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Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

 

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Gesamte Inhalte:

© Dr. Christoph Paul Stock

 

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VON DER ANFÄNGLICHEN ABHÄNGIGKEIT ZU IMMER MEHR SELBSTÄNDIGKEIT

Die Kreation wachsen und groß werden lassen

 

„Kinder sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst“.[i] Diese wunderbare Aussage von Khalil Gibran, einem libanesisch-amerikanischen Schriftsteller und Poeten, bringt klar zum Ausdruck, dass Kinder die größte kreative Schöpfung des Lebens in dieser Welt sind. Dies gilt natürlich nicht nur für Menschenkinder, sondern für alle Formen der Erneuerung. Ein Neugeborenes verändert die Welt, zuerst die Welt der Eltern, Geschwister, Großeltern und Verwandten und dann alles, was von ihm berührt wird. Kinder sind der kreative Schöpfungsakt schlechthin. Sie werden die Welt auf ihre besondere Weise gestalten und verändern. Sie sind der Ausdruck des Morgen und die sich langsam entfaltende Zukunft. Man kann sich ihnen nicht entziehen. Sie sind Aufgabe und Aufforderung zugleich. Aufgabe, weil wir ihnen helfen müssen, sich im Leben zurecht zu finden. Aufforderung, weil sie uns klarmachen, dass unsere Zeit in dieser Welt begrenzt ist und wir, je älter wir werden, dazu angehalten sind, an einer Zukunft mitzubauen, deren Realität wir in vielen Fällen gar nicht mehr erleben werden. In diesem Sinn müssen wir von einer Haltung der Unterstützung und Bevormundung der Kinder zu einer Haltung der Nicht-Bevormundung und des Vertrauens auf die schöpferische Kraft in ihnen finden. Ein Prozess, der gerade in der Pubertät eine riesige Herausforderung darstellt. Umgekehrt müssen die Kinder mehr und mehr Eigenverantwortung übernehmen, um reif und erwachsen zu werden. Das bedeutet einen ständigen Prozess der Entbindung, der mit dem Durchtrennen der Nabelschnur beginnt und sich über viele Jahre hinweg bis ins Erwachsenenalter hinein fortsetzt. Jung und Alt müssen sich begegnen und ergänzen im Wechselspielt der Generationen. Ein Prozess, den wir oftmals nicht richtig verstehen, weil wir die Jugend verherrlichen und die Bedeutung des Alters verkennen.

 

Nicht anders ist es mit dem spirituellen Kind. In ihm verwirklicht das Leben ebenfalls die Sehnsucht nach sich selbst. Es ist die Sehnsucht nach dem Schöpfungsakt, der Entfaltung eines kreativen Potenzials, das ins Leben will. Es ist die Willenskraft, die aus einem geistigen Substrat eine greifbare Wirklichkeit werden lässt. Sich mit Luftschlössern zu beschäftigen kann eine Zeit lang lustig und interessant sein. Man projiziert alle möglichen Fantasien in die Zukunft, malt sich eine Zukunft aus, wie sie einem gefällt. Doch die Zukunft als ein Land zu verstehen, dass niemanden gehört und das man nach eigenem Gutdünken gestalten kann, wie man will, ist lediglich eine Allmachtsfantasie. Aus meiner Sicht gehört die Zukunft dem noch ungeborenen und dem neu geborenen Leben, gleich ob es sich um eine reale Geburt oder eine Geburt aus dem Geistigen handelt. Das entspricht der Idee der Reinkarnation, die nichts anderes ist als ein Erneuerungsprozess des Lebens, der aus dem Weltganzen heraus gesteuert wird.

 

