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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

bb) Die transzendentale Ausrichtung des Mittelalters

 

Mit der Erstarkung des Christentums in den frühen Jahrhunderten des ersten Jahrtausends nach Christus[1]) manifestierte sich in der abendländischen Geisteshaltung eine ganz neue Perspektive, nämlich die Loslösung aus dem Naturbezogenen und Diesseitsbezogenen hin in ein transzendentes Denken. Das Bibelzitat "Mein Reich ist nicht von dieser Welt"[2]) umschreibt in kurzen aber einfachen Worten die sich durch den Glauben eröffnende Kunde vom Jenseits. Es wurde die Idee von der Persönlichkeit eines über der Welt stehenden Gottes geboren, die sich zu einer Glaubensgewissheit verdichtete und eine Veränderung der Sichtweise des Menschenbildes mit sich brachte. Nach Christi Lehre ist der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen[3]), er ist die Krönung der Schöpfung und als solche zur Kindschaft Gottes berufen. Der Mensch erhält eine bisher ungeahnte Würde[4]), losgelöst aus der Einordnung in den Kosmos und in Beziehung gesetzt dem über der Natur stehenden schöpferischen und herrschenden Geist des Göttlichen. Die Aufgabe des Menschen ist das Streben nach dem richtigen Weg zu Gott, ein Weg dessen Ende im Jenseits zu finden ist und der nur von der unsterblichen Seele des Menschen bis zum Ende beschritten werden kann. Der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele und die ganz klare Abtrennung der Seele vom rein Körperlichen, dem Kosmos verbundenen Element, relativiert die irdischen Werte wie Reichtum, Schönheit oder Wissen und verlangt vom Menschen eine verstärkt tugendhafte innere Haltung ab, in der er nach dem Ebenbild Gottes streben soll.

Zusätzlich bringen die Gebote der Nächsten- und Feindesliebe ein ganz neues Verständnis der allgemeinen Menschenachtung. Aus einer gesteigerten Menschenachtung geht aber auch ein gesteigertes Selbstwertgefühl hervor, das von den drei Grundkräften der menschlichen Seele, dem Gedächtnis, der Vernunft und dem Willen getragen und gestaltet wird. Das Selbstbewusstsein wird immer bestimmt vom freien Willen, der die Selbstbestimmung und Selbstmächtigkeit in den Mittelpunkt rückt.[5]) So meint Augustinus: "Der Wille steckt in allen Seelenregungen; so sind alle nichts anderes als Wille".[6]) Aus einer solchen Geisteshaltung heraus, konnte sich auch das Verständnis für den Begriff der Person wandeln, ja erst im eigentlichen Sinn entstehen und führte zu der nach Boethius bekannten Definition[7]): “Persona est naturae rationalis individua substantia”.

Die neuen umwälzenden Auffassungen von Würde und sittlicher Aufgabe des neu definierten Begriffes der Person dürfen aber darüber nicht hinwegtäuschen, dass im diesseitigen Lebensbereich die Menschen wohl oft die Gleichbehandlung vergeblich suchten und nur dann einen Anspruch darauf dem Grunde nach hatten, wenn sie dem richtigen Glauben angehörten und die ihnen von Mutter Kirche vorgesetzten Lehrmeinungen und Ansichten vertraten. Die Begriffe der Menschenwürde und Selbstbestimmung waren noch eingesperrt in den absolut wirkenden und wegweisenden Schutzmantel der Mutter Kirche, der niemand, selbst der Kaiser nicht, widersprechen durfte. Davon abgesehen waren es wohl nur wenige streng Gläubige, die nach den Geboten und Verheißungen Gottes lebten. So war falsche Gläubigkeit und ein falsches Verständnis der Glaubensinhalte zu einem hohen Maße an der Sinnlosigkeit und Brutalität der versuchten Eroberung des “Heiligen Landes” in den 12 Kreuzzügen schuld. Auch wurde von der Kirche die Gewissensfreiheit nicht anerkannt, was in den Verfolgungen der Ketzer unschwer zu erkennen ist und in den Auswüchsen der Heiligen Inquisition ihren negativen Höhepunkt fand. So wurde das Menschenbild wieder verzerrt und in Gedankenschemata gezwängt, die bestimmt waren von den so irdischen Dingen wie Besitz und Reichtum, wie Macht und Herrschaft, wie Unterdrückung und Hierarchie.

Zusätzlich war das Zeitalter der ausgehenden Antike und des beginnenden Mittelalters geprägt von den historischen Ereignissen der Völkerwanderung, die wieder verstärkt naturbezogene Elemente mit sich brachten. Diese Völker waren erfüllt von einem enormen Tatendrang, von einer Kraft und Macht, die die abendländische Kultur zuletzt unter dem Machtstreben der Römer erfahren hatte. Die germanischen Völker strebten nach einer Freiheit in der Fremde, getrieben von einer ungebändigten Wanderlust und Entdeckungsfreude. Dabei verstanden sie aber ihr Selbstgefühl nicht als Bewusstsein von der Würde der Persönlichkeit und ihr Freiheitsdrang war noch kein Wissen um den Wert der Freiheit. Dies illustriert besonders deutlich das germanische Recht. Es war geprägt durch die Einrichtungen des Familien- und Sippenverbandes, der seinen Mitgliedern Ehre und Achtung verlieh. Der Sippenverband gewährt Anteil an Recht und Freiheit.[8]) Wer außerhalb des Sippenverbandes stand, war Fremder, Rechtloser, Unfreier und Friedloser.

