
K O N T A K T

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© Dr. Christoph Paul Stock
2) Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes
Wir wollen hier mit der Erörterung einiger Entscheidungen des OGH und einer Entscheidung des OPM beginnen. Es ist sehr bemerkenswert, dass besonders durch die Aufnahme der MRK in das österreichische Recht, die Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte für den OGH mehrmals recht bedeutend geworden ist, und er an diesen Bestimmungen manchmal sogar eine Kurskorrektur seiner Rechtsprechung durchgeführt hat.
Als erstes Beispiel soll eine Entscheidung besprochen werden, aus der hervorgeht, dass sogar zivilrechtliche Vorschriften, selbst zwar nicht ausdrücklich, aber doch schlüssig auf die Grundrechte verweisen können.[1]) In der hier zu besprechenden Entscheidung[2]) ging es um die Beurteilung des österreichischen “ordre public”. Es war zu entscheiden, ob ein Fluchthelfervertrag, der im konkreten Fall nach deutschem Recht zu beurteilen war, möglicherweise in Österreich keine Geltung habe, weil er dem österreichischen “ordre public” widerspreche. § 6 IPRG bestimmt nämlich, dass “fremdes Recht dann nicht zur Anwendung zu kommen hat, wenn dessen Bestimmungen zu einem Ergebnis führen würden, das mit den Grundwerten der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar ist”. Damit wird die Notwendigkeit offensichtlich, bei der Entscheidung auf grundrechtliche Bestimmungen zurückzugreifen. Denn die Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung können wohl am ehesten in den Grundrechten gefunden werden. Zusätzlich geht es hier um die Frage der Freiheit der Auswanderung, die ausdrücklich in Art 4 Abs 3 StGG 1867 und in Art 2 Abs 2 des 4. ZP zur MRK geregelt ist. Der OGH hat unter Bedachtnahme auf diese beiden Bestimmungen entschieden, daß es “nicht gegen den ‘ordre public’ verstoße, wenn Handlungen unternommen werden, die irgendeinem Menschen, dessen Zurückhaltung in einem bestimmten Staat der österreichischen Rechtsauffassung widerspricht, zur Ausreise aus diesem Staat verhelfen soll”.
Die nächsten beiden Entscheidungen, die ich erwähnen möchte, beziehen sich auf eine über lange Zeit strittige Rechtsfrage, nämlich darauf, ob ideelle oder immaterielle Schäden, also bloße Gefühlsschäden, im Falle einer Freiheitsberaubung zu ersetzen sind. Der OGH lehnte lange Zeit einen solchen Schadenersatz für Gefühlsschäden ab, gleich ob der Schaden durch staatliche Organe oder Private verursacht wurde. Er zog sich auf das Argument zurück, § 1329 ABGB enthalte den Anspruch auf den ideellen Schaden nicht ausdrücklich und es müsse “dem Gesetzgeber pro futuro überlassen bleiben, durch den Einbau ähnlicher Bestimmungen, wie sie bereits in Sondergesetzen Eingang gefunden haben, dem Richter die Handhabe zu geben, auch für immaterielle Schäden Ersatz in Geld zu gewähren”.[3])
In der hier angesprochenen Entscheidung[4]) bejahte der OGH die unmittelbare Anwendbarkeit der MRK. In diesem Fall war der Art 5 Abs 5 MRK ausschlaggebend, der vor allem das immaterielle Recht des Menschen auf Freiheit schützt. Der OGH hat eine direkte Brücke vom vorliegenden Sachverhalt auf diese Bestimmung geschlagen und die Haftung über § 1329 ABGB hinaus ausgedehnt. Diese Haftungsausdehnung wurde durch den OGH aber nicht aus § 1329 ABGB abgeleitet, sondern aus der Grundrechtsnorm selbst gewonnen. In diesem Fall hatte der OGH über einen Amtshaftungsanspruch zu entscheiden, was den Vorteil mit sich brachte, dass die Anwendung der staatsgerichteten Norm des Art 5 MRK keine weiteren Schwierigkeiten machte.
