
K O N T A K T
Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
KAPITEL 6: DER SCHATTEN
Wenn uns die Sonne anstrahlt, wirft unser Körper einen Schatten. Diesen Schatten können wir nicht abstreifen, weggeben oder loswerden. Er folgt uns Schritt für Schritt und bewegt sich eins zu eins mit uns mit. Er gehört zu uns. Er hat mit uns zu tun. Wir sind selbst dieser Schatten. Wenn wir uns vor der Sonne verbergen, verschwindet der Schatten. Es braucht das Licht, damit er sichtbar wird. Doch potenziell ist er immer da.
Der Schatten wird sichtbar, wenn wir mit höheren Mächten in Verbindung treten. Höhere Mächte machen uns darauf aufmerksam, dass es diesen Schatten gibt. Daher ist die einzige Möglichkeit, seinem Schatten aus dem Weg zu gehen, die Verbindung mit den höheren Mächten abzubrechen und sich vor ihnen zu verbergen. Das ist es, was wir sehr oft tun. Wir fürchten es, unserem Schatten zu begegnen. Er weist uns darauf hin, dass wir Teil einer größeren Realität sind, obwohl wir eigentlich aus uns selbst heraus und für uns selbst allein leben und existieren möchten. Der Schatten stellt unser Ego in Frage und ruft uns in Erinnerung, dass es mehr als unsere persönlichen Lebenspläne gibt und unsere Hoffnungen und Wünsche nicht unbedingt mit unserer Bestimmung in dieser Welt etwas zu tun haben müssen.
Wenn wir nur unseren eigenen Impulsen, Vorstellungen und Plänen folgen, bleibt ein Teil von uns unerfüllt und ungelebt. Es ist jener Teil, der mit dem Kosmos verbunden ist und sich mit dem Großen und Ganzen mitbewegt. Es ist jener Teil, der uns nicht zu einer Person macht, sondern zu einem Individuum. Es ist jener Teil, der nicht nur weltlich, sondern kosmisch ist.
Das Leben hat auf jeder Ebene die Tendenz, eine Ganzheit zu schaffen. Wenn wir in diese Welt geboren werden, wirft uns das Leben in eine bestehende Realität, in die wir uns eingliedern und an die wir uns anpassen müssen. Wir können es nicht verändern, wenn unsere Eltern lieblos, kalt und abweisend sind, obwohl sich andere Eltern liebevoll und hingebend um ihre Kinder kümmern. Wir können es nicht ändern, wenn wir als Kinder Gewalt und Missbrauch erfahren und andere Unterstützung und Förderung. Wir können nichts dafür, wenn wir in einer Gesellschaft mit Wohlstand und vielen Entfaltungsmöglichkeiten geboren werden und andere diese Chancen nicht haben, weil ihr Land in Armut und Wirtschaftskrisen versinkt. Wir können nichts dafür, wenn wir in einer friedlichen Welt leben und andere Jahre und Jahrzehnte an Krieg und Elend erleiden. Diese Geworfenheit prägt uns und zwingt uns, bestimmte Anlagen und Kräfte in uns zu entfalten und andere zu verdrängen und zu ignorieren. Wer schon in jungen Jahren mit Alkoholkrankheit der Eltern, psychischen Problemen der Mutter oder des Vaters konfrontiert wird, hat oft nicht die Möglichkeit, spielerisch ins Leben hineinzuwachsen. Früh muss Verantwortung übernommen und eine Last getragen werden, die eigentliche für Kinder und junge Menschen zu schwer sind. Ähnliches gilt bei Flucht- und Migrationserfahrungen. Ein Elternhaus, in dem Bildung und Wissenserwerb eine große Rolle spielen, werden uns anders prägen, wie ein Elternhaus, in dem das Handwerk besondere Bedeutung hat. Ein Elternhaus, das auf soziale und caritative Werte ein besonderes Augenmerk legt, verlangt etwas anderes als ein Elternhaus, in dem harte Arbeit der bestimmende Faktor ist. Wir sind gezwungen, bestimmte Lebensaspekte zu entwickeln und auf andere zu verzichten. Mit der Zeit formt uns die Umgebung und lässt in uns eine bestimmte Persönlichkeit entstehen. Wir werden Teil einer Familie, werden Teil einer Gesellschaft, Teil eines Staates, Teil einer Religion und Teil einer Kultur. Wir spielen in all diesen Strukturen eine bestimmte Rolle, übernehmen einen bestimmten Part, der diese Systeme ganz sein lässt. Die Persönlichkeit gibt uns den Platz in der Welt, verleiht uns einen bestimmten Status und ein bestimmtes Ansehen. Wir sind in der Welt jemand geworden. Wir werden auf Grund dieser Persönlichkeit beurteilt und eingeordnet. In vielen Fällen ist es schwer, an dieser Zu- und Einordnung etwas zu verändern.
