
K O N T A K T

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
6) Die Beschränkbarkeit der grundrechtlichen Wertgehalte im Privatrecht
Bisher haben wir uns mit der Frage beschäftigt, ob die Grundrechte eine Bedeutung für das Privatrecht entfalten. Diese Frage wurde mit ja beantwortet. Zusätzlich ist geklärt worden, wie die Grundrechte generell auf das Privatrecht einwirken. Hier wurde festgestellt, dass sie in ihrem Wertgehalt über die Generalklauseln des Privatrechts und überhaupt als Wertungsmaßstäbe gesamt im Zivilrecht Anwendung finden können. Es wurde aber noch nicht die Frage geklärt, wie der Wertgehalt der Grundrechte für das Privatrecht im Einzelfall bestimmt und abgewogen werden kann. Denn wegen des unterschiedlichen Wesens von öffentlichem Recht und Privatrecht wird anzunehmen sein, dass Grundrechte im Privatrecht eine andere Wirkung entfalten als im öffentlichen Recht.)[1]
Beim Leben der Menschen innerhalb der Gemeinschaft ergeben sich ständig Kollisionen, einerseits mit den Rechten und Interessen der Gemeinschaft und andererseits mit denen einzelner Mitmenschen.[2]) Diese Konflikte verlangen nach einem Ausgleich. Die Art der Abgrenzung zwischen verschiedenen Rechts- und Interessenkreisen gestaltet sich aber unterschiedlich, je nachdem, ob sie gegenüber der öffentlichen Gewalt oder anderen Privatpersonen erfolgt. Öffentliches Recht und Privatrecht kennen eigene Besonderheiten und Prinzipien. Vorrangiges Prinzip der öffentlichen Gewalt ist es, dem einzelnen gleichmäßig und neutral gegenüberzutreten, was eine Gleichbehandlung der ihr unterworfenen Personen verlangt. Niemand darf von der öffentlichen Gewalt bevorzugt, niemand von ihr benachteiligt werden. Gleiches ist gleich, Ungleiches ist ungleich zu regeln und zu behandeln.[3]) Aus diesem Grund kann auch eine Zustimmung des Gewaltunterworfenen zur Grundrechtsbeschränkung im öffentlich - rechtlichen Bereich nicht erlaubt sein, da dadurch der Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt würde. Um ein friedliches Zusammenleben unter einer staatlichen Gewalt zu gewähren, müssen alle vor dem Gesetz gleich sein, muss die Abgrenzung der Grundrechte in der Staatsrichtung möglichst starr und für alle gleich bleiben.
Ein klares und unabänderliches Freiheitsschema vermag dem einzelnen eine gesicherte Rechtsstellung gegenüber der Hoheitsgewalt zu verschaffen.[4]) Dem berechtigten Individuum muss der ausschließlich verpflichtete Staat gegenüber stehen. Dabei darf es, abgesehen von Gesetzesvorbehalten, kein “wenn” und “aber” eines Interessenausgleichs geben.[5])
Völlig anders ist die Situation im Privatrecht. Hier bedeutet die Gleichheit vor dem Gesetz, dass jeder den gleichen Freiheitsrahmen im gesellschaftlichen Zusammenleben hat, über den er selbst verfügen kann. Wie dieser Bereich gestaltet wird, bleibt jedem überlassen. Innerhalb dieses Freiheitsrahmens, der vom dispositiven Recht beherrscht wird und sich mit dessen Grenzen deckt, besitzt der einzelne die Möglichkeit, durch selbstbestimmte Willensakte Rechtsfolgen zu begründen oder zu verhindern. Der einzelne hat autonom für sich eine private Abschluss- und Gestaltungsfreiheit.[6]) Diese Privatautonomie wird bestimmt vom Prinzip des Ausgleichs, durch den widerstreitende Interessen unter autonomer Wertentscheidung kompensiert werden. “Jeder kann sich zur Wahrung seiner Interessen jedem anderen gegenüber auf die Grundrechte berufen, was deren volle Wirkung natürlich paralysiert”.[7])
Eine solche Einschränkung von Grundrechten ist aber nicht auf den Privatrechtsverkehr beschränkt. Auch von der Staatsrichtung her sind die Grundrechte Einschränkungen unterworfen. Denn unter der Voraussetzung einer neutralen und gleichmäßigen Einstellung der öffentlichen Gewalt gegenüber den einzelnen Grundrechtsträgern müssen auch im Verhältnis zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft Spannungsverhältnisse unterschiedlichster Intensitätsgrade ausgeglichen werden. Dies lässt sich durch Gesetzesvorbehalte erreichen, deren Motive der Beschränkung aber nur im öffentlichen Ordnungsinteresse begründet sein dürfen. Aber auch dann, wenn ein solcher Gesetzesvorbehalt fehlen sollte, bedeutet dies nicht, dass ein Grundrecht schrankenlos gilt. Alle Grundrechte können miteinander kollidieren. Daher ist kein Grundrecht derart fundamental, dass es nicht in Konflikt mit anderen Grundrechten oder sonstigen Rechten treten könnte und sich Beschränkungen gefallen lassen müsste.
