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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

dd) Die Schutzfunktion der Grundrechte

 

Bisher wurde der Standpunkt vertreten, dass die Normen des Privatrechts an den Grundrechten in ihrer klassischen Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte “unmittelbar” gemessen werden, hingegen Akte der Privatrechtssubjekte grundsätzlich nur “mittelbar” über die typischen Instrumentarien des Privatrechts auf ihre Vereinbarkeit mit den Wertungen unserer Verfassung einer Kontrolle unterliegen. Dabei wurde noch nicht näher ausgeführt, was passiert, wenn ein gewisses Schutzminimum der Bürger unterschritten wird, was insbesondere dann leicht auftreten kann, wenn die Vertragsparität zwischen zwei Privatrechtssubjekten gestört ist oder die ranghöchsten Güter der Persönlichkeit – hier denke ich vorerst besonders an den Schutz von Leib und Leben und die physische wie psychische Freiheit des Menschen, also auch die Gewissensfreiheit – in Gefahr sind.

Aus dem Problem des Schwangerschaftsabbruchs und der in vielen Staaten daran geknüpften Fristenlösung[1]), stellt sich die grundlegende Frage, ob der Staat das Leben und andere grundlegende Werte der Persönlichkeit nicht auch gegen Einwirkung von Privatrechtssubjekten schützen sollte. Ein solches Schutzgebot ließe sich aus dem Wertgehalt der Grundrechte herleiten. Die Grundrechte würden damit zusätzlich zu ihrer Funktion als Eingriffsverbote gegen den Staat auch die Funktion von Schutzgeboten an den Staat erfüllen. Dabei wäre jeweils Normadressat der Staat und die typische Schutzfunktion der Grundrechte bliebe gewahrt. Ein solcher Gedanke wird vom VfGH in seinem Fristenlösungs - Erkenntnis[2]) völlig ausgeschlossen; ein Schutzgebot ist nicht anzuerkennen.

Im krassen Gegensatz dazu hat das BVerfG[3]) erstmals in seiner Entscheidung zur Reform des § 218 dStGB – diese Bestimmung regelt die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruches – ausgesprochen, dass die, in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Werte und Rechtsgüter gegen Verletzungen zu schützen sind. Dabei gehe es nicht um die Verletzungen aus der Staatsrichtung, sondern um die Verletzung durch andere Bürger und damit tatsächlich um die Problematik der “Drittwirkung”.[4])

Für Deutschland lassen sich wichtige Anhaltspunkte für das Bestehen eines Schutzgebotes an den Staat schon aus Art 1 Abs 1 GG ableiten, wo es heißt, dass die staatliche Gewalt die Menschenwürde nicht nur zu “achten”, sondern auch zu “schützen” hat. Dieses Schutzgebot richtet sich nicht gegen den Staat als bedrohendes Element, weil die Verletzungen der Menschenwürde durch den Staat selbst schon vom Gebot des “Achtens” erfasst wird.

“Was aber für die Würde des Menschen gilt, muss im Prinzip für die nachfolgenden Freiheitsrechte ebenfalls gelten; denn diese hängen, wie in Art 1 Abs 2 GG ausdrücklich hervorgehoben wird, auf das engste mit der Würde des Menschen zusammen und können geradezu als ‘spezifische Ausprägung der Fundamentalnorm des Art 1 Abs 1 GG’ bezeichnet werden[5]).”[6])

Für das österreichische Recht lässt sich aus den Grundrechten kein ausdrücklicher Auftrag zum Schutze der Menschenwürde auch gegenüber Privatsubjekten herauslesen. Doch kann aus der einfachgesetzlichen Bestimmung des § 16 ABGB, wie schon gezeigt wurde, ein absolutes Recht abgeleitet werden, das durch seinen subjektiven Charakter Schutz und Durchsetzbarkeit in der Rechtsordnung findet. Der Bedeutungsgehalt dieser Bestimmung geht weit über ihren Rangordnungswert als einfaches Gesetz hinaus und muss als Zentralnorm der Menschenwürde und Schutzbestimmung der gesamten Persönlichkeit anerkannt werden.[7]) In diesem Sinne muss § 16 in einem starken Naheverhältnis zu den Grundrechten gesehen werden, die in ihrer Gesamtheit auch den Wertgehalt des Art 1 Abs 1 des Bonner GG verkörpern. Der Schutzgehalt des § 16 ABGB muss sich hier, wegen seiner inhaltlichen Zentralstellung der Rechtsordnung über die Grenzen des einfachen Gesetzes hinaus auf alle Grundrechte erstrecken. Ansonsten würde man die Wertigkeit der Menschenwürde mit den Füßen der Geringschätzung treten, was man für unsere Gesellschaft sicherlich nicht annehmen kann. Es sei hier nochmals ausgeführt, dass die systematische Mangelhaftigkeit und das Fehlen eines wertstrukturmäßigen Aufbaues unseres Grund- und Freiheitskataloges sehr bedauerlich ist, aber nicht dazu führen darf, dass die höchsten Werte unserer Gesellschaft nur verschwommen und unscharf Anwendung finden.[8])

