
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
ca) Allgemeines zur Interessenabwägung
Der Gesetzgeber verweist in vielen Fällen, in denen er nicht nur einen typischen Sachverhalt regeln möchte, sondern eine möglichst hohe Anpassung an die verschiedenen konkreten Umstände erreichen will, auf eine Interessenabwägung. So stellt er in verschiedenen Fällen im Gesetz ein schutzwürdiges Interesse heraus und überlässt es dem Richter, die Abgrenzung zu einem entgegenstehenden “berechtigten Interesse” vorzunehmen. Dies zB beim Ehrenschutz bzw der Kreditwürdigkeit[1]) in den Bestimmungen der §§ 1330 ABGB und 824 BGB. Teilweise macht das Gesetz die Rechtsfolge vom Vorhandensein oder Fehlen eines schutzwürdigen Interesses abhängig, das nicht näher umschrieben wird und durch den Richter festgestellt werden soll. Als Beispiele können hier das Namensrecht[2]) (§ 43 ABGB, § 12 BGB), die Regelungen zur Haftung bei zu vertretender Unmöglichkeit ( § 920 ABGB und die §§ 280, 325 BGB) und die Bestimmungen zum Verzugsschaden[3]) (§ 918 ABGB und die §§ 286, 326 II BGB) erwähnt werden. In all diesen Fällen geht der Gesetzgeber davon aus, dass in den umschriebenen Interessen selbst Maßstäbe enthalten sind, die eine Abwägung und damit eine Entscheidung von Konfliktlagen erlauben.
Für den Bereich des Arbeitsrechts lässt sich im Kündigungsschutz[4]) ein gutes Beispiel für die Interessenabwägung finden. Hier bestimmt § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG und § 210 Abs 3 Z 2 LandarbG, dass einer Kündigungsanfechtung stattzugeben ist, wenn durch die Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt werden und die Kündigung nicht durch in der Person des Arbeitnehmers gelegenen Umständen, die die betrieblichen Interessen nachteilig berühren, oder durch wirtschaftliche Erfordernisse des Betriebs, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entgegenstehen, begründet ist.[5])
Hier wird zur Konfliktlösung eine Abwägung der Interessen des Arbeitnehmers, des Betriebes und des Betriebsinhabers vorausgesetzt.[6])
Ein weiteres interessantes Beispiel lässt sich aus dem Mietrecht anführen. Hier bestimmt die Zeile 8 des § 30 Abs 2 MRG, der taxativ die “wichtigen Gründe” anführt, zufolge derer ein Mietvertrag gekündigt werden kann, dass im Falle des Eigenbedarfs des Vermieters eine Abwägung der widerstreitenden Interessen des Vermieters und des Mieters zu erfolgen hat. Hier ist zu ergründen, wem ein unverhältnismäßig größerer Nachteil aus der Aufrechterhaltung des Mietvertrages bzw aus der Kündigung erwüchse. Nach Würth sind “bei der Interessenabwägung, die erst vorzunehmen ist, sobald der dringende Eigenbedarf bejaht wird,... alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten gegenüberzustellen; dazu gehören auch die Einkommensverhältnisse. Soweit die Interessen des Vermieters nicht klar überwiegen, liegt der Kündigungsgrund nach Zeile 8 nicht vor”[7]).
Besonders die beiden Generalklauseln von den “Guten - Sitten”[8]) (§§ 879 und 1295 Abs 2 ABGB sowie die §§ 136 und 826 BGB) und von “Treu und Glauben”[9]) (§§ 863, 914 und 1435 ABGB sowie die §§ 157 und 242 BGB) enthalten auch den grundlegenden Gedanken, dass der einzelne seine Interessen nicht ohne Rücksichtnahme auf die Belange der Mitmenschen verfolgen darf.[10])
Wenn auch alle diese gesetzlichen Normen auf eine Interessenabwägung hinweisen, so enthalten sie doch Unterschiede, die in der Abstufung der Gewichtigkeit der einzelnen Interessen liegen.[11])
Die Abstufung der Interessenlagen gestaltet sich oftmals recht schwierig, können aber zu einer besonderen Fallgerechtigkeit beitragen, was am Beispiel der Sozialwidrigkeit der Kündigung und der Entlassung aufgezeigt werden kann. Die österreichische Lehre vertritt hierzu die Auffassung, dass dann wenn sozial gerechtfertigte Gründe für eine Kündigung gegeben sind, diese Gründe auch eine vorzeitige Entlassung rechtfertigen und umgekehrt und damit das Fehlen eines Entlassungsgrundes ohne Sozialwidrigkeit für die Aufhebung einer Entlassung nicht ausreicht.[12]) Es wird betont, dass die Sozialwidrigkeit bei einer Entlassung dieselbe wie bei der Kündigung sei. Es wird bei der Begründung auf das sachliche Mittel verwiesen, das in beiden Fällen ident ist (§ 105 Abs 3, § 130 Abs 4 ArbVG oder § 210 Abs 3 LandarbG)[13]). Die Interessen sind gleich gelagert.