In einer weiteren Entscheidung[5]) dehnte er aber den Anspruch auf den Ersatz des ideellen Schadens auf die durch Private vorsätzlich vorgenommene Freiheitsberaubung aus. Der OGH argumentierte in der Weise: “dass Art 5 Abs 5 MRK insofern eine Abänderung des § 1329 ABGB gebracht habe, als im Falle ungerechtfertigter Haft ... immaterielle Schäden zu ersetzen seien. ... Eine unmittelbare Anwendung der aus der erwähnten Entscheidung (oben: OGH 18. 6. 1975 SZ 48/69) sich ergebenden Gedankengänge auf den vorliegenden Fall ist jedoch nicht möglich, weil ... diese Bestimmung nur eine Haftung des Rechtsträgers begründet. ... Indirekt hat jedoch der Beitritt Österreichs zur MRK inhaltlich zu einer Beeinflussung des österreichischen Schadenersatzrechtes beigetragen.” In den Schadenersatzbegriff sei durch die MRK der Ersatz ideellen Schadens “hineingetragen worden”. Weiters führte der OGH aus, daß es notwendig sei, um etwaigen Wertungswidersprüchen entgegenzuwirken, den Schadenersatzbegriff in Fällen, die den in der MRK genannten im wesentlichen gleichgelagert sind, wie dort auszulegen.
An diesem Beispiel wird erkenntlich, dass Grundrechte sehr wohl unter bestimmten Voraussetzungen das Privatrecht durchschlagend bestimmen können. Die Heranziehung des Art 5 Abs 5 MRK für das Privatrecht war hier unumgänglich, um nicht einen unbefriedigenden Wertungswiderspruch zu begehen.[6]) Es stellt sich nur die Frage, ob dieser Funktionswandel, wie er von Bydlinski[7]) genannt wird, nicht eigentlich einer unmittelbaren Anwendung einer Grundrechtsbestimmung gleichkommt. Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit der grundrechtlichen Drittwirkung beginnen hier in der praktischen Anwendung zu verschwimmen.
In einem weiteren Beispiel soll gezeigt werden, wie der Wertgehalt der Grundrechte den Anwendungsbereich einer Bestimmung konkretisieren kann.[8]) Im vorliegenden Fall kam es zu einer teleologischen Reduktion des § 36 Abs 2 PatG, der besagt: “Wird eine patentierte Erfindung im Inland nicht in angemessenem Umfang ausgeübt und hat der Patentinhaber nicht alles zu einer solchen Ausübung Erforderliche unternommen, so kann jedermann für seinen Betrieb eine Zwangslizenz an dem Patent verlangen, es sei denn, der Patentinhaber beweist, dass ihm die Patentausübung nicht zumutbar ist”. Nach Abs 3 kann eine Zwangslizenz jedenfalls dann erteilt werden, wenn sie im “öffentlichen Interesse” geboten ist. Nach dem Wortlaut im Abs 2 kommt es auf das Vorliegen von “öffentlichem Interesse” dagegen nicht an.
Der OPM hatte über die Rechtmäßigkeit einer Zwangslizenz zu entscheiden und war nun durch die legistische Unklarheit des § 36 PatG gezwungen, diese Bestimmung verfassungskonform auszulegen.
Zum Zwecke dieser Interpretation zog der OPM die Bestimmung des Art 1 Abs 1 des 1. ZP der MRK heran, die das Recht auf Achtung des Eigentums ausspricht. Der Bogen von der Zwangslizenz zum Eigentum wurde über die Beeinflussung auf die Benützung des Eigentums bzw. des Patentrechts gespannt. In der Folge stießen zwei unterschiedliche Begriffe aufeinander, nämlich der Begriff “Allgemeininteresse” und der Begriff “öffentliches Interesse”, der eine in der MRK verwendet, der andere im PatG. Unter Zuhilfenahme einer teleologischen verfassungskonformen Auslegung übernahm der OPM den Begriff “Allgemeininteresse” für die Bestimmung des § 36 PatG und wandelte damit den Begriff des “öffentlichen Interesses”, der weiter ist als der Begriff des “allgemeinen Interesses”, weil er auf alle Teilbereiche des wirtschaftlichen, sozialen oder rechtlichen Lebens wirke, für diese Bestimmung ab. Der Begriff des “Allgemeininteresses” ist hingegen enger zu verstehen und bei einer Wirkung nur in Teilbereichen des Lebens schon gegeben, etwa bei einzelnen Wirtschaftszweigen.
