
K O N T A K T
Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
Schuld, Sühne und Heiligkeit
Wir sind in der westlichen Gesellschaft geprägt von einer alten kirchlichen Lehre, die uns vermittelt, dass wir Sünderinnen und Sünder sind und diese Sünden von unseren Eltern und deren Eltern geerbt haben. Dieses Erbe geht zurück auf die ersten Menschen, nämlich Adam und Eva, die von der verbotenen Frucht gegessen haben und dadurch aus dem Paradies gefallen sind. Diese Sündhaftigkeit haftet uns an und wir brauchen göttliche Erlösung, um von diesen Sünden frei werden zu können. Es gibt einen Katalog an Kardinalsünden und Tugenden, die in diesem Zusammenhang für die Kirche richtungsweisend sind.
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass es in der Welt Zorn, Stolz, Lüge, Neid, Habsucht, Furcht, Unmäßigkeit, Schamlosigkeit und Faulheit gibt. Man muss nicht lange suchen, um all diesen Dingen zu begegnen. Wir erfahren sie in unserem täglichen Leben ständig in unterschiedlichem Ausmaß und Gewand.
Genauso gibt es keinen Zweifel daran, dass es in der Welt heitere Gelassenheit, Demut, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, Ausgeglichenheit, Objektivität, Mut, Freude, Unschuld und Tatkraft gibt. Auch ihnen begegnen wir in unserer Alltagswelt.
Daraus wird leicht ersichtlich, dass wir in einer Welt von Licht und Schatten leben. Manche nehmen es hin, dass wir eben fähig zu guten und bösen Taten sind. Sie kümmern sich nicht weiter darum und versuchen sich damit abzufinden. Andere entwickeln den Wunsch, die sogenannten Tugenden zu stärken und das Sündhafte zu schwächen oder gar auszumerzen. Bei diesem Bemühen sind Menschen manchmal erfolgreich oft aber auch nicht. Dann hilft nach kirchlichem Verständnis nur Beichte, Buße und Umkehr.
Aus meiner Sicht stellen wir die Sünden zu sehr in das Zentrum unseres spirituellen Bemühens. Sind wir sehr stark auf unsere sogenannten Sünden fokussiert, fühlen wir uns rasch schlecht und minderwertig. Wir haben ein Schuldgefühl und machen uns nicht selten tiefe Vorwürfe wegen unserer schlechten Taten. Dies kann so weit gehen, dass Menschen es nicht mehr ertragen, sich schuldig zu fühlen und aus diesem Schuldgefühl ausbrechen. Dann geben sie plötzlich vor, schon heil und ganz zu sein, keine Sünden zu haben oder zu begehen. Aus dem Schuldgefühl wird eine Lüge und aus den Lügen eine Scheinheiligkeit. Das ist kein erstrebenswerter Zustand. Denn wer seine Schwächen und Unzulänglichkeiten vor anderen verbirgt, verbirgt sie schließlich auch vor sich selbst. Doch was wir vor uns selbst verbergen und verstecken und ins Unbewusste verdrängen hat uns bald weit schlimmer im Griff als die Schuld, die wir zuvor empfunden haben.
Statt sich selbst zu kasteien und in einen selbstgeschaffenen Schuldturm einzusperren oder noch schlimmer sich selbst zu belügen und zu betrügen und sich in eine Scheinwelt einzumauern, halte ich es für sinnvoller, dass wir unsere Schwächen und Unzulänglichkeiten nicht als eine Ursache, sondern als ein Symptom betrachten. Jede Ärztin und jeder Arzt weiß, dass eine Symptombekämpfung kaum dauerhafte Erfolge bringt, weil die Krankheit im Hintergrund bestehen bleibt und früher oder später die Symptome wieder zum Vorschein kommen werden. Wenn wir unsere Schwächen und Unzulänglichkeiten nicht als eine erbliche Schuldhaftigkeit begreifen, sondern als Symptome einer tieferliegenden Herausforderung, die uns das Leben stellt, können wir mit uns selbst nachsichtiger und verständnisvoller sein, ohne die Problemlage aus dem Blick zu verlieren oder ins Unbewusste verdrängen zu müssen.
Aus der Pädagogik wissen wir, dass der die Fehler strafende Rotstift Kinder weniger dazu ermutigt, aus ihren Fehlern zu lernen, sondern sie eher dazu bringt, die Fehler zu verdrängen und die Überprüfungen ihres Wissens tendenziell zu fürchten und abzulehnen. Der strafende Blick bringt meist kein positives Wachstum hervor. Es ist eher die liebevolle und geduldige Strenge, die zum Erfolg führt. Ich bin der Meinung, dass wir mit uns selbst bei all unseren Schwächen und Unzulänglichkeiten zwar streng aber liebevoll und verständnisvoll sein müssen. Nur so können wir den starren Blick von der Boshaftigkeit in uns und anderen abwenden und uns mitfühlend fragen, warum es überhaupt zu diesem Verhalten kommt. Die östliche Weisheit gibt hier einen ausgesprochen wichtigen Hinweis. Wir handeln in den meisten Fällen nicht einfach deshalb lebensverneinend und lebenszerstörend, weil wir das Leben ablehnen und zerstören wollen, sondern weil wir das Wesen des Lebens nicht ausreichend gut und tiefgründig verstehen. Wir befinden uns in einer Illusion im Zusammenhang mit dem, was das Leben ist und wie es funktioniert. Es mangelt uns also an einem ausreichenden Bewusstsein über das Leben. Ein solches Bewusstsein können wir aber nur dadurch erlangen, dass wir das Leben wirklich leben. Dabei werden wir Fehler machen, auf unsere Unzulänglichkeiten stoßen und unsere Schwächen in Erfahrung bringen. Ja, wir werden auch die schmerzhafte Erfahrung machen, dass nicht nur die anderen Böses tun, sondern wir auch selbst zu sehr bösen Taten fähig sind.