Man könnte fragen, wo da der freie menschliche Wille noch einen Platz hat, wenn ohnehin alles aus der großen Struktur hervorgeht und bestimmt wird. Die Astrologie hat über Jahrhunderte dem Menschen weisgemacht, dass die Sterne unser Schicksal bestimmen und aus ihnen der genaue Verlauf der Dinge abgeleitet werden kann. Ihrer Ansicht nach ist unser Schicksal vorherbestimmt. Doch irgendwie will dieser Versuch nicht recht gelingen. Mal liegen die Astrologinnen und Astrologen in ihren Prophezeiungen richtig, mal liegen sie falsch. Sie kommen kaum über die reine Wahrscheinlichkeit hinaus, die sich beim Würfelspiel oder beim Wurf der Münze auf Kopf und Zahl ergibt. Existiert also die große Steuerung nicht oder verwendet die Astrologie die falschen Instrumente und Mittel? Aus meiner Sicht verstehen wir das Wechselspiel zwischen dem Großen und Ganzen und unserem freien Willen nicht richtig. Das Große und Ganze kennt eine Determinierung, doch diese Bestimmtheit spielt sich auf einer Ebene der Möglichkeitsformen, der Archetypen, der Wahrscheinlichkeit von Tendenzen und abstrakten Muster ab. Diese Möglichkeitsform lässt sich nicht einfach eins zu eins in unsere Welt übertragen und umsetzen. Sie lässt sich nicht einfach so in realen Vorstellungen fassen. Der Umsetzungsakt selbst ist der schöpferische Prozess, der unsere Realität Schritt für Schritt gestaltet. Da gibt es nicht nur den einen richtigen Weg, da gibt es viele verschiedene Wege, die kreativ beschritten werden können. Da gibt es auch nicht nur die eine Richtung, sondern da gibt es viele Richtungen, die eingeschlagen werden können. Daher gibt es aus dem Hier und Jetzt betrachtet nicht nur die eine Zukunft, sondern viele Zukunftsformen. Die Zukunft ist offen, sie mag Tendenzen haben, aber ihre konkrete Form ist ungewiss. Die Zukunft ist eine Möglichkeitsform.

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Abbildung 16
Inhalt und Grafik-Design: © bei Christoph Paul Stock

Die Welt funktioniert nicht unabhängig von uns, sondern wir sind in ihr und jede unserer Bewegungen, jede unserer Beobachtung, jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Haltung, jedes Handeln und jede Unterlassung wirken sich auf die Struktur aus. Die Struktur wirkt nicht nur auf uns ein, sondern wir wirken auch auf die Struktur zurück. Wir sind Schöpfer und Geschöpf zugleich. Daher kann die Welt nicht allein durch die Bewegung des Großen und Ganzen vermittelt durch die Bewegung der Gestirne erfasst und verstanden werden. Wenn wir aufhören, von der Möglichkeitsform einfach auf eine Realitätsform zu schließen, was einfach nur ein Spiel der Fantasien ist, ein Jonglieren mit Luftschlössern, sondern stattdessen in der unmittelbaren uns umgebenden realen Existenz versuchen, das Archetypische und die tieferliegenden Muster zu erkennen, können wir eine Verbindung zur Bewegung des Großen und Ganzen herstellen. Dann können wir erkennen, wie sich das große Muster in der unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren und kognitiv verarbeitbaren Welt durch unser Zutun konkret entfaltet. Das ist kein Prophezeien der Zukunft, das nur sehr schwer möglich ist, weil man nicht weiß, wie sich der freie Wille entfalten wird, sondern ein Gewahr-Werden des Großen und Ganzen im Hier und Jetzt. Umgekehrt, wenn wir aus dem Hier und Jetzt unseren Blick in die Möglichkeitsform richten, uns dieser großen Leere stellen, kann im Prozess der Imagination etwas aus dieser geistigen Struktur, aus der Bewegung des Großen und Ganzen als Geistesblitz in unsere Realität treten. Wenn wir diesem Geistesblitz folgen und für dieses archetypische Muster einen durch unseren freien Willen bestimmten Ausdruck in der Welt finden, kann sich eine Realität entfalten, die mit der Bewegung des Großen und Ganzen im Einklang ist. Schicksal ist dann nicht etwas, was vorherbestimmt ist, sondern etwas, das sich aus einer gegebenen Möglichkeitsform durch das, wie wir uns im Leben entscheiden und welchen Weg wir einschlagen, in eine Realitätsform wandelt.


Persönlich bin ich der Meinung, dass es in den Gestirnen und dem gesamten Kosmos einen Logos gibt. Wir müssen aber erst lernen, wie die Übersetzung von der makroskopischen Welt in die mikroskopische Welt und umgekehrt funktioniert. Die makroskopische Welt mit den Mitteln des Verstandes in die mikroskopische Welt einfach denkend zu übersetzen, funktioniert nicht. Das ist das, was die Astrologie versucht und meines Erachtens zum Scheitern verurteilt ist. Das ist auch der Punkt, an dem es noch nicht gelingt, die Relativitätstheorie mit der Quantenphysik in einer einheitlichen Theorie zu verbinden.

