
K O N T A K T
Von der objektiven zur non-dualen Erkenntnis

Gesamte Inhalte:
© Dr. Christoph Paul Stock
KAPITEL 11: VOM RHYTHMUS DER DINGE
Das Universum ist ein seltsamer Ort mit unterschiedlichen Bewegungen, Impulsen und Drehmomenten. Die Physiker sagen uns heute, dass das Universum ca. 13,8 Milliarden Jahre alt sein dürfte. Das bedeutet, dass sich die Erde seit der Entstehung des Universums 13,8 Milliarden Mal um die Sonne bewegt hat. Das sind (13,8 x 365 ») 5 Billionen Tage. Dumm an der Sache ist nur, dass es weder die Sonne noch die Erde seit so langer Zeit gibt und damit die Angabe in Tagen eigentlich keinen Sinn macht.
Untersuchungen an fossilen Muschelschalen hat ans Tageslicht gebracht, dass sich die Erde vor langer Zeit viel schneller um die eigene Achse gedreht hat als dies heute der Fall ist. Muscheln wachsen unterschiedlich schnell, je nachdem ob es Tag oder Nacht ist. Dadurch bilden sich in ihren Strukturen unterscheidbare tägliche Wachstumsringe. Dies ist ähnlich wie bei den Bäumen, in deren Holz man Jahresringe sehen kann, die dadurch entstehen, dass die Bäume im Sommer weit stärker wachsen als im Winter. Man kann an den Wachstumsringen der Muscheln erkennen, wie viele Tage ein Jahr hat. Ein Tag dauerte also vor langer Zeit viel weniger lang als dies heute der Fall ist. Bei einer Umrundung der Sonne gab es also mehr Tage als die 365, die wir heute zählen. Die Verlangsamung der Erde wird durch die Gravitationskräfte verursacht, die zwischen Erde und Mond wirken. Die Erde wird durch die Bewegung des Mondes um sie herum langsam in ihrer Eigenrotation abgebremst.
Weit in der Zukunft wird die Erde sich nicht mehr in 24 Stunden um die eigene Achse drehen, sondern dazu 48 Stunden benötigen. Ihre Rotationsgeschwindigkeit wird sich also halbiert und die Dauer der vollen Rotation nach unserer Zeitmessung verdoppelt haben. Von diesem Zeitpunkt in der Zukunft aus betrachtet, wird ein Jahr nur mehr 182,5 Tage habe. Aus dieser fernen Zukunft gesehen, wäre unser Sonnensystem heute nicht 5 Billionen, sondern nur (13,8 x 182,5 ») 2,5 Billionen Tage alt und damit in Tagen nur halb so alt als nach heutiger Berechnung. Das alles gilt aber auch nur dann, wenn sich die Erde über so lange Zeiträume hinweg auch tatsächlich immer mit der gleichen Geschwindigkeit um die Sonne bewegt. Auch das ist ausgesprochen unwahrscheinlich. Auch dieser Parameter wird sich verändern. Dann wird alles noch komplexer und undurchschaubarer. Die Nutzung der Zeitmessung, die Uhrzeiten in Bruchteilen einer Erdrotation misst, macht nur einen Sinn, wenn man die Bewegungen als gleichbleibend und gleichförmig also linear annimmt. Unter praktischen und pragmatischen Gesichtspunkten ist die Nutzung von Uhren und Zeiteinheiten für den Verlauf der Zeit sinnvoll. In Maßstäben des Kosmos machen solche Zeitangaben aber augenscheinlich relativ wenig Sinn. Dort zählt nicht die lineare Uhrzeit, sondern der Rhythmus der Rotationen und kreisenden Bewegungen.
