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© Dr. Christoph Paul Stock

 

4) Interessennähe

 

Ein weiteres Kriterium der Interessenabwägung ist dem Vorzugsprinzip der Interessennähe zu entnehmen. Hier ist ausgehend von einer Gleichwertigkeit der Güter jenem Gut der Vorzug zu geben, welches näher im Blickfeld des Menschen steht. Je weiter ein Wert bzw Gut aus dem Blickfeld rückt, desto geringer ist sein Achtungsanspruch. Dieser Gedanke kommt sehr schön in der zivilrechtlichen Theorie vom adäquaten Ursachenzusammenhang zum Ausdruck.[1]) Danach ist ein Rechtsgut adäquat verletzt, wenn die Ursache ihrer allgemeinen Natur nach für die Herbeiführung einer derartigen Verletzung nicht als völlig ungeeignet erscheinen muss und nicht nur als Folge einer ganz außergewöhnlichen Verkettung von Umständen zu einer Bedingung der Verletzung wurde.[2])

Ein diffizileres Beispiel lässt sich aus dem Strafrecht anführen. So bestimmt § 115 Abs 3 StGB, dass jemand wegen einer Beleidigung entschuldigt ist, wenn er sich nur durch eine allgemein begreifliche Entrüstung über das Verhalten eines anderen zu einer Beschimpfung, Misshandlung oder Drohung mit Misshandlung hinreißen lässt. Das Interesse des Täters ist so nahe berührt, dass es allgemein begreiflich ist – dh auch ein Durchschnittsmensch hätte in gleicher Weise reagiert – , wie er unter den gegebenen Umständen gehandelt hat.[3])

Das Problem der Interessennähe lässt sich grob in vier Teilbereiche einteilen: in das Prioritätsprinzip, in das Problem vom Besitzervorzug, in die Frage nach der Nähe der Gefahr und in die Frage nach der Pflichtennähe.

Das Prioritäts- bzw Präventionsprinzip, welches im alten lateinischen Grundsatz “prior tempore potior jure”[4]) zum Ausdruck kommt, ist wohl einer der ältesten und unbestrittensten Grundsätze unserer Rechtsordnung.[5])

Viele Interessenkonflikte werden in unserer Rechtsordnung nach diesem Prinzip gelöst.

Besonders im Sachenrecht gilt im Gegensatz zum Schuldrecht der Grundsatz “prior tempore potior jure”. “Im Grundbuchsrecht wirkt sich das dahin aus, dass bei konkurrierenden Ansuchen um die Einräumung des gleichen dinglichen Rechts der frühere Antrag dem späteren vorgeht (§ 29 Abs 1 GBG)."[6]) Bei der Zwangsvollstreckung geht das frühere Pfandrecht dem späteren vor.[7]) Bei der Auslobung gebührt die Belohnung demjenigen, der die Leistung zuerst erbracht hat (§ 860b ABGB).[8]) Im Besitzstörungsverfahren (§§ 454 ff ZPO) wird der letzte ruhige Besitzstand, also der frühere Besitz bevorzugt. Bei der Aneignung herrenloser beweglicher Sachen entscheidet die Priorität der Besitzergreifung (§§ 380 ff ABGB). Auch im gewerblichen Rechtsschutz hat das Prioritätsprinzip große Bedeutung. Nach § 93 PatG erlangt zB der Anmelder das Recht der Priorität für seine Erfindung mit dem Tag der ordnungsgemäßen Anmeldung eines Patentes. Er hat gegenüber jeder später angemeldeten gleichen Erfindung den Vorrang.

Das Prioritätsprinzip ist also ohne Zweifel ein Ordnungsprinzip ersten Ranges im Widerstreit gleichwertiger Interessen. Es sollte aber nicht übersehen werden, dass das Prioritätsprinzip nicht überspannt werden darf, weil es sonst zu einer Fortschrittshemmung in jeglicher Hinsicht führen würde.