Wir können ein höheres Bewusstsein über das Leben nur erlangen, wenn wir uns die Hände schmutzig machen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass wir den Schmutz erkennen, den wir an unseren Händen haben und ihn bewusst wahrnehmen.
Ich möchte dazu einen großen Meister des Ostens zu Wort kommen lassen, der anhand des Zorns versucht, zu beschreiben, wie wir einen höheren Bewusstseinszustand erlangen und dadurch den Zorn überwinden können. Jiddu Krishnamurti führt aus: Ein Mensch, der sagt: „Ich muss mich von Zorn befreien“[i], ist nicht frei. Doch wenn einer sagt: „Ich muss das Faktum des Zorns, wie es im Augenblick wirklich ist, betrachten und die ganze Struktur des Zorns kennen lernen“[ii], indem er also selbst unmittelbar beobachtet, findet er Freiheit durch diese Beobachtung. Ein Geist, der das Wesen, die Struktur des Zorns versteht, der den Zorn anschaut und seine Wahrheit schlagartig wahrnimmt, ein solcher Geist ist frei von Zorn. Für Krishnamurti ist unmittelbare Wahrnehmung Freiheit.
Lassen wir hier noch einen anderen Meister des Ostens zu Wort kommen. Osho weist auf den Unterschied des westlichen und es östlichen Zugangs mit Blick auf den Umgang mit Ärger z.B. darauf hin, dass der Westen das Problem durch Introspektion also ein Nachdenken über sich selbst zu lösen sucht, der Osten hingegen das Problem nicht mit Denken, sondern mit der Wahrnehmung von sich selbst angeht. Osho sagt sinngemäß, dass wir im Westen dazu tendieren, über den Ärger nachzudenken. Wir fragen uns, wie er entstanden ist, urteilen darüber, ob er gut oder schlecht ist, rationalisieren, dass wir deshalb ärgerlich sind, weil die Situation sich in einer bestimmten Art und Weise ergeben hat. Der Fokus ist dabei immer auf den Ärger gerichtet, er richtet sich aber nicht auf unser Selbst. Wir sind auf den Ärger fokussiert, überlegen uns, wie wir ihn vermeiden können, wie wir ihn loswerden können, wie wir es schaffen können, nicht wieder ärgerlich zu sein. Wir beurteilen den Ärger als böse, weil er destruktiv ist. Wir versprechen uns selbst, dass wir den Fehler nie wieder machen werden. Wir versuchen den Ärger durch unseren Willen zu kontrollieren. Im Osten versucht man sich des Ärgers einfach bewusst zu sein. Man ist aufmerksam, analysiert nicht, sondern schaut auf den Ärger mit ausgesprochener Achtsamkeit. Man verurteilt nicht, weil man durch das Urteil in der Vergangenheit gefangen ist, man verspricht sich nichts, weil man durch das Versprechen in die Zukunft abschweift, man bleibt durch die Achtsamkeit in diesem unmittelbaren Moment. Man schaut auf den Ärger, man blickt ihm unmittelbar ins Gesicht und wenn uns das gelingt, verschwindet der Ärger, ohne dass wir unseren Willen eingesetzt haben, ohne dass wir irgendwelche Entscheidungen für die Zukunft getroffen haben und ohne dass wir uns mit der Ursache des Ärgers lange befassen. Wir haben ein Bewusstsein erlangt.[iii]
Ein solches Vorgehen geht an die Wurzel des Problems. Wir schaffen keinen Schuldturm, weil wir nicht urteilen. Es kommt aber auch zu keiner Verdrängung, weil wir mit hoher Achtsamkeit bewusst hinsehen. Hinsichtlich der Achtsamkeit müssen wir mit uns streng sein, doch wir können mit uns auch liebevoll sein, indem wir uns nicht verurteilen und uns nicht Versprechungen für die Zukunft abringen, die wir wahrscheinlich nicht halten können. Schließlich müssen wir mit uns auch geduldig sein, weil eine einmalige achtsame und bewusste Beobachtung nicht reichen wird, um das Problem dauerhaft in unserem Leben zu verändern. Wir werden diese Achtsamkeit wieder und wieder üben müssen. So kann etwas ganz und heil werden, das nicht mit endlosen Schuldgefühlen, Sühneversprechungen oder Verdrängungen verbunden ist. Auf diese Weise können wir uns unserem Schatten bewusst stellen und einen Integrationsprozess starten, im Zuge dessen von uns selbst abgespaltene Anteile eingegliedert werden. Denn das, was uns noch nicht ausreichend bewusst ist, fällt in die Tiefen des Unbewussten und beeinflusst unser Tun und Unterlassen subtil und unbemerkt bis ihm ausreichende Achtsamkeit entgegengebracht wird.