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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

1) Die Schutzwürdigkeit

 

Bevor im Einzelfall überhaupt geprüft werden kann, welcher Wert hinter einem Interesse steht, ist es notwendig, zu beurteilen, ob das Interesse selbst überhaupt schutzwürdig ist. Hierbei kommt es nicht auf die subjektive Einschätzung eines Interessenträgers an, sondern auf eine objektive Beurteilung.

Diese Beurteilung ist anhand der Gesetze und der “natürlichen Rechtsgrundsätze” in ihrer Symbiose zwischen bestimmender “Rechtsidee” und regulativer historischer Konkretisierung  in der gegebenen Rechtsgemeinschaft zu treffen.

In unserer Rechtsordnung kann oft erkannt werden, dass Individualinteressen hinter allgemeinen Interessen zurücktreten müssen.[1]) Dadurch entsteht der Eindruck, das Individualinteresse hätte sich unter das Globalinteresse unterzuordnen, ja erhalte erst von der Gemeinschaft her seinen Wert. Durch den Grundrechtskatalog wird den Privatrechtsinteressen grundsätzlich ein Wert beigemessen, der Schutz bieten soll vor der Bevormundung durch die Allgemeinheit. Vorzüglich orientiert an der Menschenwürde weist das Persönlichkeitsrecht eine starke Tendenz zu einer Bevorzugung von Individualinteressen auf und stellt in diesem Zusammenhang die traditionellen Grundrechte sogar in den Schatten. Denn es kann nicht verdeckt werden, “dass heute einerseits eine kollektivistisch gesinnte Gesellschaft mittels immer neuer Verhaltensschablonen in unverschämter Weise den natürlichen Freiraum des Individuums immer mehr beengt und lebensbedrohlich verletzt, dass aber andererseits die Grundrechte im konstitutionellen Sinn infolge ihrer Situationsbedingtheit gar nicht in der Lage sind, den Menschen in seiner umfassenden Individualität, in seiner Eigenschaft als Maß aller Dinge gegen den Motivzwang einer kollektivistischen Umwelt zu verteidigen.[2]) Der Staat schützt das Gewissen, das Eigentum, die Freizügigkeit, die Gewerbefreiheit usw, aber er lässt es zugleich zu, ja er fördert es, dass – zum Teil unter Berufung auf diese Grundrechte – den Menschen durch eine verfehlte Verkehrsplanung der lebensnotwendige Schlaf geraubt wird, dass Millionen von Menschen um des angeblichen Fortschritts willen durch Dreck und Abgase die lebensnotwendige Atemluft vorenthalten wird, dass die zum menschlichen Leben unerlässlichen ökologischen Grundlagen der Natur bedenkenlos der Profitgier geopfert werden – kurz: der Staat mag den Menschen punktuell und situationsbedingt durch die konstitutionellen Grundrechte schützen, er hat sich aber bisher außerstande gezeigt, den Menschen als seiende Ganzheit gegen lebensbedrohende oder auch nur individualitätsbedrohende Eingriffe der Gesellschaft zu verteidigen."[3]) Das Persönlichkeitsrecht bietet einen besonders guten Ansatzpunkt für die Untersuchung des Verhältnisses von Inividualinteresse und Allgemeininteresse und stellt ein gegenüber den Grundrechten geeigneteres Mittel zur Durchsetzung derartiger Interessen zur Verfügung, das auch in der Praxis besondere Bedeutung erlangen wird, sobald seine tatsächliche Wertigkeit von Rechtsprechung und Lehre unvoreingenommen anerkannt wird. Tatsächlich wird das Individuum faktisch oftmals von der Gesellschaft zu wenig geschätzt und in der Folge durch gesellschaftliche Trends und Wertungen bedrängt. Aus juristischer Sicht sind aber Gemeinschaftsinteressen und Individualinteressen auf eine Waage zu legen und unter Berücksichtigung qualitativer wie quantitativer Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen. Hier kann es ohne weiters sein, dass das Individualinteresse auf Grund seiner besonderen qualitativen hochschutzwürdigen Gewichtung dem Allgemeininteresse vorgeht.[4])

Die Schutzwürdigkeit von Interessen kann in erster Linie aus dem Gesetz entnommen werden. Klar erkenntlich wird die Schutzwürdigkeit in subjektiven Rechten. Zwar können sich die subjektiven Rechte nicht in jeder Situation und unter jeder Voraussetzung durchsetzen, vielmehr werden sie selbst durch gesetzliche Vorschriften eingeschränkt und durch andere berechtigte Interessen begrenzt, deren Wertigkeit im Rahmen einer Interessenabwägung zum hinter dem subjektiven Recht stehenden Interesse in Beziehung gesetzt wird. Aber aus einem subjektiven Recht läßt sich grundsätzlich die Wertschätzung für das berührte Interesse durch das Gesetz erkennen.[5])