Nun möchte ich zwei Entscheidungen besprechen, in denen der § 16 ABGB vom OGH fruchtbar gemacht worden ist, und aus denen ersehen werden kann, wie besonders bei Persönlichkeitsrechten die Grund- und Freiheitsrechte entscheidende Bedeutung entfalten.
In der ersten Entscheidung[9]) ging es um die Unterlassung der Bekanntgabe von persönlichen Daten. Da zur damaligen Zeit noch kein Datenschutzgesetz in Kraft war, das eine unmittelbare Drittwirkung des Datenschutzes auf das Privatrecht festschrieb, sah sich der OGH gezwungen, auf andere Bestimmungen zurückzugreifen. Dies tat er durch die Heranziehung des Art 8 MRK über den Anspruch auf Privatsphäre, die Bestimmungen über den Schutz des Brief- und Fernmeldegeheimnisses, die Verschwiegenheitspflicht von Amtspersonen, Notaren, Rechtsanwälten und andere. Der OGH führte weiters aus, dass das Interesse des Verletzten abgewogen werden müsse gegen das Interesse des Verletzers und gegen das Interesse der Allgemeinheit. Durch das Gericht wurde im vorliegenden Fall festgestellt, dass die Bekanntgabe der Daten notwendig gewesen sei, um die Wahrheitsfindung zu ermöglichen.
In dieser Entscheidung hat der OGH die grundrechtlichen Wertungen des Art 8 MRK in das Persönlichkeitsrecht des § 16 ABGB einfließen lassen. Eine andere Bestimmung, die die Wertgehalte des Art 8 MRK im Privatrecht enthalten hätte, war zu der damaligen Zeit nicht vorhanden, weshalb der OGH den Inhalt des Persönlichkeitsrechts konkretisieren musste, dessen Auslegung er über grundrechtliche Bestimmungen ermöglichte. Hier wird erkennbar, dass Wertgehalte der Grund- und Freiheitsrechte Schutzbereiche bestimmen, die nicht nur im Verhältnis zwischen Staat und Bürger zu gewährleisten sind, sondern auch zwischen gleichgestellten Personen. Die Tatsache, daß einerseits später mit dem Datenschutzgesetz und dessen § 1 eine unmittelbare Drittwirkung in einem Teilbereich der Grundrechte anerkannt[10]) und andererseits über § 16 ABGB ein neues Persönlichkeitsrecht konkretisiert wurde, spricht sehr stark für die in dieser Arbeit vertretene Ansicht, dass bei der Lösung persönlichkeitsrechtlicher Probleme auf das “allgemeine Persönlichkeitsrecht” und die Drittwirkung der Grundrechte schwerlich verzichtet werden kann.
In einer zweiten sehr jungen Entscheidung[11]) hat der OGH das Recht auf Achtung des Privatbereiches und seiner Geheimsphäre ausgesprochen. Dieses Recht leitete er wiederum aus dem § 16 ABGB ab und zog zur Ausfüllung dieser Bestimmung, die er als Zentralnorm des österreichischen Rechts bezeichnete, grundrechtliche Normen wie § 1 DSG und Art 8 MRK heran.
Aus diesen hier angeführten Beispielen wird ersichtlich, daß der OGH in einigen wenigen Fällen bemüht ist, die Wertgehalte der Grundrechte nicht unbeachtet zu lassen, wenn das Privatrecht keine entsprechenden Lösungsmöglichkeiten bietet. Er hütet sich zwar davor, ausdrücklich eine Entscheidung für die “unmittelbare Drittwirkung” oder die “mittelbare Wirkung” der Grundrechte im Privatrecht zu treffen, zeigt aber indirekt durch seine Entscheidungsargumentation eine Richtung an, die es erlaubt zu sagen, dass eine Tendenz sicherlich in Richtung einer Beachtung der Wertgehalte der Grundrechte zu erkennen ist. Leider sind aber die Fälle, in denen der OGH die Grundrechte zur Lösung von Rechtsstreitigkeiten heranzieht, so selten, dass man von dieser Tendenz auf eine Anerkennung der Wertigkeit der Grundrechte für das Privatrecht nicht schließen kann.