Innerhalb der Sippe[9]) herrschte die väterliche Hausgewalt, die das Verfügungsrecht nicht nur über Gesinde und Kinder, sondern auch über die Frau verlieh und als Munt bezeichnet wurde. Die Munt umfasste das Recht zur Tötung, Verstoßung und Veräußerung der Muntlinge.

In der weiteren historischen Entwicklung kristallisierte sich immer stärker das Element der Hierarchie, des Stufenbaus der Gesellschaft heraus, das insbesondere gekennzeichnet war von einer geburtsständischen Gliederung in Adel, Freie, Minderfreie und Unfreie. Der Knecht wurde lange Zeit wie ein Sklave  behandelt und dem Tier gleichgestellt.

Die Bedeutungslosigkeit der Freiheit geht auch aus der Tatsache hervor, dass viele Germanen ihre eigene Freiheit aufgaben und sich einem Herrn bzw. Patron unterstellten, um in seinem Familienverband Schutz vor der Brutalität und Rechtsunsicherheit der damaligen Zeit zu finden.

Die Verbindung der christlichen Offenbarung mit dem antiken Naturwissen und dem Dranghaften und Faustischen des Germanentums ließ die Licht- und Schattenwelt des Mittelalters entstehen, in der die Werte der Menschenwürde, der Freiheit und der Selbstbestimmung zwar schon im Ansatz erkannt und verstanden wurden, aber von ihrer Ausgestaltung in Bezugnahme auf jeden einzelnen Menschen noch meilenweit von ihrem Ziel entfernt waren.

Teufelsspuk und Hexenwahn, Inquisition und Ketzerverbrennung, Folter und Zauberei, Intoleranz und Glaubenskriege, Autoritätshörigkeit und Weltverachtung, Standesdünkel und Unterdrückung der unteren Schichten kennzeichneten diese Zeit.[10]) Ein Lichtblick, der schon in die Richtung des aufkommenden Selbstbewusstseins der Neuzeit seinen Finger streckte, war die Verleihung von Freiheitsrechten an Genossenschaften, Landstände und ganz besonders an Städte.[11]) Die Freiheitsrechte wurden als Privilegien[12]) verliehen und ermöglichten die Gestaltung von Rechten, wie dem Schutz vor willkürlicher Verhaftung, des Rechts auf den gesetzlichen Richter, die Freiheit des Erbrechts, die Freizügigkeit, den Schutz vor Veräußerung und Pfändung usw. Insbesondere die Städte entwickelten sich zu einem Ort der Entwicklung von persönlicher Freiheit. In ihnen erstarkte das Selbstbewusstsein des einzelnen und ermöglichte so das Entstehen von mannigfachem Eigenleben und individueller Eigenart in einem erstarkenden Gefühl der gegenseitigen Wertschätzung und Achtung.


[1]) Carl Schneider, Propyläen - Weltgeschichte/Die römische Welt IV 440 ff.
[2]) Neues Testament, Johannes 18, 36.
[3]) Genesis, 1, 26: “Und Gott sprach: Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis.” In ähnlicher Formulierung kehrt dieser Ausspruch an mehreren anderen Stellen der Genesis wieder, nämlich in 5, 1 und 9, 6; überdies im Neuen Testament im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther, 11, 7 und in seinem Brief an die Colosser, 3, 10. Vgl auch Matthäus 5, 48: “Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist”.
[4]) Der Mensch besitzt eine gewisse Würde, die ihm von Gott her infolge der Schöpfung zukommt. Die dem Mitmenschen angeborene Würde zu achten ist jedermanns Pflicht. Sie folgt aus dem natürlichen Gesetz, das von Gott einem jeden ins Herz geschrieben wurde: “Tue niemanden etwas an, von dem du nicht willst, dass es dir geschehe”. Vgl bei Jeremias, 31, 33; Ezechiel, 11, 19; “Alle Menschen sind Kinder eines Vaters” Deuteronomium, 32, 6; Matthäus, 5, 16; 5, 45; 5, 48; 23, 9; Paulus, Brief an die Epheser, 4, 6; “Bei Gott ist kein Ansehen der Person”.
[5]) Welzel, Vom irrenden Gewissen, 50 f, 52 ff.
[6]) De civitate Dei XIV, 6.
[7]) Die Antike untersuchte den Begriff der Person noch nicht.
In der christlichen Frühzeit wird hingegen heftig um diesen Begriff gestritten (Konzil von Alexandrien).
[8]) Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht2, 26.
[9]) Baltl, Österreichische Rechtsgeschichte6 (1986) 75.
[10]) Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht2, 29.
[11]) Baltl, Österreichische Rechtsgeschichte6 (1986) 152.
[12]) Zu erwähnen sind insb. die englische Magna Charta von 1215, die ungarische Goldene Bulle von 1222 und die Charte Normande von 1314.
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