Es gibt keine unbegrenzte Vorzugsstellung von Grundrechten.[8]) Alles Recht beruht auf Gegenseitigkeit! Das bedeutet, jeder darf seine Freiheit nur soweit gebrauchen, als er dadurch die Freiheit anderer nicht beeinträchtigt. Aus diesem Grund wohnen jedem subjektiven Recht – auch jedem Grundrecht – gewisse immanente Schranken inne.[9]) Daher liegt der Unterschied der Wirkung der Grundrechte im öffentlichen und privaten Recht nicht in der unbeschränkten Geltung derselben, da Einschränkungen in beiden Rechtsbereichen vorkommen. Die Abweichung ist vielmehr auf den Gegensatz zwischen individueller Freiheit und genereller Bindung zurückzuführen. Das privatrechtliche Handeln erlaubt eine Beschränkung der eigenen und fremden Grundrechte – bis zu einer bestimmten Grenze – nach individuellem Ermessen. Hingegen richtet sich die Einschränkung der Grundrechte zugunsten der öffentlichen Gewalt nach allgemeinen, vom Willen des einzelnen unabhängigen Maßstäben, deren Beachtung zwingend ist. Die unterschiedliche Grundrechtswirkung und daher auch der Grundrechtsbeschränkung im privatrechtlichen und öffentlich - rechtlichen Bereich resultiert aus dem Gegensatz zwischen dem freien, elastischen Spielraum auf der einen Seite und der starren, gleichförmigen Abgrenzung auf der anderen Seite.[10])
Für die Transformation der Wertgehalte der Grundrechte bedeutet dies, dass im Falle einer Gleichgewichtung der Vertragsparteien, die Wertgehalte der Grundrechte zwar Bedeutung haben, aber im Sinne der Abschluss- und Gestaltungsfreiheit im Privatrecht bis zu den Grenzen der Privatautonomie eingeschränkt werden können. Diese Grenzen der Privatautonomie werden durch das zwingende Recht bestimmt. Hier ist insbesondere die Klausel von den “Guten - Sitten” zu erwähnen, die durch ihre umfangreiche Ausgestaltung in Rechtsprechung und Lehre als typisches privatrechtliches Instrumentarium zur Abgrenzung herangezogen werden kann. Der im öffentlichen Recht den Grundrechten zukommende starre und gleichförmige Wertgehalt wird durch eine elastische Beschränkbarkeit relativiert.
Entsteht aber durch eine Ungleichgewichtung der Vertragsparteien die Notwendigkeit, den schwächeren Vertragspartner vor der Übermacht des anderen Vertragspartners, die sich aus Umständen ergibt, die vom schwächeren Vertragspartner nicht beeinflusst werden können, zu schützen, ist also die Schutzfunktion der Grundrechte auf den Plan gerufen, wird die Beschränkbarkeit der grundrechtlichen Wertgehalte entsprechend dem vorhandenem Schutzgebot eingeschränkt. Diese Einschränkung kann je nach Umfang des Schutzgebotes so weit gehen, dass die Grundrechte zwischen den Vertragspartnern die gleiche Wirkung erlangen, wie zwischen staatlicher Gewalt und Bürger.
Der Umfang des Schutzgebotes ist im Einzelfall zu klären, indem man die Situation zwischen den Vertragspartnern mit der Situation zwischen Staat und Bürger im Anwendungsfall eines bestimmten Grundrechts vergleicht. Dabei ist besonders darauf acht zu geben, dass das herangezogene Grundrecht die gleichen Interessen zu schützen sucht, die im konkreten Problemfall im Privatrechtsverhältnis berührt sind. Die Erlaubtheit der Beschränkung eines Grundrechtsgehaltes ist proportional dem Umfang des Schutzgebots, das sich wiederum aus dem Umfang der Abhängigkeit des schwächeren Vertragspartners gegenüber dem stärkeren Vertragspartner ergibt. Der Schutzgrad des Schutzgebotes ist mit den Mitteln der Konfliktlösung bei der Güter- und Interessenabwägung zu ermitteln und bestimmt, wie weit der starre Wertgehalt eines Grundrechtes beschränkt werden darf.
Zusätzlich ist aber auch darauf acht zu geben, ob durch den Eingriff der Wesensgehalt des Grundrechts verletzt wird. Denn dieser Bereich darf im öffentlichen Recht durch Gesetzesvorbehalte auf gar keinen Fall angetastet werden, im privaten Bereich in den Grenzen der Privatautonomie aber nur dann, wenn das Verhältnis inter privatos eine Parität aufweist. Ist diese Parität nicht gegeben, und das Verhältnis inter privatos dem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Bürger und Staat vergleichbar, darf das grundrechtlich geschützte Interesse nur dann zurückgestellt werden, wenn nur der Randbereich des Grundrechtsgehaltes berührt ist. Dies ist auch dann möglich, wenn im öffentlichen Recht in die Richtung einer solchen Interessenszurückstellung kein Gesetzesvorbehalt weist, weil nicht die Instrumentarien des öffentlichen Rechts zur Anwendung kommen, sondern die Instrumentarien des Privatrechts, die bei fehlender oder abgeschwächter Interessenintensität, was bei einer lediglichen Berührung des grundrechtlichen Wertgehaltes am Rande – also nicht einer Verletzung des Kernbereiches des Grundrechtes – der Fall ist, die Ranghöhe eines Interesses mindern.
Somit hängt die Einwirkung der Wertgehalte der Grundrechte ins Privatrecht einerseits vom Machtverhältnis zwischen den privatrechtlichen Parteien ab und andererseits von der Eingriffsintensität in das Grundrecht unter Beachtung seines Wesensgehaltes und dessen Kernbereichs.