Für die österreichische als auch für die deutsche Rechtsordnung lässt sich aber aus objektiv - teleologischen Aspekten der Schutzbedarf der Bürger voreinander sowohl historisch als auch funktionell als primäre Aufgabe von Staat und Recht bestätigen und bestärken. Denn woraus entspringt sonst der Auftrag an die Gesetzgebung, die Bürger voreinander in mannigfachen Gesetzen zu schützen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn die Verfassung als die oberste Grundlage der Staats- und Rechtsordnung diese Dimension in sich aufgenommen hat.

Nun könnte das Argument erhoben werden, das Schutzgebot würde in seiner konsequenten Anwendung keinen Unterschied zur Lehre der “unmittelbaren Drittwirkung” ergeben. Rechtsdogmatisch lässt sich dazu ausführen, dass die Schutzgebotsfunktion nur den Staat und nicht die Privatrechtssubjekte zu Normadressaten hat. Praktisch werden die Ergebnisse zum Schutzgebot weitgehend nicht aus den Grundrechten sondern aus den einfachgesetzlichen Schutzbestimmungen und in deren Ermangelung aus richterlicher Rechtsauslegung bzw Rechtsfortbildung gewonnen. Die Erfüllung der Schutzaufgabe liegt beim einfachen Recht, auch wenn ihre Grundlage in der Verfassung zu finden ist.

Aus all dem ergibt sich, dass Akte von Privatrechtssubjekten nur soweit an den Grundrechten zu messen sind, als das verfassungsrechtliche Schutzminimum unterschritten wird und die Schutzgebotsfunktion zum Tragen kommt. Hingegen geht die klassische Abwehr- und Eingriffsfunktion der Grundrechte von einem Schutzmaximum aus, das bei einer unmittelbaren Anwendung “inter privatos” zu einer Gefährdung der Privatautonomie führt. Natürlich kann es geboten sein Privatrechtsakte derart einzuschränken, dass das Schutzmaximum der Abwehr- und Eingriffsfunktion der Grundrechte praktisch erreicht ist und damit die Grundrechte auch unmittelbar Anwendung finden könnten. Dies ist besonders gut denkbar bei Diskriminierungen, weil dieser Bereich mit der Menschenwürde eng verknüpft ist und daher nach einem umfangreichen Schutz verlangt. Doch es bedarf nicht jedes Schutzgebot der Grundrechte eines derart hohen Schutzgrades.

Hier könnte nun argumentiert werden, dass die an die Ungleichgewichtslage geknüpfte Schutzfunktion ungerechtfertigt sei, weil es auch Gleichgewichtslagen mit untragbaren Ergebnissen gibt. Die Privatautonomie habe nicht die Aufgabe, dem Bürger die Chance zu garantieren, sich durch eigene Verträge zu ruinieren.[9]) Demgegenüber haben aber die Grundrechte auch nicht die Aufgabe den einzelnen vor seiner Selbstbestimmung in Ausübung der Vertragsfreiheit zu schützen.

“Selbstbestimmung ist ohne Selbstverantwortung nicht denkbar, und weil das Prinzip der Eigenverantwortung den Grundrechten immanent ist[10]), kann es auch keinen Grundrechtsschutz vor sich selbst geben.”[11])

Der vorhin beschriebene Schutzgrad und damit das Schutzminimum ist in jedem Einzelfall an Hand privatrechtlicher Instrumentarien zu ermitteln. Wie diese Instrumentarien aussehen und wie sie wirken, wurde in diesem Teil der Arbeit in ihren Grundlagen schon gezeigt. Jetzt gilt es, noch zu klären, auf welche Weise die Grundrechte in ihrer “mittelbaren Wirkung” für das Privatrecht rechtstechnisch verwendbar gemacht werden können.