Ein in seiner Gewichtigkeit weniger bedeutender Aspekt der Interessennähe ist im Gedanken des Besitzervorzugs zu sehen. Dies allein schon deshalb weil alle Besitzschutzvorschriften nur Ansprüche vorläufiger Natur einräumen. Wer sich im Besitz einer Sache befindet, genießt bei sonst gleichen Umständen den Vorzug vor dem Nichtbesitzer. Dieser Grundsatz kommt schon in § 339 ABGB zum Ausdruck. Sehr spezifisch aber im rechtlichen Alltag oft von Bedeutung ist die Besserstellung  des ein Bestandobjekt besitzenden Mieters im Verhältnis zu einem nichtbesitzenden Mieter gegenüber einem Erwerber des Bestandgegenstandes. Es tritt durch den Erwerb keine Auflösungswirkung ein, soweit das Bestandobjekt an den Mieter schon übergeben wurde, wenn auch eine besondere Möglichkeit der Vertragsaufhebung eingeräumt wird (§ 1120 ABGB). Ist hingegen das Bestandobjekt dem Mieter noch nicht übergeben, so kommt es zu keinem Rechtsverhältnis zwischen ihm und dem Erwerber. Der Mieter wird gegen einen Bruch des Vertrages weniger geschützt (vgl auch die Bestimmungen des § 1095 ABGB und des § 2 Abs 1 MRG).[9]) Auf den gerichtlichen Besitzschutz wurde schon oben eingegangen.

So wie allgemein die Nähe der Verwirklichung eines Interesses für die Schutzwürdigkeit von Bedeutung ist, so bestimmt auch die Nähe einer Gefahr die Schutzwürdigkeit von Werten. Dieser Gedanke kommt besonders in den beiden Rechtsinstituten der Notwehr und des Notstands zum Ausdruck.[10]) Demnach sinkt der Achtungsanspruch eines Wertes, wenn nur durch seine Zerstörung oder Schädigung ein höherwertiges anderes Gut gerettet werden kann bzw durch den zerstörten oder geschädigten Wert die Gefahr selbst ausgegangen ist und dieser nicht viel höherwertiger war als der zu rettende Wert (vgl dazu § 1306a ABGB und die §§ 3 und 10 StGB). Dieser Grundsatz kommt auch im Betriebsgenehmigungsverfahren zum Ausdruck. Hier richtet sich die Art und der Umfang der Auflagenerteilung durch die zuständigen Behörden nach der Nähe der Gefahr (vgl § 69 Abs 1, § 69a, § 76 Abs 1 und 6 sowie § 82 Abs 1 GewO).

Die Frage nach der Interessennähe ist auch unter dem Aspekt der Pflichtenkollision zu betrachten. Ein Beispiel für eine Pflichtenkollision kann aus dem Problembereich des Kündigungsschutzes von Betriebsratsmitgliedern angeführt werden. Hier steht das Betriebsratsmitglied im Falle eines rechtmäßigen Streiks im Spannungsverhältnis zwischen seiner Treuepflicht gegenüber dem Betrieb auf der einen Seite und seiner Treuepflicht zu den Arbeitnehmern auf der anderen Seite. Das Betriebsratsmitglied kann aber nur eine Pflicht in diesem Falle erfüllen. Daher wird man ihm zugestehen müssen, auch ohne einen Kündigungsgrund im Sinne von § 121 Z 3 ArbVG zu setzen, an dem Streik teilnehme zu können, weil ihm das Interesse an der Loyalität zu seinen Arbeitskollegen am nächsten stehen wird. Dabei darf er aber nicht die Loyalität zum Betrieb völlig außer acht lassen, weil sonst unter Umständen dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Betriebsratsmitgliedes aus Gründen der fehlenden Arbeitsdisziplin nicht zugemutet werden kann. Hier spielen schon zusätzlich Fragen der Konfliktlösung herein.[11])


[1]) Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 1956, 110.
[2]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 I 413.
[3]) Bertel - Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht: Besonderer Teil2 I § 115 Rz 14 f.
[4]) Antonius im Codex Iustinianus 8, 17, 3.
[5]) Schon im alten Sachsenspiegel von Eike von Repgow aus dem 13. Jahrhundert (um 1224 - 31) kann man das Rechtssprichwort finden: “Wer zuerst kommt, mahlt zuerst”.
[6]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 II 105.
[7]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 II 127.
[8]) Gschnitzer -Faistenberger - Barta - Eccher, Österreichisches Schuldrecht Allgemeiner Teil2 (1986) 29; Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 I 194.
[9]) Klang in Klang, Kommentar zum ABGB, V 129 ff; Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 I 365; OGH in JBl 1929, 463; MietSlg 4413; OGH in JBl 1986, 386 (mit Anmerkungen von Huber).
[10]) Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 1956, 113.
[11]) Floretta - Spielbüchler - Strasser, Arbeitsrecht I: Individualarbeitsrecht3 (1988) 289; Floretta - Spielbüchler - Strasser, Arbeitsrecht II: Kollektives Arbeitsrecht2 (1984) 178 f.
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