Diese kleinen Gedankenspiele machen sichtbar, dass Zeit offensichtlich nicht absolut ist. Noch viel tiefgründiger und gleichzeitig noch weit schwerer zu verstehen ist die Darstellung der Relativität der Zeit, wie sie Albert Einstein in seiner Relativitätstheorie beschrieben hat. Auch hier ist Zeit abhängig von der Geschwindigkeit, mit der sich Objekte zueinander bewegen. Die Geschwindigkeiten unserer Alltagswelt wirken sich hier kaum aus. Doch wenn es um Geschwindigkeiten geht, die nahe der Lichtgeschwindigkeit liegen, sieht die Sache völlig anders aus. Plötzlich altern Menschen in einem Raumschiff, dass sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit an der Erde vorbeibewegt in einer ganz anderen Geschwindigkeit, wie Menschen, die sich auf der Erde befinden. Unser Weltbild wird völlig auf den Kopf gestellt.
Was für Planeten gilt, scheint auch für Menschen zu gelten. Menschen haben den Eindruck, dass ein Tag in ihrem Leben als Kinder subjektiv empfunden weit länger gedauert hat und mit viel mehr Inhalten gefüllt gewesen ist als ein Tag in höherem Alter. In einem gewissen Sinn ist die Rotationsgeschwindigkeit am Anfang unseres Lebens langsamer und nimmt mit unserem Lebensalter zu. Das hat natürlich nichts mit der linear gemessenen Zeit zu tun. Es hat etwas mit unserer subjektiven Wahrnehmung zu tun. So wie Zeiten in unserer Kindheit langsamer zu vergehen scheinen, sind auch Zeiten der Langeweile Zeiten, in denen die Zeit langsamer verstreicht. Wenn unser Leben hingegen voller großartiger Erfahrungen und Erlebnisse ist und wir es so richtig genießen und in es eintauchen, scheint das Leben wie im Flug dahinzurasen. Wie viel oder wie wenig Erfahrung in unserem Leben ist, bestimmt, wie wir Zeit wahrnehmen. Ein voll gelebtes Leben mit einer kürzeren Dauer kann als weit erfüllter subjektiv empfunden und erfahren werden, wie ein unerfülltes langes Leben. Zeit ist also auch das, was wir aus ihr machen.
Tatsächlich werden wir also nicht von der linearen Zeit, sondern vom Rhythmus der Dinge gesteuert. Zwei fundamentale Rhythmen wurden schon angesprochen. Es sind dies der Rhythmus von Tag und Nacht und der Jahresrhythmus. Wir haben keine Wahl und müssen uns an die sich ändernden Situation, die Nacht und Tag hervorbringen genauso anpassen wie an die unterschiedlichen Jahreszeiten. Die Dunkelheit erzeugt eine andere Lebenssituation wie die Helligkeit. Die Kälte im Winter verlangt andere Anpassungsmaßnahmen wie die Hitze im Sommer. Wir können uns diesen Rhythmen nicht entziehen, wir müssen ihnen folgen. Ein weiterer Rhythmus, der eine zentrale Rolle spielt, ist die Rotation des Mondes um die Erde. Eine Nacht bei Neumond ist weit dunkler als eine Nacht bei Vollmond. Die Situation an den Küsten ist bei niedrigen Gezeiten eine völlig andere als bei hohen. Ebbe und Flut haben große Auswirkungen und können durch den Stand des Mondes im Verhältnis zur Sonne noch einmal verstärkt werden. Der Mond steuert zusätzlich viele Rhythmen in der Natur und hat einen Einfluss auf rhythmische Abläufe in biologischen Prozessen. Der Mond hat auch die Einteilung des Jahres in 12 Monate verursacht. Es gibt ca. 12 Neumonde und 12 Vollmonde im Jahr. Die Monate haben also mit dem Mondrhythmus zu tun. Auch andere Körper im Sonnensystem und ihre Bewegungen im Verhältnis zur Erde wirken sich auf uns aus. Jupiter hält den Raum rund um die Erde frei von Objekten, die durchs All rasen. Dies