstellungen von einem Familienleben und riskieren damit die Zerstörung des gesamten Systems. Man nimmt fälschlicherweise an, dass die im System durch seine spontane Ordnung eingeschriebene Orientierung ein Produkt menschlicher Vernunft und absichtsvollen menschlichen Handelns sei, was sie aber definitiv nicht ist. Wenn man dann Kinder zwingt, etwas zu werden oder zu tun, was ganz grundlegend ihren persönlichen Anlagen und ihrem in Grundsätzen festgelegten Lebensweg widerspricht, zerstört man die natürliche spontane Ordnung und riskiert damit einen Kollaps des gesamten Systems. Der Verstand kann nicht wissen, wozu ein Kind in die Welt getreten ist und welche Aufgaben auf es in dieser Welt warten. Rationale Vorstellungen sind kaum in der Lage, diese natürlich angelegte spontane Ordnung zu erfassen, geschweige denn, sie durch eine andere aus reiner Vernunft erworbene Orientierung zu ersetzen. Was man riskiert, ist der Verlust der Authentizität und die Erschaffung von Schein- und Lügenwelten, mit denen niemand auf Dauer leben kann. Man bedroht die Lebensfähigkeit des Systems durch eine ungerechtfertigte Dominanz menschlicher Vernunft!
Was für Familien gilt, ist natürlich für viele andere Systeme ebenfalls gültig, die organisch gewachsen sind. Jedes System, in dem nicht ausschließlich Maschinen, sondern Lebewesen leben, hat einen inhärenten Bezug zu evolutionären Strukturen, die unbedingt berücksichtigt werden müssen. Tun wir dies nicht, laufen wir Gefahr, selbst mehr und mehr zu Maschinen zu werden und unsere Menschlichkeit zu verlieren. Ab einem gewissen Stadium besteht die Möglichkeit, dass wir die Macht und Kontrolle über die konstruktivistisch-technomorphe Welt verlieren und sie nicht mehr unsere Dienerin ist, sondern sich zu unserer Herrin aufschwingt. Ein solches Maschinenzeitalter möchte ich nicht erleben. Für Maschinen sind wir lediglich Energie und Materie, die in irgendeiner nutzbar gemachten Form ausschließlich einer rational berechenbaren Verwendbarkeit zugeführt werden. Die Maschinen können nicht sehen, dass wir das Ergebnis eines Jahrmillionen alten Prozesses evolutiver Entwicklungen sind, der ein Wunderwerk an Lebendigkeit hervorgebracht hat, das organisch wächst und sich kreativ weiterentwickelt. Es könnte uns passieren, dass wir selbst zu dem werden, zu dem wir die Natur machen, nämlich zu einem Kühlschrank, einem Spielplatz und einer Müllhalde für Maschinen bzw. für das technomorphe Denken. Filme wie die Terminator-Folgen oder die Matrix-Trilogie zeichnen ein Bild einer solchen Welt. In Ansätzen haben wir diese Welt schon erschaffen. Und diese Schöpfung ist tatsächlich von Menschen gemacht, die ihr systemisch-evolutionäres Erbe und das, was ihnen vom Leben gegeben worden ist, vergessen. Das konstruktivistisch-technomorphe Paradigma nutzt nicht nur die Natur für seine mechanischen Zwecke, sondern auch den Menschen selbst, der zu einem Rädchen im Getriebe einer unmenschlichen Maschinerie gemacht wird.
