
K O N T A K T
Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
VON DER EINHEIT ZUR UNTERSCHEIDBARKEIT
Die Beziehung von Subjekt und Objekt
Es ist ein faszinierender Gedanke, wie es sich anfühlen muss, noch als Embryo im Bauch der Mutter zu sein. Ihr Herzschlag ist nahe, alle Geräusche sind dumpf und fern, die Umgebung gibt nach und ist weich, es gibt keine Konturen, man sieht, wenn überhaupt, nur schemenhafte Schatten. Die Situation ähnelt vielleicht auch der Situation einer Apnoetaucherin bzw. eines Apnoetauchers, der tief im Meer weit entfernt von der Wasseroberfläche und dem Boden des Ozeans einfach verharrt und den Ozean auf sich einwirken lässt. Dort ist enorme Ruhe, eine fast unbegreifliche Stille und eine Weite, die ehrfurchtsgebietend und fast schon berauschend sein kann.
In einer solchen Umgebung und Situation sind unsere Sinne nicht in jener Art und Weise nötig und daher auch nicht tätig, wie dies in unserer Alltagsumgebung der Fall ist. Die Sinne sind eher noch betäubt und was auf uns eindringt ist der Eindruck einer gewaltigen Einheit aber weniger die Vielfalt einer quirligen Welt.
Wenn wir geboren werden, tauchen wir auf aus diesem Ozean der abgeschiedenen Einheit und die Gravitation macht uns bleischwer, das Licht schlägt uns entgegen, die einst dumpfen Geräusche sind nun schneidend laut, wir sind plötzlich umgeben von tausend Gerüchen, der Geschmack in unserem Mund verändert sich. Die Welt stürmt auf uns ein und unsere Sinne sind noch völlig überfordert damit, all diese Eindrücke aufnehmen, unterscheiden und verarbeiten zu können. Wir tauchen ein in ein für uns ungeordnetes und völlig unüberschaubares riesiges Chaos.
Die große Herausforderung für das Neugeborene ist es, die Dinge unterscheiden zu lernen. Bisher gab es eine Einheit mit der Mutter. Nun taucht die Wahrnehmung des Getrennt-Seins auf. Aus der Einheit wird eine Vielheit und es entsteht ein Subjekt, das sinnlich beobachtet und es tauchen Objekte auf, die sinnlich beobachtet werden.
Wenn ein Neugeborenes seine Sinne entwickeln will, muss es offen sein für die Eindrücke der Welt. Es braucht eine Kuriosität in alle Richtungen, eine Neugierde für das, was einen umgibt und einem begegnet, einen Entdeckergeist. Hohe Achtsamkeit ist gefragt, damit Unterschiede erfasst, die unterschiedlichen Nuancen der Wahrnehmung erlernt und eine integrierte sinnliche Wahrnehmung sich entwickeln kann.
Nicht unähnlich geht es dem spirituellen Kind in uns, das den Kosmos versucht wahrzunehmen. Es braucht auch die Neugierde, die Offenheit und den Entdeckergeist wie gerade beschrieben. Doch das Neugeborene muss in die Welt hinein geboren werden. Das spirituelle Kind muss im Gegensatz dazu aber in die Weiten des Kosmos zurück geboren werden. Das Neugeborene muss den Lärm der Welt einordnen und verarbeiten. Das spirituelle Kind muss den Lärm der Welt hinter sich lassen, um das leise Flüstern des Kosmos wahrnehmen zu können. Es sind besonders unsere Sinne, die uns vom Kosmos abschneiden und uns taub machen für die innere Realität unseres Seins. Wenn wir ständig die sinnliche Zerstreuung suchen, die Stille nicht ertragen und jeder Ruhe aus dem Weg gehen, bleiben wir in der Ansammlung unserer persönlichen Sinneseindrücke gefangen. Dann kann die Intuition nicht funktionieren, sie kann keine Verbindung zum Kosmos aufbauen und stabil halten.
