
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
B) DIE GRUNDRECHTE ALS EINE ALLGEMEINE VERBINDLICHE WERTORDNUNG
Der naheliegendste Versuch zu klären, wie weit die Grundrechte als eine allgemein verbindliche Wertordnung anzusehen sind, ist für das österreichische Recht in einer Untersuchung der Entscheidungen des VfGH zu sehen, da er es ist, der über die Verfassung zu hüten hat. Es muss aber gleich vorausgestellt werden, dass der VfGH eine übertrieben traditionelle und veraltete Sicht der Grundrechtswirkung hat. Daher erscheint es vernünftig, nicht nur die Entscheidungen des VfGH heranzuziehen, sondern diese auch der österreichischen Literatur sowie der Rechtsprechung des deutschen BVerfG gegenüber zu stellen.
In seinem Erkenntnis vom 11. Oktober 1974[1]), hat der VfGH unmissverständlich ausgesprochen, dass der Grundrechtskatalog des StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von der klassischen liberalen Vorstellung seiner Entstehungszeit getragen ist; somit dem einzelnen nur Schutz gegenüber Akten der Staatsgewalt gewährt und nicht auch gegenüber anderen Staatsbürgern. Er vertritt also die Ansicht, dass die Grundrechte ganz gleich zu bewerten sind wie vor weit über 100 Jahren. Damit wird die von der österreichischen Literatur und der Rechtsprechung des deutschen BVerfG vertretene Meinung, aus den Grundrechten sei eine allgemein verbindliche Wertordnung abzuleiten, abgelehnt.
Aus einer rein historischen Sichtweise wird man annehmen müssen, dass sich das Verständnis der Wertigkeit der Grundrechte seit dem Jahre 1867 geändert hat.
Denn es ist kaum vorstellbar, dass trotz des tiefen Einschnittes in die Entwicklung des österreichischen Verfassungsrechts in Überwindung der autoritären Verfassung von 1934 und nach den Erfahrungen der NS - Diktatur die Bedeutung und Wertigkeit der Grundrechte nicht unter einem anderen Gesichtswinkel gesehen wird, wie zur Zeit der Staats- und Regierungsform der konstitutionellen Monarchie.[2])
Man darf annehmen, dass die Grundrechte durch die Einfügung in das System der repräsentativen Demokratie ihre ursprüngliche - historische Bedingtheit verloren bzw sie sich durch teleologische historische Anpassung gewandelt haben. Hier geht es um die Tatsache, dass Grundrechte in einer repräsentativen Demokratie, einer Gemeinschaft freier Bürger, sich weiter entfalten und entwickeln können und vom reinen Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat zu einem Wertegefüge einer Gemeinschaft werden.[3])
Die österreichische Lehre bejaht einen solchen Bedeutungswandel. Pernthaler[4]) führt aus, dass doch die seit 1867 erfolgte Umgestaltung der gesamten staatlichen Rechtsordnung – insbesondere der Verfassungsordnung – vom “Nachtwächterstaat” zum Leistungs- und Gestaltungsstaat auf die Grundrechtsinterpretation Einfluss gewinnen muss.
Grimm[5]) stellt sich die Frage, ob das Funktionsverständnis der Grundrechte auf die historischen Bedingungen ihrer Entstehungszeit fixiert ist und nur im Wege der Verfassungsänderung modifiziert werden kann, oder ob auch eine interpretative, den heutigen Vorstellungen und Bedürfnissen entsprechende Anpassung erfolgen kann. Er weist darauf hin, daß ein sozialer Wandel nicht bloß zu einer rechtspolitisch interessanten Diskrepanz zwischen Recht und Wirklichkeit führt, sondern überdies eine – auch rechtspolitisch beachtliche – Veränderung des Normsinns bewirkt.
“Larenz[6]) spricht von einem Wandel der Normsituation, wenn die tatsächlichen Verhältnisse oder Gepflogenheiten, die der historische Gesetzgeber vor Augen hatte und auf die hin er seine Regelungen entworfen und für die er sie gedacht hatte, sich in solcher Weise geändert haben, dass die gegebene Norm auf die geänderten Verhältnisse nicht mehr ‘passt’.[7]) Er weist ferner darauf hin, dass es vor allem auch Wandlungen im Gefüge der ganzen Rechtsordnung, die eine deutliche Tendenz der neueren Gesetzgebung, ein neues Verständnis der ratio legis oder der objektiv - teleologischen Kriterien sowie die Notwendigkeit der Anpassung vorkonstitutionellen Rechts an die Verfassungsprinzipien sind, die eine geänderte Auslegung bewirken können.”[8])
Schließlich ist auch Pernthaler in Bezug auf die Materie des Fristenlösungs - Erkenntnisses beizupflichten, wenn er ausführt, dass der österreichische Verfassungsgesetzgeber schon im Jahre 1867 davon ausgegangen ist, dass der verfassungsrechtliche Schutz des Lebens als ursprünglichste Aufgabe der staatlichen Rechtsordnung überhaupt in Österreich längst gewährleistet ist und allen Grund- und Freiheitsrechten vorausliegt. Dieser Betrachtungsweise folgend ist der Staat aber verpflichtet, das Leben auch gegen Angriffe Dritter zu schützen. Von solchen Überlegungen ist aber im Erkenntnis des VfGH zur Fristenlösung nichts zu finden.
Ein Blick über die Grenzen ins benachbarte Deutschland zeigt uns, dass das BVerfG eine zum VfGH konträre Stellungnahme zum Wertordnungsproblem der Grundrechte einnimmt.
Hier ist insbesondere eine Entscheidung zu erwähnen, die wenige Monate nach dem Fristenlösungs - Erkenntnis des VfGH ebenfalls zum Schwangerschaftsabbruch ergangen ist[9]). Das BVerfG nimmt nicht Bezug auf die historische Bedeutung der Grundrechte, sondern spricht den Grundrechten sittlichen Wertcharakter und Verantwortung für die gewandelte Gesellschaftsstruktur zu.
Österreichische Lehre und deutsche Rechtsprechung zeigen auf, dass die Haltung des VfGH zur Frage des Wertgehaltes der Grundrechte nicht haltbar ist! Bleibt nur die Hoffnung auf die Einsicht und eine Haltungswende des VfGH. Andererseit kann auch der OGH als eines der drei unabhängigen Höchstgerichte konträr zur Haltung des VfGH entscheiden, wenn es gilt die Grundrechte zur Lösung eines Rechtsproblems unter Privaten heranzuziehen. Weiter unten wird aber gezeigt werden, dass auch der OGH recht zurückhaltend bei der Heranziehung von Grundrechten als Wertungsgrundlage ist.