 

Die Umsetzung aus der Möglichkeitsform in die Realitätsform und die Rückwirkung der Realitätsform auf die Möglichkeitsform ist das tatsächliche schöpferische Geschehen. Es ist ein Wechselspiel, das wir laufend verfolgen müssen, wenn wir wirklich kreativ sein und nicht das Gestern einfach wiederholen wollen. Wir müssen ständig erkunden, ob das aktivierte archetypische Muster sich in einer bestimmten realen Form umsetzen lässt und umgekehrt die gewählte Realitätsform auch noch tatsächlich dem wirkenden archetypischen Muster entspricht. Im Wechselspiel dieser Kräfte entwickelt sich langsam eine innere Autorität, die mehr und mehr an Stärke gewinnt, je besser die Abstimmung zwischen dem innenliegenden Muster und der realen Erscheinung gelingt. Am Anfang wird diese Autorität noch leicht angreifbar sein, weil die Realitätsform noch schwach ausgebildet ist. Mit der Zeit nimmt aber der reale Gehalt der Neuschöpfung mehr und mehr zu und entfaltet daher seine Wirkkraft im real be- und ergreifbaren Sein. Je realer die Sache wird, umso weniger kann man sich ihrer entziehen. Die Wirkkraft drückt sich im Gegenständlichen der Welt aus und kann nicht mehr so leicht ignoriert werden. Sie erlangt Autorität und damit gestaltende Kraft.

 

Aus meiner Sicht hat keine Religion diesen Aspekt der Inkarnation so stark und nachhaltig zum Ausdruck gebracht wie das Christentum. Diese Religion geht davon aus, dass sich der Heilige Geist in der Person von Jesus von Nazareth verkörpert hat. Man spricht im Christentum daher auch von Jesus Christus und verweist auf seine unmittelbare Göttlichkeit. Das Göttliche ist also nicht nur fernab in einer uns unbegreiflichen Wirkkraft und auch nicht nur auf einer geistigen Ebene zu finden, sondern verwirklicht sich in einer Inkarnation in Fleisch und Blut. Das verbindet den Himmel mit der Erde in einer Weise, wie das im religiösen Kontext so unmittelbar greifbar nur selten erfolgt.

 

Spiritualität ist dann nicht nur eine unserer Welt enthobene Dimension, die Schöpfungskraft besitzt und die Welt und den Kosmos erschaffen hat. Spiritualität ist dann eine Dimension, die mit der Realität dieser Welt genauso viel zu tun hat wie mit der Wirkkraft einer sinnlich nicht fassbaren jenseitigen Welt, die in einer ständigen Begegnung und einem ständigen Austausch miteinander stehen. Das Jenseits ist dann ohne das Diesseits und das Diesseits ist dann ohne das Jenseits nicht denkbar. Sie sind beide Teile einer größeren Wirkrealität. Sein ist Nicht-Sein und Nicht-Sein ist Sein.

 

Mit Blick auf östliche Religionen, die das Bewusstsein ins Zentrum ihrer Betrachtungen stellen, müsste man sagen, dass das Leben nicht einfach ein pures Bewusstsein ist, sondern dass das Bewusstsein auf die Realisierung in der konkreten Welt angewiesen ist, um sich erfahren zu können. Der Zen-Meister Victor Hori kritisiert die Vorstellung eines puren Bewusstseins und führt dazu aus:

 

„Ein pures Bewusstsein ohne Konzepte, wenn es so etwas geben könnte, wäre ein dröhnendes, summendes Durcheinander, ein Sinnesfeld aus Lichtblitzen, nicht identifizierbaren Geräuschen, mehrdeutigen Formen, Farbflecken ohne Bedeutung. Dies ist nicht das Bewusstsein des erleuchteten Zen-Meisters.“[ii]


[i] GIBRAN, K.: Der Prophet, Walter Verlag, Zürich und Düsseldorf, 34. Auflage, 1998, S. 16
 
[ii] HORI, V.S.: Koan and Kensho in the Rinzai Zen Curriculum, in HEINE, S. / WRIGHT D. (Hrsg.): The Koan: Texts an contexts in Zen Buddhism, Oxford University Press, Oxford, 2000, S. 284. Internetzugriff am 12.02.2024 unter:
https://terebess.hu/zen/mesterek/Koan-Hori.pdf
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