Besonders deutlich lassen sich geschützte Interessen in Strafgesetzen ausmachen, die vielfach zugleich Schutzgesetze im Sinne von § 1311 ABGB[6]) sind. Das Strafrecht bietet bestimmte umschriebene Sachverhalte, in denen klar vorgestellte wertwidrige Handlungen eine Erkennbarkeit von Rechtsgütern[7]) und Rechtswerten erlauben. “Die strafrechtlichen Delikte bilden eine Art von ‘Rechtsgüterkatalog’. Aus ihnen ergibt sich, welche Werte, Einrichtungen und Zustände des geordneten menschlichen Zusammenlebens zu den gesetzlich anerkannten Rechtsgütern zählen.”[8]) Vorsicht ist aber geboten, weil eine große Anzahl von Interessen in den Straftatbeständen zusammenfließen und ihre getrennte Beurteilung den Rechtsanwender oft vor schwierige Aufgaben stellt.

Auch außerhalb des Strafrechts lässt sich aus vielen Bestimmungen die Schutzwürdigkeit von Interessen ableiten. Oftmals werden subjektive Rechte eingeschränkt, woraus auf den bezweckten Schutz bestimmter anderer Güter und Werte geschlossen werden kann. Hier tritt die Schutzwürdigkeit eines Interesses im Widerstreit zu einem anderen Interesse zutage.

Durch das Recht am eigenen Bild in § 78 UrhG wird zB einerseits das Interesse des Abgebildeten auf Verhinderung seiner Bloßstellung und öffentlichen Preisgabe seines Privatlebens geschützt, andererseits das Interesse der Allgemeinheit auf Information berücksichtigt.[9]) In diesem Beispiel sind die Bewertungsfaktoren für die Schutzwürdigkeit eines Interesses nicht besonders komplex, was man von den meisten anderen Bestimmungen  nicht behaupten kann. Man denke hier nur an das Beispiel vom “gutgläubigen Erwerb vom Nichtberechtigten” im § 367 ABGB und § 366 HGB.[10])

Hier bedarf es einer umfassenden Analyse des Gesetzes, um  die Interessenunterschiede herauszuarbeiten.

Aus all diesen Vorschriften ist es relativ gut möglich, die widerstreitenden Interessen herauszufiltern. Schwierig wird es dort, wo der Gesetzgeber allgemeine Formulierungen verwendet. Hier spricht er von Interesse (zB § 105 Abs 3 ArbVG Z 2 = Kündigungsanfechtung wegen fehlender sozialer Rechtfertigung; § 920 ABGB = Erfüllungsinteresse beim Teilverzug), berechtigtem Interesse (zB § 1330 ABGB Abs 2 = Schutz der Ehre), Unzumutbarkeit (zB § 1306a ABGB = Notstand), vom allgemein Besten (zB § 365 ABGB = Enteignung), wichtigen Gründen (zB §§ 1117 f ABGB und § 29 Abs 1 Z 4 und 5 MRG = sofortige Auflösung des Bestandverhältnis; § 1162 ABGB = vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses aus wichtigen Gründen), Treu und Glauben (zB §§ 863 und 1435 ABGB), guten Sitten (zB  § 879 ABGB) und vielem mehr. Um diesen Begriffen Inhalt verleihen zu können muss auf die “natürlichen Rechtsgrundsätze” und damit auf die gesamte Rechtsordnung zurückgegriffen werden. Aus ihrem Geist ist dann zu entnehmen, welche Interessen schutzwürdig sind. In diesem Lichte werden eine ganze Reihe von Einzelinteressen erkennbar und verstärkt auch ein Blick auf die Gemeinschaftsinteressen möglich sein. Es spielt der soziale Gedanke genauso herein wie der Ordnungsgedanke oder die Frage nach der Rechts- und Verkehrssicherheit.