wird durch seine große Masse und die dadurch bedingte hohe Gravitationskraft verursacht, die ähnlich wie ein Staubsauger Objekte ablenkt und beeinflusst. Viele Körper dringen gar nicht in das innere Sonnensystem vor, weil sie von Jupiter davon abgehalten werden. Es wird vermutet, dass die kombinierte Gravitationskraft von Planeten durch besondere Konstellationen eine Art Gezeitenphänomen bewirken, das die Sonnenaktivität teilweise steuert. Viele Wechselwirkungen im Sonnensystem sind noch nicht erforscht oder richtig verstanden. Jedenfalls ist das Sonnensystem ein funktionierendes Ganzes, in dem jeder Körper seine ganz eigene Rolle spielt und Bedeutung hat.[i]
Was durch diese Überlegungen sichtbar wird, ist das Spannungsverhältnis zwischen einem Zeitverständnis, das sich nach einer geradlinigen Zeitmessung richtet, und einem Verständnis, das sich an einem rhythmischen Zeitempfinden orientiert. Ersteres ist linear, zweiteres ist wellenartig. Ersteres funktioniert wie eine Maschine in einem gleichmäßigen Takt ohne große Fluktuationen und Schwankungen, zweiteres wie ein lebendiger Organismus, der wie die Wellen am Wasser ganz unterschiedliche Schwingungen und Interferenzen kennt. Mal ist die Atmung kurz, dann ist sie lang, mal ist sie flach, dann ist sie tief, mal ist sie schnappartig, dann ist sie ausufernd weit. Nicht anders ist es mit dem Herzen. Mal schlägt es langsam, dann schlägt es schnell, mal ist es ruhig, mal pocht es wie wild, mal ist es voller Kraft, mal ausgelaugt, schwach und erschöpft.
Wir haben unser Leben in vielen Bereichen an die von uns geschaffenen Maschinen und technischen Errungenschaften angepasst. Wir sind von ihnen betört und offensichtlich von ihrer Taktung derart fasziniert, dass wir bereit sind, den in uns von der Natur angelegten Rhythmus gegenüber dieser Taktung zurückzustellen und außer Acht zu lassen. Wir glauben tatsächlich, dass uns die Technik dabei hilft, Zeit einsparen zu können und damit mehr Zeit zur Verfügung zu haben. Doch tatsächlich verlieren wir unendlich viel Zeit an diese fragwürdige Form der Effizienz und geben etwas auf, das weit größer ist als wir selbst, nämlich den Rhythmus der Dinge, der sich aus den Bewegungen des Universums ergibt. Dieser Rhythmus geht über uns als Individuen weit hinaus. Er kann im Gegensatz zur Maschine, die wir beherrschen können, nicht kontrolliert werden. Man kann sein Wesen nur wertschätzen, so wie man die Sonne begrüßen kann, wenn sie aufgeht, und verabschieden kann, wenn sie untergeht. Doch auf ihren Lauf haben wir keinen Einfluss. Es ist die Ehrfurcht, die sich erhebt, wenn ein Kind im Rhythmus der Zeit nach neun Monaten geboren wird, es ist die Dankbarkeit, die man verspürt, wenn nach Aussaat, Hege und Pflege das Korn auf dem Feld, der Baum im Wald und die Trauben am Rebenstock geerntet werden können, es ist die Erleichterung, wenn nach einer langen Periode der Entbehrung, des Leidens und des Schmerzes, sich Entlastung und Erlösung in unserem Leben einstellen. Es ist die Dankbarkeit, die in uns aufkeimt, wenn nach einer langen Zeit der Entbehrung, des Mühens, Arbeitens und der Anstrengung, sich ein ersehnter Ausbildungs- und Studienerfolg, eine berufliche Weiterentwicklung oder ein lang ersehnter privater Wunsch erfüllen. Sie alle brauchen Zeit, sie alle unterliegen dem Gesetz des Rhythmus und so mancher Rhythmus hat eine Wellenlänge, mit der man nicht gerechnet hat.