Doch Menschen spüren den Verlust, den sie durch diese Geworfenheit erlitten haben. Sie spüren, dass es in ihnen Anlagen und Potentiale gibt, die sie in diese Welt mitgebracht haben und die auch gelebt und entfaltet werden wollen. Wir leben heute in einer Welt, die viel mehr Möglichkeiten bietet als vergangene Epochen. Das fordert uns heraus, über festgelegte Muster hinauszugehen und Anteile von uns zu entwickeln, die wir beim Aufwachsen und Erwachsenwerden zurücklassen mussten. Neurotische und manchmal auch psychotische Muster machen uns aufmerksam auf Entwicklungspotenziale, die auf ihre Entfaltung warten oder Fehlentwicklungen, die einer Korrektur bedürfen. Die Psychologie leistet einen enormen Beitrag dabei, Menschen zu helfen und sie dabei zu unterstützen, Persönlichkeitsanteile, die nicht oder nicht ausreichend gelebt werden können, freizulegen und ihnen zu einer Entfaltung zu verhelfen. Dafür muss verstanden und erkannt werden, was nicht leben konnte und verdrängt werden musste und jetzt endlich ins Leben gebracht werden kann, weil es möglich wird, den bisherigen Überlebensmechanismus zu adaptieren und anzupassen. Die Arbeit an Inhalten des persönlich Unbewussten, an eingefahrenen Verhaltensmustern, an persönlichen Motiven, Wünschen und Hoffnungen ist hier eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg einer persönlichen Transformation. Diesen Entwicklungen liegt wieder die Kraft des Lebens zugrunde, die eine Gesamtheit schaffen möchte. In diesem Fall will das Leben Persönlichkeitsanteile integrieren und eine inkludierte Persönlichkeit hervorbringen.
Über diesen Bereich hinaus, der sich mit jenen Dingen befasst, die nicht gelebt werden konnten und nun ins Leben gebracht werden sollen, gibt es einen weiteren Bereich, der sich mit Dingen beschäftigt, die nicht in der Vergangenheit zurückgelassen werden mussten, sondern mit Dingen, die mit Blick in die Zukunft von besonderer Bedeutung sind. Diesmal geht es nicht um Persönlichkeitsentwicklung. Diesmal geht es darum, ein integrierter Teil des Universums zu sein. Es geht um eine kosmische Einbindung. Es geht um unseren Beitrag für das größere Ganze. Es geht weniger um eine psychische Dimension, die wir mit unserer Seele berühren, sondern es geht um eine geistige Dimension, die wir mit unserem Bewusstsein erfassen. In diesem Fall will das Leben keine integrierte Persönlichkeit erschaffen, sondern ein Individuum, etwas, das unteilbar mit dem Ganzen verbunden ist. Das ist kein psychologischer Prozess, sondern eine spirituelle Aufgabe.
Das Bild vom Schatten wurde in der Psychologie von C.G. Jung entwickelt. Jung beschreibt komplementäre Strukturen in der Psyche des Menschen. Eines dieser Strukturpaare sind die PERSONA und der SCHATTEN. Die Persona ist jener Teil der Persönlichkeit, der nach außen in die Gesellschaft und Welt hinein gezeigt wird. Die Persona war im alten Rom die Maske, die sich schauspielende Personen vor das Gesicht gehalten haben. Die Persona ist ein psychologisches und soziales Konstrukt, das uns dabei hilft, in der Gesellschaft und im sozialen Kontext akzeptiert und eingegliedert zu sein, damit wir unser Bedürfnis nach Beziehung und Zugehörigkeit befriedigen können. Die Persona ist verträglich, angepasst, akzeptabel und gesellschaftlich genormt. Der Schatten ist jener Teil, der nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit strebt. Hier findet sich alles, was der gesellschaftlichen und aktuell gültigen sozialen Norm nicht zu entsprechen vermag und als verrucht, unrein, beschmutz, unerwünscht oder sogar böse gilt. Dieser Anteil wird verborgen und versteckt und sinkt auf Grund einer massiven Verdrängung in nicht wenigen Fällen so tief in das Unbewusste, dass sich Menschen gar nicht mehr bewusst sind, dass sie einen Schatten haben. Wird der Mensch mit seinem Schatten konfrontiert, stellt sich oft ein massives Schuldgefühl oder ein tiefes Schamgefühl ein. Daher lehnen wir den Schatten im Normalfall rundweg ab.[i]
In der Psychologie hilft das Herausarbeiten des Schattens dabei, verdrängte Persönlichkeitsanteile zu aktivieren und in die eigene Persönlichkeit zu integrieren.