Manchmal beinhalten die rechtlichen Normen auch Maßstäbe, die dem außerrechtlichem Bereich zuzuordnen sind. Hier tritt die Frage nach der “Natur der Sache” auf. Ein besonders gutes Beispiel dafür ist das Persönlichkeitsrecht (§ 16 ABGB). Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Erkenntnis von der “Natur der Dinge” nur eine bruchstückhafte ist.[11]) Ist man schließlich gezwungen auf die Kulturanschauung einer Gesellschaft zurückzugreifen, wird der Bereich der “Rechtsidee” und damit die Fragen nach “Gerechtigkeit" und “Rechtsfrieden” aufgegriffen. Dieser Bereich, der auch oft für die Ausfüllung der Generalklauseln von besonderer Bedeutung ist, kann nur durch besonders vorsichtiges Prüfen einer etwa neu entstandenen bzw neu eruierten “communis opinio” an den Maßstäben und Grundwerten der gesamten Rechtsordnung Aufschlüsse für die Schutzwürdigkeit von Interessen bieten.

Dieselben Maßstäbe sind auch dort anzulegen, wo es gilt festzustellen, wem ein bestimmtes Interesse gebührt. Dies ist solange keine Schwierigkeit, als subjektive Rechte bestimmte Güter und Werte bestimmten Personen zuweisen.

Ist eine solche Zuweisung nicht ohne weiteres möglich, kann der von Müller-Erzbach[12]) betonte Gedanke aufgegriffen werden, dass derjenige ein Anrecht auf ein Gut bzw auf einen Wert und damit ein schutzwürdiges Interesses hat, der den Wert geschaffen oder verwirklicht hat. Dieser Grundsatz kommt in den Bestimmungen der §§ 414 - 419 ABGB genauso zum Ausdruck wie in den Bestimmungen zum Urheberrecht[13]) und in den gewerblichen Schutzrechten. Hier darf aber nicht übersehen werden, daß es viele sittliche aber auch geistige Werte und Güter gibt, die als Gemeingut zu verstehen sind und als solche nicht einem einzelnen zugeordnet werden können.[14])


[1]) Ein besonders krasses Beispiel in dieser Richtung ist die Enteignung, die dem Interesse der Allgemeinheit gegen das stärkste Vermögensrecht, dem Eigentum zum Durchbruch verhilft. § 365 ABGB bestimmt hier: “Wenn es das allgemein Beste erheischt, muss ein Mitglied des Staates gegen eine angemessene Schadloshaltung selbst das vollständige Eigentum einer Sache abtreten”; vgl dazu Adamovich - Funk, Österreichisches Verfassungsrecht3 (1985) 419; Spielbüchler in Rummel, Kommentar zum ABGB2 I, Rz 2 und 3 zu § 365; Aicher, Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz und Enteignung (1985) 29 ff; VfGH in JBl 1981, 304 mit Anm von Morscher; Koziol, Elastizität des Eigentums und Eigentumsgarantie, JBl 1966, 333.
[2]) Über die Situationsbedingtheit der konstitutionellen Grundrechte und ihre Unfähigkeit, das Sein des Menschen zu schützen, vgl die bedeutenden Ausführungen von van der Ven, Ius humanum – Das Menschliche und das Rechtliche (1981) 3 ff.
[3]) Schnorr, Erfüllung arbeitsrechtlicher Pflichten und Persönlichkeitsschutz des Arbeitnehmers, in FS - Strasser 102 f.
[4]) vgl zu diesem Problembereich das Apothekerurteil des BVerfG in BVerfGE 7, 377.
[5]) Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht2 (1953) 110 ff (132).
[6]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 I 414; Welser, Schutzgesetzverletzung, Verschulden und Beweislast, ZVR 1976, 1.
[7]) Kienapfel, Strafrecht: Allgemeiner Teil4 (1991) 7 Rz 6: “Rechtsgüter sind strafrechtlich geschützte Werte, Einrichtungen und Zustände, die für das geordnete menschliche Zusammenleben unentbehrlich sind. Das Rechtsgut bezeichnet die hinter einem bestimmten Delikt stehenden ideellen Werte”; vgl dazu auch Jeschek, Lehrbuch des Strafrechts: Allgemeiner Teil4 (1988) § 26 I 1–4; Maurach - Zipf, Strafrecht: Allgemeiner Teil7 I (1987) § 19 Rz 4 ff (14 f).
[8]) Kienapfel, Strafrecht: Allgemeiner Teil4 (1991) 8 Rz 1.
[9]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 I 75.
[10]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 II 77 ff.
[11]) Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 1956, 99.
[12]) Müller-Erzbach, Rechtsbildung durch Wertschöpfung, ZHR (deutsche Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht) 1926, 173.
[13]) Hubmann, Das Recht des schöpferischen Geistes (1954) 75.
[14]) Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 1956, 101.
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