Doch nicht nur unsere Sinne beeinträchtigen die optimale Funktionsweise der Intuition. Es sind auch unsere Gedanken und Gefühle, die eine Verbindung mit dem Kosmos stören. Gedanken und Gefühle führen uns weg aus dem aktuellen Augenblick. Sie beschäftigen uns mit Erfahrungen der Vergangenheit und den Fantasien und Überlegungen für die Zukunft. Doch der Kosmos ist weder in der Vergangenheit unseres Lebens anzutreffen noch können wir ihn in der Zukunft finden. Der Kosmos ist hier und jetzt und nur hier und jetzt. Der Lebenshintergrund ist kein Zeitverlauf und kein psychisches oder mentales Geschehen. Der Lebenshintergrund ist keine Ansammlung unserer Erfahrungen, Bewertungen, Überlegungen, Fantasien, Wünsche und Hoffnungen er ist auch nicht unser Bestreben, etwas zu verbessern, etwas anzupassen, etwas zu adaptieren oder etwas zu ändern. Der Lebenshintergrund hat seine eigene Bewegung, seinen eigenen Rhythmus, sein eigenes kosmisches Sein. Er ist der Ozean, in dem wir uns befinden. Dieser Ozean wird im aktuellen Moment, im gegenwärtigen Augenblick in der unmittelbaren Berührung mit der Welt spür- und erlebbar.
Es kann verwirrend sein, weil die Wahrnehmung des Kosmos auch in unserem Inneren geschieht und dort über Gedanken und Emotionen verarbeitet wird. Gleichzeitig können wir den Kosmos nur berühren, wenn wir die Sinne, die nach außen gerichtet sind, auch für die Wahrnehmung des Kosmos nutzen. Der zentrale Unterschied einer meditativen Wahrnehmung gegenüber einer Alltagswahrnehmung liegt darin, dass uns die Alltagswahrnehmung konditioniert und wir beginnen nur das sinnlich wahrzunehmen oder gedanklich und emotional als relevant zu erachten, was unserer Konditionierung entspricht. Wir blenden tendenziell all das aus, was für uns falsch, unwichtig, unerwünscht und unangenehm ist. Im Gegensatz dazu sind wir besonders auf das fokussiert, was wir für richtig, wichtig, erwünscht und angenehm halten. Damit schneiden wir uns vom Kosmos in seiner Gesamtheit ab und verlieren die Fähigkeit, seine innere Bewegung, die durch eine innere Bewegtheit in uns aber auch durch äußere Ereignisse vermittelt sein kann, zu erspüren. Es ist unsere Rationalität, die uns im Weg steht. Es ist unser Pragmatismus, der zwar weiß, wie man es richtig macht aber oft die Frage aus dem Blickfeld verliert, was das Richtige im Kontext des Großen und Ganzen ist. Intuition ist nicht rational, sondern irrational. Sie ist eine perzeptive Funktion, ein Gewahrsein dessen, was unmittelbar geschieht. Sie ist die Fähigkeit, die Bewegung des ganz Großen wahrzunehmen.
Es gibt eine Anekdote von Foster Wallace, die dieses Thema aus meiner Sicht beschreibt. Es schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: „Morgen ihr zwei, wie ist das Wasser?“ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu: „Was zum Teufel ist Wasser?“[i] Eine meditative Wahrnehmung befähigt uns dazu, den Kosmos, in dem wir uns bewegen, bewusst wahrzunehmen und darüber hinaus, seine Bewegungen zu erfassen, mit denen wir uns mitbewegen müssen, wenn wir im Einklang mit dem Kosmos unterwegs sein wollen. Wir tauchen in den Kosmos ein, wodurch Subjekt und Objekt gewissermaßen verschwinden. Wir lösen uns ein Stück weit in den Kosmos hinein auf.
Doch mit dem Gewahr-Werden des großen Ozeans ist es noch nicht getan. Das Neugeborene muss lernen, die vielen Eindrücke, die auf es einwirken, zu unterscheiden. Auch das spirituelle Kind muss lernen, zu unterscheiden. Durch eine weitgehende und tiefgreifende Offenheit gegenüber allem, was dem Kind begegnet, kann es herausfinden, durch welche Umstände es in welcher Form angesprochen ist. Die Frage ist, auf welche Umstände wir in welcher Form antworten müssen? Worin liegt unsere Verantwortung? Das bedeutet, die Fähigkeit zu entwickeln, auf das Universum sinnvoll zu reagieren, indem man die Lage unmittelbar sieht und versteht, wie sie ist und dementsprechend nach den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten antwortet. Wenn es uns gelingt, ganz bewusst zu antworten, haben wir die Freiheit, zu handeln, aber auch nicht zu handeln. Wenn wir für alles, was uns begegnet, Verantwortung übernehmen, wird mit dieser Verantwortung das Handeln zu einer Wahl, die wir bewusst treffen. Natürlich kann man nicht in alles in der Welt handelnd eingreifen, aber man kann auf alles in der Welt bewusst antworten. Diese Fähigkeit, im gegenwärtigen Moment bewusst eine Antwort zu geben, ist unbegrenzt.