Wenn wir den Rhythmus aufgeben, leben wir in einer hektischen Welt, die uns immer weiter antreibt und die uns zur Verfügung stehende Zeit immer mehr verkürzt. Es besteht die Gefahr, dass wir mehr und mehr den Sinn in unserem Leben verlieren und der Stress zum bestimmenden Faktor wird. Darüber hinaus verliert unser Leben an Tiefe. Der Rhythmus fordert uns auf, die Dinge im Leben von allen möglichen Richtungen und Seiten her zu betrachten, zu begreifen, zu erfassen und uns bewusst zu machen. Wenn wir das Leben wirklich erfahren wollen, müssen wir die Bereitschaft aufbringen, ihm mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu begegnen. Die moderne digitale Welt mit ihren vielen technischen Gadgets verhindert dies eher, als dass sie es fördert. Sie lenkt uns eher ab und stärkt die Zerstreuung und Entfremdung von uns selbst. Zu viel Fernsehen und Streamen fördern gerade im Kindesalter Sprachentwicklungs- und Aufmerksamkeitsstörungen. Zu viele Spielkonsolen und Computerspiele fördern eine falsche Ernährung, führen zu einer geringeren Bildung und kreieren Schul- und Ausbildungsprobleme für junge Menschen aber auch für Erwachsene. Zu viel Onlinenutzung und Multitasking schwächen die Selbstkontrolle und fördern Stress, Schlafmangel, Depression und Sucht. Ein vorrangig linearer Zugang zur Welt rein über die Mattscheibe und die Tastatur unserer digitalen Geräte tut uns nicht gut und fördert eine Art geistiger Demenz. Geistige Demenz ist wahrhaft ein Ausdruck eines oberflächlichen Lebens.[ii]
Wir müssen uns Zeit nehmen, um die Welt mit den Händen begreifen zu können. Wir brauchen Zeit, um die Welt mit einer hohen Sprachfähigkeit beschreiben zu können. Wir brauchen solide und funktionierende Bindungen in Familie und im Freundschaftskreis, um funktionierende Gemeinschaft erfahren zu könne. Es ist eine erfüllende Arbeit und ein Lachen, Tanzen und Singen in unserem Leben, das uns gesund hält. All das braucht Zeit, all das kann sich nur in einem gesunden Rhythmus der Dinge entwickeln. All das braucht auch die Bereitschaft, neben schönen, erfreulichen und uns glücklich machenden Erfahrungen mit der harten und belastenden Seite des Lebens konfrontiert zu werden, die Unannehmlichkeit, Schmerz und Leiden kennt.
In dem wir die Verbindung zu den höheren Mächten, die sich im Rhythmus der Dinge zum Ausdruck bringen, verlieren, geht uns auch die Verbindung zu jener schöpferischen Kraft verloren, die alles hervorbringt. Wir wollen selbst schöpferisch und kreativ sein, doch wenn wir alles nur aus uns selbst herauswollen, ohne eine Verbindung zur Schöpferkraft des Universums herzustellen, wird unsere eigene schöpferische Kraft wahrscheinlich klein bleiben oder eine zerstörerische und lebensfeindliche Form annehmen.
Es geht nicht darum, die Technik und unsere moderne Welt in Misskredit zu bringen. Diese moderne Welt ist selbst ein Ausdruck enormer Schöpferkraft. Die technische Revolution ist ein Feuerwerk an Innovation und die Entwicklung der Computertechnik und der künstlichen Intelligenz sind famose Errungenschaften eines großen Erfindergeistes. Doch wenn wir all diese enormen Errungenschaften nicht in Einklang bringen können mit den Rhythmen des Lebens und wir einer Taktung folgen, die unvereinbar ist mit dem Rhythmus des Seins, wird uns das eventuell entstehende inhomogene Interferenzmuster schaden, uns aus der Bahn werfen, überspülen und zu Fall bringen. Die Rhythmen des Seins sind so gewaltig, dass wir uns dagegen nicht dauerhaft auflehnen können. Wir können den Ozean des Seins nicht bezwingen, wir können nur ein Teil von ihm sein. Wie Laotse schon sagte, „des Himmels Netz fasst weite Weiten, klafft offen – und lässt nichts entfliehen“[iii]. Wenn wir unsere eigenen Schöpfungen mit dem Großen und Ganzen in Einklang bringen, kann aus dem Fluch ein Segen werden. Das gilt für uns in unserem persönlichen Leben genauso wie für uns als Gesellschaft und Zivilisation, die sich in einer technisierten und digitalisierten Moderne zum Ausdruck bringt.