Vorsicht ist aber bei den Voraussetzungen für eine Kündigung und eine Entlassung geboten. Eine vordringliche Besonderheit der Entlassung liegt darin, dass die rechtmäßige Beendigung dieser Art einen “wichtigen Grund” erfordert und das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung, also ohne Frist, aufgelöst wird.[14]) Der Bezug auf den “wichtigen Grund” spiegelt eine unterschiedliche Interessenbewertung zur Kündigung wieder. Der “wichtige Grund” verstärkt das Interesse des Arbeitgebers, das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer so rasch als möglich zu beenden. Liegt kein “wichtiger Grund” vor, wird zwar dem Interesse des Arbeitgebers durch die Möglichkeit der ordentlichen Kündigung Rechnung getragen, gleichzeitig durch die Einräumung einer Kündigungsfrist dem Arbeitnehmer aber eine Schonzeit eingeräumt, die seinem Interesse der Möglichkeit der Arbeitsplatzsuche unter geringerem Zeitdruck entgegen kommt und dem Interesse des Arbeitgebers im Verhältnis zur außerordentlichen Kündigung weniger Wertigkeit zumißt. Würde man nun bei einer Sozialwidrigkeit der Kündigung den gleichen Maßstäbe ansetzen wie bei einer Entlassung aus “wichtigem Grund”, würde man also das Kündigungsrecht des Arbeitgebers gleichen Einschränkungen unterwerfen wie das Entlassungsrecht, wäre dies eine Ignoranz des sich wandelnden, ab- und aufstufenden Gewichts einzelner Interessen, die hinter den einzelnen Sachverhalten stehen.[15]) In diesem Fall sind die Interessenlagen sehr unterschiedlich. Der Zentralbegriff in dieser Problematik ist die Zumutbarkeit, die abgrenzen muss, bei welchen Umständen ein Verbleiben des Arbeitnehmers im Betrieb für den Arbeitgeber nicht mehr zu erdulden ist.
Die Zumutbarkeit stellt eine strenge Anforderung an die Interessenabwägung.[16]) Für den vorliegenden Fall wird es wohl eines erheblichen Unterschiedes zwischen dem einen und dem anderen Interesses bedürfen, um die Zumutbarkeitsgrenze des Arbeitgebers zu überschreiten.
Im Gegensatz dazu wird zB im Rahmen der Klausel von “Treu und Glauben” schon ein geringfügiger Interessenunterschied zu beachten sein, während ein Verstoß gegen die Klausel von den “Guten - Sitten”, wie schon oben behandelt, erst bei einer groben Außerachtlassung fremder Belange – insb bei einem tadelungswürdigem Verhalten – angenommen werden sollte.[17])
Der Richter wird also nicht nur mit der Aufgabe betraut, zu prüfen, ob schutzwürdige Interessen vorliegen, sondern er hat auch die Gewichtsunterschiede der widerstreitenden Interessenlagen zu ergründen. Hubmann[18]) meint hierzu, dass man von “einer Generalklausel der Interessenabw ägung sprechen kann. Die Gerichte haben das ihre dazugetan, um sie zu einem die ganze Rechtspraxis beherrschenden Prinzip auszubilden”.[19])
Dabei sprechen die Gerichte[20]) aus, dass eine Interessenabwägung nicht nur dann zu erfolgen hat, wenn eine solche im Gesetz vorgeschrieben ist, sondern auch dann, wenn durch tatsächlich geänderte Verhältnisse ein Konflikt, der bei Erlassung des Gesetzes noch nicht ins Auge gefasst werden konnte oder wurde, zur Entscheidung ansteht. Daher muss die Interessenabwägung, gepaart je nach Fallbegebenheit, mit Rücksichtnahme auf die objektiven Wertungen, die hinter einem Interesse stehen, zur Entscheidung von Fällen herangezogen werden, in denen eine unmittelbare Gesetzesanwendung versagt, das Gesetz selbst Fallprobleme offen lässt oder seine Anwendung zu unbilligen Ergebnissen führen würde. Dadurch kann die materielle Gerechtigkeit einer Entscheidung gefördert werden! Dies ist abhängig von einer ganzen Reihe besonderer Umstände und spezieller Interessenlagen, deren Berücksichtigung durch den Richter nicht leicht vorherzusehen ist und damit ein gewisses Problem der Rechtssicherheit mit sich bringt. Daher soll hier versucht werden, Grundsätze der Interessenabwägung herauszuarbeiten, die in der Praxis dem Richter Richtlinien und Maßstäbe zur Entscheidung an die Hand geben und den Parteien die Möglichkeit eröffnen, erkennen zu können, welche Gesichtspunkte zu ihren Gunsten und welche zu ihren Ungunsten gewertet werden müssen.