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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

3) Exkurs zum Verhältnis des dispositiven Rechts und der “ergänzenden Auslegungen” zur Grundrechtswirkung im Privatrecht

 

Bezüglich des Spannungsverhältnisses Privatautonomie und Grundrechtswirkung treten nun zwei weitere interessante Probleme auf: erstens, wieweit auch vertragsergänzendes dispositives Recht und zweitens, wieweit “ergänzende Auslegungen” unmittelbar bzw mittelbar an den Grundrechten zu messen sind.

Es ist sicherlich nicht möglich, im Rahmen dieser Arbeit die Einwirkungen der Grundrechte auf die verschiedenen Normen des Privatrechts in voller Breite zu behandeln, aber es soll hier eine kurze Erörterung erfolgen, um der großen Bedeutung des vertragsergänzenden dispositiven Rechts und der “ergänzenden Auslegung” gerecht zu werden.

Die Besonderheit des dispositiven Rechts liegt darin, dass die vertragsschließenden Parteien an seine Bestimmungen nicht gebunden[1]) sind und nur für den Zweifelsfall festgelegt wird, “was redliche und vernünftige Parteien normalerweise verabreden würden”[2]). Man könnte nun glauben, dass sich aus dem Charakter des dispositiven Rechts eine verminderte Bindungswirkung gegenüber den Grundrechten ergebe. Dagegen sprechen zwei Fakten. Einerseits ist die Schaffung dispositiven Rechts eine heteronome Normsetzung durch den Staat und nicht autonome Regelung durch Privatrechtssubjekte. Andererseits tritt das dispositive Recht als ergänzendes oder auslegendes Recht auf, wenn die Privatrechtssubjekte in ihren Vereinbarungen unvollständige oder undeutliche Regelungen verwendet haben oder die verwendeten Worte und Wendungen zweifelhaft bzw unverständlich sind und das Gesetz bestimmt, welches Verständnis zu wählen ist. In den letzteren Fällen wird das dispositive Recht zu bestimmendem durch die Rechtsprechung unbedingt anzuwendendem Recht, das sich durch die staatliche Anwendung in seiner Konsequenz dem zwingenden Recht stark annähert. Wegen der Bindung der Rechtsprechung auch an das dispositive Recht und unter Berücksichtigung seines besonderen ergänzenden und auslegenden Charakters, ist auch das dispositive Recht unmittelbar an den Grundrechten zu messen.

Bleibt die Frage zu klären, wieweit eine “ergänzende Auslegung” an die Grundrechte gebunden ist. Treten nach Abschluss eines Geschäftes “Konfliktfälle auf, die von den Parteien nicht bedacht und daher auch nicht ausdrücklich geregelt wurden, so ist unter Berücksichtigung der übrigen Geschäftsbestimmungen und des von den Parteien verfolgten Zwecks zu fragen, welche Lösung redliche und vernünftige Parteien vereinbart hätten”[3]). Eine Verwandtschaft der “ergänzenden Auslegung” mit dem dispositiven Recht ist unverkennbar. Soweit  die “ergänzende Auslegung” dem dispositiven Recht gleichzuhalten ist, wird man eine unmittelbare Anwendung der Grundrechte annehmen dürfen. Es handelt sich dann um eine heteronome und nicht um eine autonome Regelung. Die “ergänzende Auslegung” darf also das Geschäft bzw den Vertrag nicht aus seinen individuellen Besonderheiten heraus ergänzen, sondern lediglich bestimmen, was in einer vollständigen gesetzlichen Regelung im dispositiven Recht stünde, was also nicht nur für einen “speziellen” Vertrag, sondern für einen Vertrag “gewisser Art” rechtens wäre.

In Deutschland haben sich Meinungsunterschiede[4]) zu diesem Problem aus einem Fall heraus ergeben, in dem zwei Ärzte einen Praxistausch vereinbart haben, ohne weiter zu regeln, ob sie an ihren ursprünglichen Tätigkeitsort zurückkehren dürften.[5]) Ein ungeschriebenes Rückkehrverbot wurde durch “ergänzende Auslegung” angenommen. Canaris, dem hier wohl zuzustimmen ist, konstruierte zwei Typen “ergänzender Auslegung”, die der Begrifflichkeit von “Heteronomie” und “Autonomie” entsprechen. Er führte aus, dass die “ergänzende Auslegung” “entweder für ‘einen solchen’ oder gerade für ‘diesen’ Vertrag erfolge, je nachdem, ob sie wie im Falle des Praxistauschs an der typischen Interessenslage orientiert ist oder sich auf die individuellen Besonderheiten des betreffenden Vertrages stützt”[6]).

Auf die Bestimmung des § 914 ABGB Bezug nehmend, liegt dem zufolge in jenen Fällen ein “spezieller Vertrag” vor, in denen der hypothetische Parteiwille noch aus den Umständen der Erklärung ergänzend erfasst werden kann[7]), obwohl die Parteien den Konfliktfall bei Abschluss des Geschäfts nicht bedacht und damit nicht ausdrücklich geregelt haben. Gegenstand der Auslegung bleibt die Ergründung des privatautonomen Willens, der für die Wertgehalte der Grundrechte keinen Raum lässt. Sobald aber im Sinne des § 914 ABGB der Richter gezwungen ist, im Rahmen der “ergänzenden Auslegung” auf die Übung des “redlichen Verkehrs” zurückzugreifen, und in Wahrheit nicht mehr der hypothetische Parteiwille ergründet wird, sondern im Sinne des § 7 ABGB eine richterliche Rechtsfortbildung mit Hilfe der “echten Verkehrssitte”[8]) und der “Vertragssitte”[9]) eine dem “dispositiven Recht” sehr nahe stehende Lückenfüllung erfolgt, kann von privatautonomen Aspekten des Vertrages nicht mehr gesprochen werden. In diesem Fall wirken die Grundrechte über die richterliche Rechtsfortbildung auf die “ergänzende Auslegung” ein.

Für Österreich sei hier erwähnt, dass eine “ergänzende Vertragsauslegung” durch den VfGH nicht überprüft werden kann, weil es nicht wie in Deutschland eine über die Normenkontrolle hinausgehende Überprüfungskompetenz  des VfGH gibt. Bei “ergänzenden Vertragsauslegungen” mit heteronomen Zügen liegt also ein typischer Fall vor, bei dem sich der OGH berufen fühlen müsste, auch eine fragliche Grundrechtskonformität zu überprüfen.


[1]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 I 37 f.
[2]) Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184, 214.
[3]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 I 88; vgl dazu auch: OGH in JBl 1983, 592; ZAS 1986/13 mit Kommentar von Kerschner; Welser, JBl 1983, 6 f.
[4]) dazu: Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II, Das Rechtsgeschäft (1979) § 16, 4b; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1975) 531.
[5]) BGHZ 16, 71, 80.
[6]) Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz2 (1983) 53 f.
[7]) vgl OGH in ZAS 1977/19.
[8]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 I 88; Rummel, Vertragsauslegung 82 f.
[9]) Koziol - Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts8 I 88; Rummel, Vertragsauslegung 83 ff.
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