Therapeutisch versucht man, in jene Situationen des eigenen Lebens zurückzugehen, in denen man sich verletzt, beschämt, schuldig und minderwertig gefühlt hat. Es sind jene Situationen des Lebens, die man verdrängt und vor den anderen verbirgt. Man wünscht sich, dass diese Teile von uns nicht existieren würden und gleichzeitig erkennt man, dass man diese Teile nicht loswerden kann. Die Verbannung und Verdrängung dieser Anteile verursachen in uns ein tiefsitzendes Minderwertigkeitsgefühl und bewirken, dass wir unser Leben nicht voll entfalten können. Wir bleiben limitiert. Ein Schattenanteil unserer Persönlichkeit, der unbewusst und verdrängt bleibt, hat die Tendenz, sich Luft und Raum zu verschaffen. Dann bricht sich dieser verdrängte Persönlichkeitsanteil Bahn und kann uns in ausgesprochen unangenehme Situationen bringen oder in uns wirklich böse und zerstörerische Aspekte aktivieren. Der Schatten übernimmt dann die Steuerung unseres Seelenlebens und führt in nicht wenigen Fällen zu bösen oder nicht akzeptierbaren Handlungen. Auch diese Problematik spricht dafür, dass man sich dem eigenen Schatten stellen sollte.
Doch was am meisten für eine Auseinandersetzung mit dem Schatten spricht, ist das Potenzial, das in ihm wohnt. Der Schatten ist ein Vermögen, ein zwar noch inferiorer Anteil unseres Seins aber jener Anteil, der die größte Entwicklungsmöglichkeit in uns trägt. Die Bereiche unserer größten Unsicherheiten können zu unseren größten Chancen und Möglichkeiten werden. Wenn es uns gelingt, mit unseren Schattenanteilen in Kontakt zu kommen, mit ihnen eine Beziehung aufzubauen, ihnen in unserem Leben einen Platz einzuräumen und sie zu Wort kommen zu lassen, dann kann ein Integrationsprozess in Gang gesetzt werden, durch den man über frühere innere Konflikte hinauswächst und in unsere Persönlichkeit vormals inakzeptable Teile des Selbst inkludiert werden.
Neben diesem auf die Persönlichkeit bezogenen Schatten gibt es aber auch einen Schatten, der mit kollektiven Strukturen verbunden ist. Aus meiner Sicht gibt es neben dem komplementären Paar der PERSONA und des SCHATTENS ein weiteres komplementäres Paar zwischen dem EGO und dem SCHATTEN. Meiner Meinung nach ist das EGO jener innere Anteil, der sich zu einer eigenständigen, unabhängigen und autopoietischen Struktur entwickelt hat. Autopoiese meint dabei den Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung. Der Mensch steuert sich also selbst und ist in einem gewissen Sinn gegenüber der Umwelt abgeschlossen. Der Mensch steht zwar in einem Austausch mit der Umwelt, um überleben zu können, hat aber gleichzeitig die Möglichkeit, sich gegen Eingriffe von außen abzuschotten.
Wenn wir unsere Persönlichkeit entwickeln und in unserem Umfeld unerwünschte Persönlichkeitsanteile integrieren wollen, dann müssen wir gegenüber unserer Umwelt ein klares NEIN zum Ausdruck bringen, um zu uns selbst und unserer Entwicklung wirklich JA sagen zu können. Wir müssen die PERSONA ein Stück weit zurückweisen, um Platz zu machen für die Anteile des SCHATTENS. Wer in einer Gesellschaft, die Homosexualität ablehnt und verurteilt seine Homosexualität natürlich und nicht versteckt leben will, muss gegenüber der Gesellschaft ein klares NEIN zu deren Haltung und zum eigenen Bedürfnis und der eigenen Persönlichkeit ein tiefgreifendes JA sagen können, um die eigene geschlechtliche Orientierung authentisch leben zu können. Das kleine brave Mädchen und der kleine angepasste Junge müssen das böse Mädchen und den verruchten Jungen in sich aktivieren, um verdrängte und versteckte Persönlichkeitsanteile gegen die Norm aktivieren und integrieren zu können. Nicht jeder Integrationsprozess ist derartig herausfordernd wie jener im gerade angesprochenen Beispiel, aber in der Tendenz steht jeder Integrationsprozess, der Teile des eigenen Schattens betrifft, in diesem Spannungsverhältnis.
