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Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

 

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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

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PROLOG 2: DER VERLUST DES PARADIESES

 

Wir sind aus dem Paradies gefallen! Wie konnte das passieren?

 

Als Kind habe ich das Wasser geliebt. Es gab nichts Größeres als im Schwimmbad oder Hallenbad zu sein, in den Zeller See zu springen, an dem ich aufgewachsen bin, oder am Mittelmeer in den Wellen des Ozeans hin und her gewirbelt zu werden. Ich war ein guter Schwimmer und so war es nicht überraschend, dass ich das Schwimmen als Sport ergriff und Leistungsschwimmer wurde. Im Verein gab es Kameradschaft, Freundschaft und ein ungezwungenes Miteinander. Doch im Training und bei Wettkämpfen habe ich auch destruktives Konkurrenz- und erbittertes Erfolgsdenken, falschen Ehrgeiz und einen krankhaften Zwang zu gewinnen erlebt. All diese negativen Dinge schienen mich im Inneren kaum zu berühren. Sie waren da, hatten aber keine wirkliche Macht über mich. Mir ist dieser Umstand damals kaum aufgefallen. Es war einfach so. Das Schwimmen war für mich alles. Das Medium, seine Wellen und das Glück, sich in diesem Element zu bewegen, war das, was mir wirklich etwas bedeutete und für mich sinnstiftend war. Alles andere war nur beiläufig und ohne große Relevanz.

 

In meinem späteren Leben war das völlig anders. Jene negativen Dinge, die mich beim Schwimmen in jungen Jahren kaum berührten, wurden zu echten Herausforderungen, zu einem echten Kampf, zu Faktoren, die in meinem äußeren und inneren Leben große Zerstörung, Leid und Schmerz mit sich brachten. Was war geschehen?

 

Das Schwimmen wurde mir einfach geschenkt. Es fiel mir zu. Es passierte ohne Anstrengung, entfaltete sich spontan und ungezwungen. Es hatte einen Hauch des Paradieses an sich, ein unverdientes Glück, eine aus Gnade gespeiste Erfüllung.

 

Doch das, was uns einfach zufällt, uns unbewusst widerfährt, einfach passiert und dessen Wert und dessen Unbeschwertheit wir erst in dem Moment erkennen, in dem sie verloren gegangen sind, gibt uns eine Ahnung davon, was wir durch Wachstum und Reifung in vollem Bewusstsein erlangen können. Etwas kindlich naiv und weitgehend unbewusst zu erfahren, ist etwas ganz anderes als etwas, das man im Ringen mit der Welt und sich selbst erlangt und zuerst als Versuchen und Irren, dann als gelegentliches Gelingen und Schaffen und schließlich als Fähigkeit und Fertigkeit, die sich in ein tiefes Bewusstsein wandeln, in sich verwirklicht.

 

Wir fallen aus dem Paradies und essen von der Frucht der Erkenntnis, um bewusst zu erfahren, zu erleiden und zu erleben, was es heißt, ein Mensch zu sein. Was uns einfach geschenkt wird, hat nicht jenen Wert und Tiefgang wie dasjenige, was wir uns erarbeiten und durch Disziplin, Hartnäckigkeit und die Höhen und Tiefen eines gelebten Lebens erlangen.

 

Als Kinder sind wir neugierig, offen und verletzlich. Wir gehen naiv auf die Welt zu und die Welt verletzt und verwundet uns. Wir erfahren, dass die Welt ein gefährlicher und gemeiner Ort sein kann, und lernen im Zuge des Erwachsenwerdens, mit dieser Welt der Gegensätze zu leben und umzugehen. Wir fällen notgedrungen Urteile, aus denen Vorurteile werden, schützen uns vor Gefahren und Unsicherheiten, die uns zu harten Realistinnen und Realisten werden lassen und entwickeln klare Präferenzen, was wir als wünschenswert und nicht wünschenswert erachten. Es schwinden jene Neugierde und Offenheit, die in unseren Kindertagen das Leben so aufregend gemacht haben. Die kindliche Unbeschwertheit ist dahin. Wir sind durch die Ereignisse unseres Lebens geprägt. Unser Charakter hat sich gefestigt. Wir haben uns eine Persönlichkeit zugelegt und eine fixe Vorstellung von uns angenommen.

Unser Zugang zum Leben wurde dabei konditioniert und wir sind oft stumpf geworden für neue Erfahrungen. Wir haben nichts falsch gemacht. Das ist der Gang der Dinge.

 

Doch falsch wäre es, auf halben Weg stehen zu bleiben! Eine weitere Herausforderung wartet auf uns. Das, was wir einst aus Gnade erfahren haben und dessen wir uns kaum bewusst waren, will in unser Leben in voller Bewusstheit zurückkehren. Um dorthin zu gelangen, müssen wir die Gegensätze des Lebens in uns verbinden und sie in einem ersten Schritt einmal kennenlernen. Aggressive Selbstdurchsetzung und diplomatische Begegnung, Ansammeln von Dingen und das Loslassen von Besitzständen, intellektuelle Zergliederung und kontemplative Zusammenführung, Grenzziehung und Mitgefühl, Bedürfnisbefriedigung und Freiheit von Wünschen, Sicherheitsstreben und die Bereitschaft ins Ungewisse zu gehen, sind solche Gegensätze. Wenn wir beide Seiten einer Medaille ausreichend gut kennen, können wir zwischen den Gegensätzen in einem zweiten Schritt eine Brücke schlagen, so dass wir zwischen den Ufern hin- und hergehen können. Wir hören auf, die Welt nur dual zu sehen, die Dinge in Schwarz und Weiß einzuteilen. Es beginnt ein Integrationsprozess, bei dem aus einem Entweder-oder langsam ein Sowohl-als-auch entsteht. Wenn uns die Integration gelingt, führt sie zur Inklusion, welche die Dinge transzendiert und auf eine neue höhere Ebene hebt. Das verbindet uns mit höheren Mächten und die Gegensätze verbinden sich zu etwas, das mehr ist als die Summe ihrer Teile.