[1]) Das deutsche Verfassungsgericht erklärte am 28. Mai 1993 das neu verfasste deutsche Abtreibungsrecht für verfassungswidrig. Abtreibungen sollten nur noch bei sozialer Notlage der Frau bezahlt werden. Die bisherige Fristenlösung in Ostdeutschland von 12 Wochen wird aufgehoben. Das BVerfG hat ausgesprochen, dass das neu zu erstellende Abtreibungsrecht eine strikte Beratungspflicht enthalten müsse und die Kosten von Abtreibungen durch die Krankenkasse nur noch bei Gefahr für das Leben der Mutter, bei Schädigung des Kindes oder bei Schwangerschaft nach Vergewaltigung getragen werden darf. Abtreibung ist auf jeden Fall rechtswidrig aber nicht in allen Fällen strafbar. Das deutsche Verfassungsgericht bekräftigt damit seine Entscheidung von 1975 (BVerfGE 39, 1 = EuGRZ 1975/126), in dem ausgesprochen wurde, dass ungeborenes Leben von Beginn der Schwangerschaft an kraft seiner Menschenwürde ein Recht auf Leben zukomme und dieses als selbständiges Rechtsgut - auch gegenüber der Mutter - geschützt sei. Dieser Schutz sei nur gegeben, wenn der Gesetzgeber der Mutter die grundsätzliche Rechtspflicht auferlege, das Kind auszutragen.
In anderen Ländern Europas gibt es ganz verschiedene Regelungen zur Abtreibung:
In Frankreich bezahlen die Krankenkassen seit 1983 die Abtreibungen. Das Abtreibungsrecht selbst besteht in Frankreich aus einer Art Fristenregelung.
In Griechenland und Belgien gibt es ebenfalls eine Fristenlösung, wobei in Griechenland die Regionen, in Belgien die Krankenkassen die Kosten der Abtreibung übernehmen.
Großbritannien und die Niederlande kennen sogar eine Fristenlösung, die Abtreibungen auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche nicht bestraft. In beiden Ländern werden die Kosten von der Krankenkasse getragen.
Im Vergleich dazu sei die österreichische Lösung geschildert. Es gibt ebenfalls eine Fristsetzung, bis zu der eine Abtreibung straffrei bleibt, nämlich bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats. Die Kosten der Abtreibung werden von den Kassen nur bei gesundheitlicher Gefährdung der Schwangeren übernommen. In Härtefällen übernehmen die Sozialämter die Kosten. vgl dazu: Salzburger Nachrichten vom 29. Mai 1993/Nummer 123, 49. Jahrgang, Seite 4.
[2]) VfSlg 7400/1974.
[3]) BVerfGE 39, 1 = EuGRZ 1975, 126.
[4]) Dieser Zusammenhang wird im Schrifttum häufig geleugnet; vgl dazu zB Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit - Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates (1983) 35.
[5]) Rupp, AöR 101 (1976) 166.
[6]) Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184, 226.
[7]) Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte 60; Bydlinski,
JBl 1965, 253 f; Bydlinski, Arbeitsrechtskodifikation und allgemeines Zivilrecht (1969) 28 f; Reischauer, DRdA 1973, 213.
[8]) Lehne  hat in seinem Aufsatz: Grundrechte achten und schützen? Liberales Grundrechtsverständnis 1849, JBl 1985, 129 ff, mit einer historischen Untersuchung europäischer Verfassungen und Verfassungsentwürfe generell und einer Untersuchung der Pillersdorf´schen Verfassung mit Einbeziehung der Entwurftexte des Reichstages und den bezüglichen Debatten speziell aufgezeigt, dass es in vielen Ländern in den Verfassungen ein Schutzgebot der Grundrechte gegeben hat und gibt und dass auch in der österreichischen Verfassungsentwicklung von durchaus namhaften historischen Legisten das Schutzgebot der Grundrechte als Gehalt der österreichischen Verfassung anerkannt war, aber von einer Mehrheit, die dem Gedanken des Positivismus verhaftet war, eine zweifelsfreie positive Umschreibung des Schutzgedankens verhindert wurde.
[9]) Wiedemann, JZ 1990, 695 (697).
[10]) vgl dazu: BVerfGE 6, 32 (40): Durch die wertgebundene Ordnung des Grundgesetzes “soll die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft gesichert werden”.
[11]) Hillgruber, Grundrechtsschutz im Vertragsrecht, AcP 191, 85.
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