Im Fall der Komplementarität von EGO und SCHATTEN ist die Sache anders gelagert. Ich bin der Ansicht, dass das EGO jener Persönlichkeitsanteil in uns ist, den wir unserer eigenen Seele zeigen, um darzulegen und nachzuweisen, dass wir uns um unsere seelische Entwicklung angenommen haben und den Anforderungen des Psychischen nachgekommen sind. Wir bringen zum Ausdruck, dass wir uns um unsere persönlichen Bedürfnisse kümmern, sie ergreifen, durchsetzen und in gesellschaftlichen Kontext aussteuern, um eine authentische und wahrhaftige Persönlichkeit zu sein. Eine solche Persönlichkeit hat ein sehr kristallines EGO. Nicht alle Menschen entwickeln ein starkes und schlagkräftiges EGO. Es gehört absolut zu unseren Lebensaufgaben, ein starkes EGO zu entfalten. So wie wir uns an die Gesellschaft anpassen müssen, ist es auch notwendig, unsere Persönlichkeit zu entwickeln und zur Entfaltung zu bringen. Doch dieses EGO hat auch einen SCHATTEN. Dieses EGO verfolgt vehement die eigenen Bedürfnisse und Anliegen. Es will die eigenen Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen durchsetzen und erreichen. Es schotet sich gegenüber der Welt ab, will die Welt beherrschen und primär aus sich selbst heraus sein. Daher kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem es ein NEIN in Richtung der eigenen Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen braucht und ein JA zu jenem Anteil in uns notwendig wird, der grenzenlos, zeitlos und frei sein will. Dann wenden die starke selbstbewusste Frau und der kraftvolle selbstsichere Mann sich jenem Teil in ihnen selbst zu, der wie ein neugeborenes Kind ist. Ein solches Kind ist unschuldig, unwissend, ohne Vorurteil, neugierig, offen und verletzlich. Doch wir schämen uns für dieses Kind in uns, weil in der Welt der Erwachsenen, Wissen, Verstehen, Objektivität, Bevormundung und Unverletzlichkeit zählen. Wir wollen nicht naiv und kindisch sein. Doch bei diesem Schatten geht es nicht um Naivität und kindisches Verhalten, sondern um eine bewusst gewählte Haltung, die ein Neugeborenes hat, das mit einer unbekannten Welt erst in Berührung kommen muss.
Beim Schatten, der in einem Spannungsverhältnis zu unserem Ego steht, geht es nicht nur darum, unsere psychische Situation, sondern unsere menschliche Situation anzuerkennen und anzunehmen. Der tatsächliche Grund dafür, dass wir uns beschämt und minderwertig fühlen, liegt nicht nur in unseren konkreten Lebensumständen, sondern in unserer grundlegenden Situation als Menschen. Mythologisch gesehen, sind wir aus einer Art Unsterblichkeit im Paradies gefallen und haben uns in einer Situation der Bedingtheit und Eingeschränktheit wiedergefunden. Wir leben in einer Welt, die stetig zerfällt und zeitlich immer begrenzt ist. Wir sind gebrechliche und nicht perfekte Wesen. Unsere Scham und unsere Minderwertigkeit entspringen gerade auch der Wahrnehmung dieser urmenschlichen Situation.
Wenn man mit diesem Schatten in Berührung kommt, geht es nicht mehr vorrangig darum, in die äußere Welt hinauszugehen, um dort persönliche Erfolge zu erreichen, sondern darum, sich selbst besser kennenzulernen und zu akzeptieren. Es ist nicht mehr so wichtig, was andere über einen denken mögen, sondern es geht um die Freiheit, sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Es ist nicht mehr so entscheidend, was man in der Welt erreicht, sondern was man in der Welt beitragen kann. Es geht nicht um die Bearbeitung von psychisch belastenden Dingen, sondern um den Aufbruch nach vorne, ohne sich von der Psyche binden und behindern zu lassen. Was zählt ist nicht das, was gestern schon war, sondern das, was sich ganz neu aus dem Lebenshintergrund heraus konstituiert. Es geht nicht um die Wiederkehr der Vergangenheit, sondern um das Erwachen einer unbekannten Zukunft. Man ist dann keine Künstlerin und kein Künstler, die mit Objekten arbeiten, um etwas zu erschaffen. Man ist dann eine Mystikerin und ein Mystiker, die sich selbst im Einklang mit dem Kosmos erschaffen.