 

Ein Kind, das lernt, aufzustehen und zu gehen, erfährt immer wieder jene Pole, die das Gehen bestimmen. Es ist das Aufrichten in einer Bewegung nach oben und das sich wieder Fallenlassen in einer Bewegung nach unten. Das Gehen ist ein Wechselspiel dieser Kräfte. Das eine Bein trägt uns nach oben, während wir das Gleichgewicht leicht von der einen Seite auf die andere Seite verlagern und uns in die Abwärtsbewegung des anderen Beines fallen lassen. Dieser Prozess läuft nun abwechselnd in einer Art Pendelbewegung ab. Dieses Bewegungsmuster ist nicht einfach eine Kombination aus dem Aufrichten und Fallenlassen. Es ist eine kreative Neuschöpfung eines sich findenden Gleichgewichts zwischen vertikalen und horizontalen Pendelbewegungen. Besonders ersichtlich wird dieser Balanceakt, wenn jemand in schwierigem Gelände im Gebirge unterwegs ist oder sich über eine Slackline bewegt. Ein Geniestreich der Evolution, der unsere Arme und Hände von der Aufgabe der Fortbewegung befreit und ihnen erlaubt, parallel dazu andere Dinge zu tun. Das verändert nicht nur unsere Handlungsmöglichkeiten, sondern auch unsere gesamte Sicht auf die Welt.

 

Für ein Kind ist es eine große Anstrengung, den integrativen Prozess des Gehens zu erlernen, der für herangewachsene Menschen ein inkludierter und automatisierter Prozess ist, der mit Leichtigkeit und ohne bewusstes Denken abläuft. So ist es auch eine harte Arbeit, den Inklusionsprozess in jenen Bereichen unseres Lebens voranzutreiben, in denen die Gegensätze auf ihr Zusammenspiel noch warten. Hier werden wir aufgefordert, mit Willenskraft unseren Schattenseiten zu begegnen, uns von lebensverneinenden und destruktiven Kräften nicht versuchen zu lassen, das von anderen verursachte Leiden und unser eigenes falsches Handeln oder Unterlassen zu vergeben, unsere Trägheit zu überwinden und tapfer voranzuschreiten in einer Dankbarkeit für das, was uns das Leben gegeben hat. Die Aufgaben sind gewaltig. Immer wieder werden wir versucht sein, eine Abkürzung, den schnellen und einfachen Weg zu wählen. Doch wir brauchen den Mut der kleinen Kinder, die unsere Hand wegschieben, wenn sie selbst aufstehen und gehen wollen. Es gibt keine Abkürzung. Wir müssen aus eigener Kraft und eigenverantwortlicher Bemühung auf die Beine kommen, wie viele Versuche wir auch benötigen. Es ist unsere Bürde, es ist aber auch unsere Würde. Dafür wurden wir als Menschen geboren.

 

Doch wir sind nicht allein! Würde ein Kind gehen lernen, wenn es nicht die erwachsenen Personen und andere Kinder sehen würde, die auf zwei Beinen unterwegs sind? Würden wir uns in der Schule, bei der Ausbildung, in der Erziehung, im Beruf, beim Sport etc. mühen, wenn wir nicht sehen würden, wie es anderen gelingt, in all den Lebensbereichen erfolgreich und lebendig zu sein. Was wären wir ohne unsere Eltern, Großeltern, Kinder, Enkelkinder, Partnerinnen und Partner, Verwandten, Freundinnen und Freunde, Lehrkräfte, Vorbilder, Idole etc., die uns von Tag zu Tag herausfordern und auffordern uns zu entwickeln, zu wachsen und immer mehr wir selbst zu werden?

 

Das Leben ist uns Vorbild und zeigt auf, was möglich ist. Es inspiriert uns zu dem, was noch nicht in der Welt ist aber vielleicht gerade durch uns geboren werden könnte. Jeder Schritt kann eine Lehrmeisterin bzw. ein Lehrmeister sein, jeder Erfolg eine Motivation die nächsten Herausforderungen anzugehen, jedes Scheitern eine Chance, es anders und besser zu machen. Die Frage bleibt nur, ob wir diese Aufforderungen annehmen und für uns und andere nutzen können.


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"Gib niemals auf, egal was passiert.

Gib niemals auf, entwickle Dein Herz.

Zu viele Dinge in Deinem Leben entwickeln

den Verstand, anstelle des Herzens.

Habe Mitgefühl, nicht nur mit Deinen

Freunden, sondern mit jedem Wesen.

Habe Mitgefühl und arbeite für den Frieden.

Und ich sage nochmals, gib niemals auf.

Egal, was passiert, gib nicht auf.“

 

Der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso



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